Herr Kotrschal, warum fotografieren wir eigentlich so gerne?
Wir sind sozial orientierte Wesen und wollen uns mit anderen Menschen emotional in Beziehung setzen. Wir müssen einfach wissen, wohin wir gehören und wie wir zueinander stehen. In diesem Zusammenhang stellen Fotos soziale Verbindungen her und stärken sie. Sie sind universell und somit ähnlich bedeutsam wie Sprache, Kochen oder Musik. Mehr noch: Sie ermöglichen, dass wir aus unserer Umwelt Dinge, Ereignisse und Personen in Bildern festhalten und sie…
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Sie ermöglichen, dass wir aus unserer Umwelt Dinge, Ereignisse und Personen in Bildern festhalten und sie uns somit aneignen. Fotografieren passt erstaunlicherweise gut zur Natur der menschlichen Wahrnehmung und der kognitiven Verarbeitung – es passt wie der Schlüssel ins Schloss.
Wie kommt das? Jahrtausende wurde in der Menschheitsgeschichte nicht fotografiert!
Das stimmt. Doch Menschen denken in Bildern und haben sich seit Urzeiten in Bildern mitgeteilt, sie haben bildhaft erzählt, gezeichnet und gemalt. Zeichnen und Malen sind eine viel stärkere und größere Transformation als das Drücken auf einen Knopf, dennoch sind wir alle in der Lage, mit Papier und Farben umzugehen. Zum Pinsel zu greifen liegt nicht jeder und jedem. Fotografieren aber scheint wie von selbst zu gehen, das begreift heutzutage jedes Kind. Die Handkamera eines Smartphones zu bedienen ist eben recht einfach geworden – und ein Bild sagt immer noch mehr als tausend Worte.
Mit dem Fotoapparat umzugehen ist dagegen schwieriger?
Oftmals ja. Eines darf man nicht vergessen: Fotografieren war vor der digitalen Revolution im Wesentlichen auf jene Minderheit der zumeist männlichen Weltbevölkerung beschränkt, die genug Geld hatte, um sich eine Kamera zu kaufen. Das änderte sich mit der Verbreitung der Smartphones. Mittlerweile verfügen fast zwei Drittel aller Menschen über ein Handy, mit dem 90 Prozent aller Fotos gemacht werden. Das „Jagen und Sammeln“ von Bildern wurde also unabhängig vom kulturellen Hintergrund allgegenwärtig, seit es durch die stetige Weiterentwicklung der Smartphonetechnologie leicht zu handhaben und preiswert geworden ist. So erfüllt die Universalie des Fotografierens, wie wir es nennen, wichtige menschliche Bedürfnisse.
Welche sind das?
Erstens können wir uns aus unserer Umwelt etwas aneignen und erhalten so dauerhaften Zugang zu den entsprechenden Informationen: Wer ein Foto besitzt, hat Zugang zu einem Moment, der verflogen ist, und kann dennoch über diesen Moment verfügen. Ein Foto bleibt, wenn man es nicht löscht. Zweitens, wer einen Bildausschnitt aussucht, gibt der Welt einen Rahmen. Es ist möglich, durch das Wählen einer bestimmten Perspektive, eines Ausschnitts und Zeitpunkts dem Ereignis sofort eine Bedeutung und einen Sinn zu geben.
Fotografieren ist das Erzählen in Bildern – bis hin zur Manipulation. Drittens setzen wir uns durch Fotos mit anderen Menschen in Beziehung, und das stärkt die soziale Verbundenheit – oder auch die Abgrenzung, je nachdem. Der vierte Aspekt ist nicht unwesentlich: die Suche nach Datingpartnerinnen und -partnern. Viele Menschen machen Selfies und verbreiten sie, um sexuellen und romantischen Partnerinnen und Partnern attraktiv zu erscheinen.
Sie sprechen von der Universalie des Fotografierens, was verstehen Sie darunter?
Als theoretischen Rahmen entwickelten wir – der Medienpädagoge Leopold Kislinger und ich – die Mental Utilization-Hypothese. Diese besagt, dass Menschen gerne fotografieren, weil es ihren Hirnfunktionen, den damit verbundenen Mechanismen und ihren Anlagen als extrem soziale Wesen entspricht. Wir kamen zum Ergebnis, dass dem grundlegende, auch unbewusste und vor allem soziale Wahrnehmungsmuster zugrunde liegen. Fotografieren ist im weitesten Sinne im Bereich des Copings angesiedelt, der Bewältigungsstrategie des Alltags bezüglich einschneidender Erlebnisse und erfreulicher, aber auch belastender Ereignisse.
