Frau Thissen, wenn wir im Alltag über Flow reden, meinen wir einen Zustand, in dem alles mühelos scheint und immer so weitergehen könnte – beim Joggen etwa, beim Spielen oder beim Wohnungsputz, „da war ich total im Flow“. Wie definieren Sie das Wort wissenschaftlich?
Flow ist ein Begriff aus der positiven Psychologie. Er meint das völlige Aufgehen in einer Tätigkeit, also dass ich etwas mache und mich völlig darin vertiefe. Dazu gehören verschiedenste Phänomene, etwa ein verzerrtes Zeitempfinden oder der…
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völlig darin vertiefe. Dazu gehören verschiedenste Phänomene, etwa ein verzerrtes Zeitempfinden oder der Verlust des Ich-Bewusstseins –„Wie die Zeit vergeht!“ oder „Ich war völlig raus aus meinem Alltag“. Vereinfacht besteht Flow aus drei übergeordneten Dimensionen.
Da ist zum einen die Absorption: Man ist völlig fokussiert und blendet alles um sich herum aus. Dann die Verarbeitungsflüssigkeit: Man hat das Gefühl, dass man ganz intuitiv agieren kann, ohne sich groß anstrengen oder nachdenken zu müssen – alles ist im Fluss. Daher auch der Begriff Flow. Die dritte Dimension ist die intrinsische Freude: Man hat Spaß an der Tätigkeit selbst, möchte gar nicht mehr aufhören. Wenn all diese Dimensionen gleichzeitig auftreten, entsteht dieser besondere Flow-Zustand.
Wenn man die Dimensionen auf das Lesen anwendet, zu dem Sie speziell geforscht haben: Entspricht die intrinsische Freude dem, was wir als Lesefreude kennen?
Genau. Flow entsteht immer dann, wenn wir uns optimal herausgefordert fühlen – also jenseits von Über- oder Unterforderung Freude am Tun entwickeln. Bei Erwachsenen ist die reine Dekodierung der Buchstaben meist stark automatisiert. Die Herausforderung liegt vielmehr darin, ein mentales Modell der Geschichte zu erstellen und sie im eigenen Kopf lebendig werden zu lassen. Wenn man dabei in Flow gerät, beinhaltet der auch Lesefreude.
Links und rechts vom Flow lauern beim Lesen also auch Überforderung und Langeweile?
Ja, der Flow beim Lesen ist fragil, weil Lesen ein Prozess ist: Ich erfahre ständig neue Informationen, die ich in mein mentales Modell der Geschichte einbauen muss. Wenn im Buch plötzlich nichts Interessantes mehr passiert oder etwas Unlogisches, das mich rausreißt, kann ich diesen Zustand schnell verlieren.
Welche Rolle spielt die Komplexität des Textes? Bei zu vielen Fremdwörtern oder zu vielen Namen kann es mich überfordern, der Geschichte zu folgen.
Viele Faktoren entscheiden darüber, ob es beim Lesen zu einer optimalen Herausforderungssituation kommt. Der Schreibstil ist sicherlich wichtig. Aber gleichzeitig kommt es auf die Person an, die liest: Manche mögen ja gerade Bücher mit schwierigen Wörtern oder verschachtelter Handlung. Das macht die Forschung komplizierter. Bei anderen Tätigkeiten kommt man dem Flow leichter auf die Spur, zum Beispiel beim Computerspiel Tetris.
Bei Tetris hängt die Schwierigkeit des Spiels allein von der Geschwindigkeit ab. Es fallen Blöcke herab, die man drehen und in Lücken sortieren muss. Je schneller die Blöcke herabfallen, desto mehr wird vor allem Reaktionsgeschwindigkeit benötigt. Bei Tetris kann man also sagen: Es sind diese zwei Variablen „Geschwindigkeit der herabfallenden Blöcke“ und „meine eigene Reaktionsgeschwindigkeit“, auf die es beim Flow ankommt. Die kann ich messen und manipulieren, um Flow vorherzusagen. Beim Lesen ist das schwieriger, weil eben sehr viel mehr mit reinspielt, zum Beispiel Schreibstil, Inhalt, persönliche Vorlieben und verschiedenste mentale Fähigkeiten.
