Im Fokus: Die Krise in unseren Träumen

Pandemie, Krieg und die Wirtschaftskrise: Wie sich das auf Träume auswirkt und wie wir sie lenken können, erklärt Schlafforscher Michael Schredl.

Ein Mann mit Einkaufswagen hebt seinen roten, voll gepackten, Einkaufskorb aus Plastik aus dem Wagen
© Sean Gallup/staff/Getty Images

Herr Professor Schredl, wissen Sie eigentlich, wovon Sie träumen?

Ja, natürlich. Ich führe schon seit über 35 Jahren ein Traumtagebuch und habe mehr als 16500 Träume aufgeschrieben. Meine Träume handeln von allem Möglichen, genau wie die von anderen Menschen auch. Ich träume von den Dingen, die mich beschäftigen. Heute morgen habe ich im Traum ein geisteswissenschaftliches Zusatzstudium gemacht, das Zeitmanagement aber nicht so richtig hinbekommen.

Haben Sie auch schon einmal von Geldsorgen geträumt?

Nein, das…

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aber nicht so richtig hinbekommen.

Haben Sie auch schon einmal von Geldsorgen geträumt?

Nein, das nicht. Geld spielt zwar in meinen Träumen eine Rolle – in fast neun Prozent von ihnen kommt dies Thema zumindest am Rande vor. Manchmal geht es ums Einkaufen im Supermarkt, manchmal um die Miete oder um mein Gehalt. Hin und wieder auch darum, dass Dinge sehr teuer sind: In einem Traum habe ich zum Beispiel eine Flasche Grappa gekauft, die 23,20 Mark gekostet hat. Aber bislang ging es nie um die Angst, etwas nicht bezahlen zu können.

Meinen Sie, dass das so bleibt? Momentan schießen die Energiepreise ja durch die Decke, und die Inflation hat für viele Menschen bedrohliche Ausmaße angenommen.

Das lässt sich schlecht sagen. Einerseits sind Träume eine kreative Darstellung dessen, was uns tagsüber beschäftigt. Andererseits scheinen finanzielle Sorgen verschiedenen Erhebungen zufolge aber keine allzu große Rolle in Träumen zu spielen.

Das kann allerdings auch daran liegen, dass in wissenschaftlichen Untersuchungen oft gutsituierte Studierende befragt werden. Das gilt vor allem für Studien, in denen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer über einen Zeitraum von mehreren Wochen Traumtagebücher führen. Etwas anders sieht es bei Most recent dream-Studien aus, in denen die Befragten den letzten Traum aufschreiben sollen, an den sie sich erinnern können. Da gibt es breiter angelegte Stichproben.

Allerdings sind diese Traumberichte meist sehr kurz und nicht so aussagekräftig, weil sie länger zurückliegen können. Und auch dort ist es so, dass es meines Wissens keine Analysen zu den Träumen finanziell schlecht gestellter Menschen gibt, etwa von Hartz-IV-Empfängerinnen und -Empfängern. Bei ihnen könnte dieses Thema natürlich mehr im Vordergrund stehen und damit auch auf die Träume durchschlagen. Momentan fehlt es uns an dieser Stelle noch an verlässlichen Daten. Das hat sich selbst durch die Finanzkrise 2009 nicht wesentlich geändert.

Wie sehr beschäftigt uns der Ukraine­krieg im Schlaf?

Wir haben zu dieser Frage kürzlich eine Studie gemacht. Demnach ist der Krieg in den Träumen durchaus präsent, aber nicht so oft, wie wir ursprünglich angenommen hatten. Allerdings haben wir in dieser Studie auch nur einen Traum pro Versuchsperson untersucht. Ein Teilnehmer hatte beispielsweise geträumt, an seinem Arbeitsplatz von Wladimir Putin mit einer Pistole bedroht worden zu sein. Er habe sie ihm in einem Kampf abgenommen und ihn dann erschossen.

Sie waren auch an einer Studie beteiligt, in der Männer und Frauen in den USA zu ihren Träumen während der Pandemie befragt wurden.

Ja, darin haben wir uns auf den Mai 2020 beschränkt, eine Zeit, zu der in den USA gerade erstmals ein landesweiter Lockdown herrschte. Wir wollten wissen, wie sich diese Situation auf Inhalt und Qualität der Träume auswirkte. Tatsächlich sagten viele der Befragten, ihre Träume hätten sich seit Beginn der Pandemie verschlechtert. Allerdings gaben nur acht Prozent an, einen Traum gehabt zu haben, der direkt etwas mit Covid-19 zu tun hatte.