Was hat Fotografieren mit belastenden Lebensphasen zu tun?
Viele Menschen kompensieren ihre Flugangst, indem sie bei Start und Landung aus dem Fenster fotografieren. Oder Kriegsfotografen berichten, dass sie im Kugelhagel kaum Angst empfinden, wenn sie ihren Job erledigen. Und Eltern dokumentieren den ersten Schultag ihres Kindes in der Ambivalenz zwischen Freude und Zukunftshoffnung, denn es schwingt die bange Erwartung aus der eigenen Erfahrung mit, dass Schule auch Stress und Angst verursachen kann.
Mit Fotografieren erlangt man ein Stück weit Kontrolle über solche Situationen – freilich auf Kosten des unmittelbaren Erlebens des Augenblicks, von dem das Fotografieren ablenkt.
Wir alle setzen uns mit den für uns wichtigen und relevanten Bereichen der Welt in Beziehung, auch deshalb, um mit bestimmten Herausforderungen und Konflikten zurechtzukommen. Und in diesem Zusammenhang ist das Netzwerken von Bedeutung, das digitales Fotografieren und Teilen über soziale Medien ermöglicht.
Das Teilen in den Netzwerken hat bekanntlich seine Schattenseiten…
…genau, es sind ja auch die negativen Aspekte, die bislang umfassend untersucht und besprochen wurden. Es wissen mittlerweile alle, dass man sich mit jedem Foto in den sozialen Medien preisgibt und sich und seine Daten den digitalen Providern ausliefert. Dass dies alles offensichtlich in Kauf genommen wird, zeigt wiederum, wie wichtig das Fotografieren und Teilen für viele Menschen geworden ist.
Welche Bedeutung haben eigene Fotos in einer von visuellen Reizen überfluteten Welt?
Sie kommen einer adaptiven Reaktion gleich, das heißt, sie sind eine Anpassung des Verhaltens, unter anderem um ein Übermaß einstürmender Reize auszublenden. Der Moment des Fotografierens bedeutet eine Konzentration auf einen persönlich relevanten Ausschnitt der Wirklichkeit, der als Foto in die Zukunft mitgenommen wird. Selbstgemachte Fotos beziehen immer das eigene Ich, das eigene Fühlen und Denken ein. Die Verbindung zum Foto entsteht schon kurz vor dem Drücken des Auslösers – und das Betrachten des Fotos erzeugt wiederum Resonanz.
Es ist dabei von Bedeutung, wie ein Foto gestaltet und in welcher Situation die Aufnahme gemacht wurde, ob es sich zum Beispiel um das letzte Erinnerungsfoto eines Freundes oder einen launigen Schnappschuss handelt. Über die Mechanismen der Wahrnehmung und das Mitschwingen von Gefühlen und Gedanken entstehen auch emotionale Verbindungen zu anderen Fotos, denen von Verwandten, Bekannten, Freunden – zu Bildern, die einen auf eine bestimmte Weise ansprechen.
Wann jedoch ist der Ausstieg aus der Beobachterposition wichtiger als ein Bild, um den Moment wahrhaftig mitzuerleben oder mit anderen Menschen in Kontakt zu treten?
Natürlich dann, wenn gerade Hilfe erforderlich ist. Wenn die eigene Mutter gestürzt ist, wird man zu ihr eilen, anstatt zur Kamera zu greifen. Umgekehrt empört immer öfter, dass Menschen, die Zeugen eines Unfalls werden, per Smartphone fotografieren und die Bilder sofort über soziale Netzwerke teilen, anstatt zu helfen – offenbar um durch das Teilen das eigene Prestige zu heben, aber auch um sich von der herausfordernden Situation zu distanzieren.
Wer fotografiert, braucht freie Aufmerksamkeitsressourcen: Extrem hungrig, wütend oder von Zahnschmerzen geplagt lässt man das Smartphone zumeist in der Tasche. Beim Fotografieren ist man in einer Beobachterposition. Wer zur Kamera greift, kann den jeweiligen Moment nicht vollständig miterleben und nicht zeitgleich mit anderen Menschen in Kontakt treten. Sich zu distanzieren kann da ein starkes, unbewusstes Motiv sein. Doch es wird auch fotografiert, um Ereignisse intensiver zu erleben und festzuhalten, vor allem bestimmte Situationen mit der Familie und Freunden.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Man denke an das fotografische Dokumentieren des Ausblasens der Kerzen auf der Geburtstagstorte, das die mehr oder weniger spontanen gemeinschaftlichen Äußerungen von Freude und Glück steigert. Jugendliche hingegen fotografieren anders, oft in einer Art Erlebnismodus. Da geht es weniger um das Bild als darum, den Moment zu markieren, für sich und auch für andere, durch ein rasches Teilen. Solche Fotos sind wie schnell gemachte Fotokopien von Eindrücken und Einfällen, besitzen aber weniger die Bedeutung eines Fotos an sich, verschwinden in den Speichermedien, ohne je wieder beachtet zu werden.
