Habe ich Borderline?

Elinor Greenberg beschreibt die narzisstische und die Borderline-Persönlichkeitsanpassung als Reaktion auf unerfüllte kindliche Grundbedürfnisse.

Spätestens seit Trump wird der Begriff des Narzissmus in der Alltagssprache fast inflationär benutzt. In ähnlicher Weise wurde auch die Borderlinestörung in die Umgangssprache integriert und wird vielfach schon von Patientinnen und Patienten im Erstgespräch als Verdachtsdiagnose angeboten. Und wie immer bei solchen populär gewordenen Konzepten (wie Stress oder Burnout auch) wird die präzise Beschreibung und damit auch die Möglichkeit der Abgrenzung zu anderen Störungen oder auch zu nichtgestörtem Verhalten dadurch enorm erschwert.

Die renommierte New Yorker Gestalttherapeutin Elinor Greenberg legt ein Praxisbuch vor, das versucht, genau diese Differenzierung vorzunehmen. Sie fokussiert auf die Bereiche Narzissmus, Borderline und schizoide Persönlichkeit und skizziert ihren Zugang zu ihren Patientinnen bereits mit der wohltuenden Einleitung: „Niemand ist Borderliner, niemand ist Narzisst.“

Erfreulicherweise wird der Begriff der „Störung“ weitestgehend vermieden – Persönlichkeitsstile entwickeln sich aus „gesunden“ Anpassungsleistungen im Kontext der eigenen Biografie, sie ergeben Sinn in bestimmten Familiensystemen und schützen vor nicht bewältigbar erscheinenden Emotionen (Verlust, Trauer, Wut). Eingeengte Stile entwickeln sich aus dauerhaft problematischen Kontextbedingungen. Sie verfestigen sich im Laufe der Entwicklung und wirken im Erwachsenenalter dann oft dysfunktional.

Reflektion der therapeutischen Interaktion

Greenberg beschreibt einfühlsam die unterschiedlichen Interaktionsstile, die sich aus unerfüllten kindlichen Grundbedürfnissen entwickelt haben, und legt ein besonderes Augenmerk darauf, mit welchen Erwartungen diese Menschen therapeutische Kontakte gestalten. Sie wollen bewundert, geliebt oder nicht vereinnahmt werden und tun in der Therapiesituation alles, um diesen offenen Lebenszielen näherzukommen.

Es ist auch ein Buch von Übertragung und Gegenübertragung, von der Notwendigkeit, therapeutisches Handeln ständig vor dem Hintergrund der eigenen entstehenden Impulse (was löst der Patient in mir aus?) zu reflektieren und anzupassen. Diese dauernde Meta­perspektive einer realen parallel stattfindenden Interaktion macht Psychotherapie mit diesen Persönlichkeitsanpassungen auch so anstrengend.

Was nach der Analyse der Interaktion an therapeutischen Haltungen und Handlungen vorgeschlagen wird, ist beeindruckend und fußt auf jahrzehntelanger liebevoll-menschlicher Grundhaltung und Therapieerfahrung.

Auch wenn sie nicht erklärt, warum gerade diese Stile von ihr ausgewählt wurden, und im Buch an manchen Stellen doch die Gefahr ihrer schablonenhaften Beschreibung unter Störungsgesichtspunkten sichtbar wird, gibt Greenberg eine Fülle wertvoller Anregungen. Ein Angebot in erster Linie für Therapeutinnen und Therapeuten – nicht nur mit gestalttherapeutischem Hintergrund, sondern aller Orientierungen.

Elinor Greenberg: Borderline und Narzissmus. Wie Menschen nach Liebe und Bewunderung streben. Aus dem Amerikanischen von Silvia Autenrieth. Kösel, München 2021, 479 S., € 30,–

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 10/2021: Zeit finden
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