Wie sahen diese Träume aus?

Typisch war etwa die Angst vor Ansteckung: Ich bin in einer Menschenmenge und keiner trägt eine Maske. Oder die Sorge um Angehörige: Eine nahestehende Person ist schwer erkrankt und ich bin traurig darüber. Aber es gab auch metaphorische Träume. Eine Teilnehmerin hat in unserer Studie berichtet, sie sei in einer Box eingesperrt gewesen, die immer kleiner geworden sei.

Finanzielle Sorgen spielten in etwa zwei Prozent dieser Covidträume eine Rolle. Mehr als 60 Prozent handelten dagegen von sozialen Belastungen. Studien anderer Arbeitsgruppen zeigten ein ähnliches Bild.

Insgesamt gaben bei Befragungen während der Pandemie 10 bis 15 Prozent der Teilnehmenden an, öfter Albträume zu haben als davor. Diejenigen, die sich durch die Situation stark gestresst fühlten, waren besonders häufig davon betroffen.

Können uns solche schlechten Träume schaden?

Ja, unter Umständen schon. Es gibt ein klinisch anerkanntes Krankheitsbild, die Albtraumstörung. Dabei treten Albträume so oft auf, dass sie die Lebensqualität deutlich beeinträchtigen – als grober Richtwert gilt eine Albtraumhäufigkeit von mehr als einmal pro Woche. Die Betroffenen haben oft Angst vor dem Einschlafen und schlafen auch insgesamt schlechter, selbst in Nächten ohne Albträume.

Zudem belasten die Trauminhalte sie auch tagsüber. Sie machen sich zum Beispiel darüber Sorgen, warum sie so schreckliche Dinge träumen. Nach Schätzungen sind vier bis fünf Prozent aller Menschen davon betroffen. Bei Patienten und Patientinnen mit einer Depression oder einer Angst­erkrankung können es bis zu 30 Prozent sein.

Manche Menschen werden im Schlaf sogar zum Mörder – der Putintraum ist dafür ein Beispiel. Wie lassen sich solche Träume deuten?

Derartige Täteralbträume sind extrem selten. Zudem ist wichtig zu wissen, dass Träume generell zu maßloser Übertreibung neigen. Jeder Mensch kennt wahrscheinlich das Gefühl: Über den habe ich mich so geärgert, dem könnte ich jetzt so richtig eine mitgeben. Im Traum wird das dann sehr drastisch dargestellt.

Bei der Interpretation sollte man vorsichtig sein. Wenn sich im Schlaf die Gewalt gegen den Partner oder die Partnerin richtet, muss das nicht unbedingt heißen, dass etwas mit der Beziehung nicht stimmt. Es kann sein, dass sich die Wutgefühle in Wirklichkeit gegen eine ganz andere Person richten. Träume wählen nicht immer die Protagonisten, die eigentlich gemeint sind, sondern stellen Situationen in einer Weise dar, dass sie besonders intensive Gefühle hervorrufen.

Was kann man gegen Albträume tun?

Eine sehr wirksame Methode ist die sogenannte imagery rehearsal therapy, kurz IRT. Mal angenommen, Sie träumen immer wieder, dass Sie vor einem Monster davonlaufen. Sie versuchen, sich zu verstecken, sind aber in panischer Angst, entdeckt zu werden, und wachen schließlich schweißgebadet auf. Sie können diesen Traum unzählige Male haben, und Ihr Traum-Ich wird sich stets auf diese Weise verhalten, weil es nicht merkt, dass Weglaufen und Verstecken keine guten Strategien sind.

Im Wachzustand wird dem Traum eine andere Richtung gegeben. Sie gehen ihn gedanklich durch und überlegen sich: Was könnte ich an diesem Punkt stattdessen tun? Kann ich zum Beispiel ein paar starke Helfer dabei haben? Und mich dann gemeinsam mit ihnen umdrehen und schauen, was das Monster hinter mir eigentlich von mir will? Wenn man diese neue Strategie zwei Wochen lang einmal pro Tag fünf bis zehn Minuten übt, dann werden die Albträume bei 80 Prozent der Betroffenen rapide seltener. In einer eigenen Studie haben wir schon nach einer einzigen halbstündigen Therapiesitzung am Telefon acht Wochen später eine deutliche Besserung festgestellt.

Das Traum-Ich erlernt also eine wirk­samere Strategie gegen seine Ängste. Profitiert davon auch das wirkliche Ich?