Inwiefern kann man anhand eigener Aufnahmen etwas über sich lernen?
Es kann aufschlussreich sein, die eigene Fotosammlung auf die Häufigkeit bestimmter Motive durchzusehen. Oder sie auch mit den Fotostrecken anderer Leute zu vergleichen. Was ich wie fotografiere, sagt natürlich viel über mich aus, ebenso wie das, was nicht auf meinen Fotos zu finden ist. Medienwissenschaftler haben übrigens festgestellt, dass Frauen vor allem ihnen nahestehende Menschen abbilden, während die Fotos von Männern oft Landschaften oder Gebäude zeigen.
Manche Bilder schmücken die Wohnzimmerwand, was bedeutet das?
Wir alle leben in verschiedenen Welten, haben unterschiedliche Geschmäcker – und die Bilder an der Wand repräsentieren zumeist die eigenen Vorlieben. Doch vor zu schneller Bewertung sei gewarnt, denn das eingerahmte Edelweiß kann beispielsweise als ironische Referenz gemeint sein. Oder es hängt jener scheußliche röhrende Hirsch im Wohnzimmer, welchen einst die Erbtante der Familie vermacht hat. Niemand mag es, doch alle haben sich irgendwie daran gewöhnt und nehmen es nicht mehr wahr.
Darüber hinaus müssen gerahmte Selbstporträts nicht unbedingt auf hemmungslose Selbstverliebtheit schließen lassen. Sie können die eigene Verbundenheit zur Welt und zu anderen Menschen zeigen und so eine realistische Einschätzung der Person ermöglichen – was generell für die Gestaltung des eigenen Lebensraums gilt.
Können eigene Fotos in schweren Zeiten Halt geben?
Beim Betrachten vertrauter Personen oder Situationen kann über die Ausschüttung des Beruhigungshormons Oxytocin Geborgenheit vermittelt werden. Fotos aktivieren schöne Erinnerungen und erfüllen eine soziale Ankerfunktion, indem sie über die Abbildung der Liebsten oder auch von Gott und anderen Heiligen Bindung und positive Gefühle stärken. Bilder sind ebenso Belege für das soziale Netz, die individuell wichtigen Beziehungen zur Familie, zu Freunden, aber auch zu Haustieren oder Landschaften, die man eindrucksvoll findet, und nicht zu vergessen Lokalitäten, in denen man sich wohlfühlt.
Dennoch, es gibt Fotoverweigerer, die sich bewusst entscheiden, in bestimmten Momenten kein Gerät zwischen sich und die Welt zu stellen. Brauchen diese Menschen weniger das Gefühl, mit der Welt verbunden zu sein?
Letzteres würde ich so nicht sagen. Es gibt individuelle, manchmal religiöse Gründe für Verweigerer. Außerdem: Manch einer macht sich bewusst, dass das Fotografieren im gewissen Sinne eine Verschiebung des Hier und Jetzt in die Zukunft ist. Fotos schaut man sich ja erst Momente später, viel später oder möglicherweise nie an.
Wer durchforstet wirklich die Unmenge gespeicherter digitaler Bilder? Also lassen es manche eben bleiben. Das entspricht auch meinem Erleben. Ich habe als junger Mann und Familienvater viel fotografiert, habe es dann weitgehend aufgegeben, weil ich die Kamera samt Aktivität als Barriere zwischen mir und der Welt zunehmend als störend empfand.
Erst durch die Möglichkeit der Smartphonefotografie habe ich wieder angefangen. Die Handykamera ist eben leicht zu handhaben und immer zur Hand, das ist gerade in Situationen schön, die man mit anderen teilen möchte. Diese Möglichkeit des Mitteilens begründet ein Gefühl von Verbundenheit, das süchtig machen kann – nicht so sehr das Fotografieren selbst, sondern seine natürlich gewordene Verbindung mit den digital-sozialen Medien.
Kurt Kotrschal ist Professor für Verhaltensforschung der Universität Wien. Er arbeitet unter anderem mit dem Medienpädagogen und Fotografie-Experten Leopold Kislinger aus Linz zusammen