Das ist zumindest die Idee dabei: Wir können von dem Ansatz lernen, dass Ängste nicht verschwinden, wenn wir weglaufen. Das Weglaufen im Traum ist eine dramatisierte Version eines Vermeidungsverhaltens. Und bei Ängsten ist Vermeidung oft ungünstig. Stattdessen sollten wir uns überlegen, was wir tun können, um unsere Ängste zu bewältigen.

Dass imagery rehearsal gegen Albträume wirkt, ist sehr gut belegt. Ob diese Strategie darüber hinaus auch im Wachzustand zu Verhaltensänderungen führt, etwa indem wir uns rechtzeitig darauf vorbereiten, was wir im Falle weiter steigender Preise tun werden oder auch bei Situationen, denen wir gerne aus dem Weg gehen, ist noch nicht genügend untersucht. Ich vermute aber, dass es diese Effekte gibt.

Bei kognitiven Verhaltenstherapien, zu der die IRT gehört, geht es ganz zentral um die Stärkung der empfundenen Selbstwirksamkeit: das Gefühl zu haben, selbst etwas tun zu können, um die Situation zu verbessern. Und diese Selbstwirksamkeit wird bei der Methode ja tatsächlich erfahren. Selbst Menschen, die seit Jahrzehnten unter Albträumen leiden, haben dagegen plötzlich ein Werkzeug in der Hand.

Welche Menschen bekommen besonders häufig Albträume?

Grundsätzlich werden die Albträume durch das Zusammenspiel von Veranlagung und Stress begünstigt. Personen mit einem hohen Grad an Neurotizismus gelten als besonders gefährdet – also solche, die mehr mit Ängsten und depressiven Verstimmungen zu tun haben. Ein weiterer Faktor ist Dünnhäutigkeit, ein Konstrukt, das mit der Hochsensibilität zusammenhängt. Das sind Menschen, die Umgebungsreize sehr intensiv wahrnehmen und sich dadurch stark beeinflussen lassen. Aber auch Menschen mit einer solchen Veranlagung sprechen auf die Albtraumtherapie gut an.

Ihr finnischer Kollege Antti Revonsuo glaubt, dass Träume überlebenswichtig sind, weil sie uns auf Gefahrensituationen vorbereiten. Halten Sie das für plausibel?

Die Idee dabei ist folgende: Wenn Sie von einer Bedrohung träumen – zum Beispiel dass Sie von Wladimir Putin mit einer Pistole bedroht werden –, dann üben Sie gedanklich ein, was Sie in dieser Lage tun sollten. Sie trainieren den Umgang mit Ihrer Angst, reagieren dadurch beispielsweise schneller, wenn Sie tatsächlich in eine Situation kommen, in der jemand eine Waffe gegen Sie zieht, haben bessere Überlebenschancen und können somit eher Ihre Gene weitergeben.

Mir scheint diese Argumentation je­doch etwas weit hergeholt. In überlebenswichtigen Situationen reagieren wir mehr oder weniger automatisch, das müssen wir gar nicht üben. Das scheint Antti Revonsuo heute ähnlich zu sehen. Er hat seine These inzwischen weiterentwickelt zur social simulation theory.

Demnach üben wir im Traum soziale Interaktionen ein. Denn in Studien – auch in unseren eigenen – zeigt sich immer wieder, dass Träume sehr häufig von Interaktionen mit anderen Menschen handeln. Wenn man das in seinen Träumen übt und es deshalb tagsüber besser kann, findet man eher eine Partnerin oder einen Partner. Man steigert so also seine Chance, sich fortzupflanzen.

Und glauben Sie, dass das stimmt?

Die Theorie lässt sich aus meiner Sicht nicht belegen, denn Träume sollen demzufolge diese Übungsfunktion auch haben, wenn man sich nicht an sie erinnert. Das Problem ist aber: Wie wollen Sie wissen, was eine Person geträumt hat, wenn sie sich daran nicht erinnert? Wie wollen Sie dann beweisen, dass ihre Träume dafür verantwortlich sind, dass sie sich in sozialen Situationen leichter tut?

Ein anderes Beispiel: Mal angenommen, Sie haben zwei Gruppen von Personen, die jede Nacht von Tigern träumen. Die eine Gruppe erinnert sich allerdings nicht daran – ihre Mitglieder glauben fälschlicherweise, sie hätten traumlos durchgeschlafen. Sie verhalten sich also tagsüber wie immer. Die andere Gruppe schaut sich dagegen unter dem Eindruck der nächtlichen Verfolgungsjagd immer wieder um, ob nicht vielleicht tatsächlich ein Tiger in der Nähe ist.

Es ist also gut möglich, dass die Personen in dieser Gruppe im Wachzustand tatsächlich seltener gefressen werden. Das liegt aber nicht am geträumten Traum, sondern an der Erinnerung daran. Ob Träume eine Funk­tion haben, auch wenn man sich nicht an sie erinnert, lässt sich daher prinzipiell nicht beantworten.

Erinnerte Träume können demnach jedoch sehr wohl Effekte haben.

Ja, sicher. Wenn sich Menschen an ihre Träume erinnern, kann sie das auf neue Ideen bringen. Indem sie sich mit den Inhalten beschäftigen, gelangen sie möglicherweise auch zu neuen Einsichten über sich selbst. Und vielleicht kommen sie dadurch sogar besser mit ihrem Leben zurecht. Leider gibt es aber noch keine guten Langzeitstudien zu solchen Effekten. Ich fände es zum Beispiel span­nend zu untersuchen, ob eine Psychotherapie besser wirkt, wenn die Patientinnen und Patienten ein Traumtagebuch führen. Ob also die Beschäftigung mit den eigenen Träumen langfristig eine positive Wirkung hat. Ich vermute mal, dass das so sein kann.

Manche Menschen sagen, dass sie nie träumen, selbst in Krisenzeiten wie diesen. Andere träumen dagegen jede Nacht. Gibt es da tatsächlich große individuelle Unterschiede?

Unterschiede gibt es nur in der Fähigkeit, sich an Träume zu erinnern. Das Gehirn ist rund um die Uhr aktiv. Wenn wir bei unseren Untersuchungen im Schlaflabor Menschen aus dem REM-Schlaf wecken, sagen fast alle, sie hätten geträumt. Selbst nach Weckungen aus dem Tiefschlaf ist das bei 60 Prozent aller Versuchspersonen so. Das Bewusstsein ist auch im Schlaf nicht abgeschaltet. Die Frage ist eher: Wie gut kann man sich an das erinnern, was vor dem Aufwachen passiert ist? Und das ist sehr, sehr unterschiedlich.

Kann man das trainieren?

Ja. Das zeigt sich zum Beispiel in Studien, in denen die Versuchspersonen ein Traumtagebuch führen sollen – also ankreuzen, ob sie geträumt haben, und wenn ja, was. Selbst wenn man sich nur ein solches Tagebuch neben das Bett legt, kann das zu einer dramatisch verbesserten Traumerinnerung führen.

Sie haben anfangs gesagt, dass unsere Träume meist von Dingen handeln, die uns gerade bewegen. Können wir überhaupt immer sagen, was uns beschäftigt? Oder läuft da vieles unbewusst?

Der Begriff „Unbewusstes“ ist ein Überbleibsel aus der Psychoanalyse. Es gibt sicher Dinge, über die man im Wachzustand nicht so gerne nachdenkt. Aber wenn man ein wenig genauer nachfragt, merkt man, dass diese Themen dennoch im Wachen präsent sind. Die Idee, dass etwas im Unbewussten schlummert, ist eher Geschichte als aktuelle Forschung.

Wenn wir etwas verdrängen, weil es uns unangenehm ist und wir nicht darüber nachdenken wollen, heißt das also nicht, dass wir es aus unserem Bewusstsein verbannen?

Genau. Es gibt sogar Studien dazu, die das belegen: Wenn man aufgefordert wird, beim Einschlafen an etwas nicht zu denken – den sprichwörtlichen rosa Elefanten –, dann träumt man sogar häufiger davon. Wenn wir versuchen, einen Gedanken aktiv zu verbannen, dann funktioniert das nicht. Er drückt nur umso stärker durch.

Ich bin schon lange über die Idee hinweg, dass Träume uns einen Einblick in Aspekte unseres Innersten geben, die uns im Wachzustand verborgen sind. Im Gegenteil, in Träumen geht es um nichts Verborgenes, sondern die Themen liegen klar auf der Hand. Aber dadurch, dass diese Themen kreativ und – gerade wenn es um Ängste geht – manchmal auch sehr dramatisiert dargestellt werden, bekommt man eventuell doch einen anderen Blick auf die Dinge, die einen beschäftigen. Das ist auch das, was mir am Träumen am besten gefällt.

Prof. Dr. Michael Schredl leitet das Schlaflabor am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim. Der Psychologe beschäftigt sich seit mehr als drei Jahrzehnten mit der Frage, wovon wir träumen und welche Faktoren einen Einfluss auf unsere nächtlichen Fantasien haben

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 9/2022: Das Tempo der Liebe