Dennoch haben Sie es versucht und Studien zum Flow beim Lesen von fiktionalen Texten durchgeführt.
Wir wollten zunächst einmal nachweisen, dass es Flow beim Lesen gibt, und ihn messen. Dafür haben wir mit Fragebögen gearbeitet. Was allerdings nicht ganz einfach war, denn die selbstbezogenen Gedanken, die man normalerweise immer hat – Wie geht es mir gerade? Bin ich hungrig? Was denken andere Leute von mir? –, die hat man im Flow nicht, da verschwindet das Ich-Bewusstsein. Wenn ich eine Person in so einer Situation fragen würde, wie sie sich gerade fühlt, würde ich sie aus ihrem Flow herausreißen.
Was also haben Sie gemacht?
Wir haben die Fragen unmittelbar nach dem Lesen gestellt. Die Lesenden haben Aussagen auf einer Skala von 1 bis 7 bewertet. Zum Beispiel „Ich habe nicht gemerkt, wie die Zeit beim Lesen vergeht“ oder „Gedanken, Gefühle und Bilder tauchten automatisch und spontan auf, inspiriert von dem, was ich las“. Diese Aussagen haben wir in verschiedenen Studien getestet und verfeinert. Dabei herausgekommen ist die Fiction Reading Flow Scale, mit der man Flow beim Lesen im Nachhinein messen kann und die uns hilft, Vorhersagen zu treffen.
In der ersten Studie durften sich die Teilnehmenden aussuchen, was sie lesen wollten. In den beiden anderen wurde die Odyssee von Homer gelesen. Warum?
Für die dritte Studie haben wir nur Personen eingeladen, die bereits vorher mitgemacht und dort nach einem Auszug aus der Odyssee auf der Fiction Reading Flow Scale einen hohen Wert erzielt hatten. Sie waren also affin für Flow-Erleben beim Odyssee-Lesen. Diese Gruppe haben wir dann aufgeteilt und je eine von drei verschiedenen Versionen eines neuen Odyssee-Kapitels lesen lassen: eine vereinfachte, eine moderne oder eine ältere, schwierige Übersetzung. Es gab zwei Erkenntnisse: Die Teilnehmenden kamen bei allen Versionen in Flow, wahrscheinlich weil sie die Geschichte mitgerissen hat, selbst wenn die Erzählweise mal zu simpel oder zu schwierig war.
Und: Die Personen, die bei der schwierigen Version der Odyssee mehr Flow erlebt hatten, waren vor dem Lesen in einem ruhigeren inneren Zustand gewesen – was wir anhand ihrer Herzaktivität feststellen konnten. So konnten sie später beim Lesen ihre kognitiven Fähigkeiten besser abrufen und auch einen schwierigen Text gut meistern. Da sieht man, dass zwei Seiten zusammenspielen: die Tätigkeit beziehungsweise ihr Anforderungsgrad und die Person und ihr Vermögen, ihre Fähigkeiten in der Situation abzurufen.
Das beschäftigt mich gerade auch in meiner Forschung: Gibt es etwas, das die Leute vor der Tätigkeit machen können, um dadurch eher in Flow zu kommen? Hierfür probieren wir Imaginationsübungen mit unterschiedlichen Selbstregulationstechniken aus.
Inwieweit können Sie nach den Studien sagen, welchen Zweck der Flow beim Lesen hat?
Flow ist ja ein positiver Zustand. Beim Lesen wird er aber zusätzlich zum Verstärker für andere Zustände, die entscheidend für Lesefreude sein können: Wenn ich zum Beispiel einen Fantasyroman lese, sind meine bildlichen Vorstellungen von Drachen und Fabelwesen im Flow-Zustand intensiver. Ich gerate eher in einen sogenannten Präsenzzustand, in dem ich mich in die Welt der Geschichte hineinversetzt fühle.
Wenn ich einen Krimi lese, kann ich der Handlung besser folgen und habe ein ausgeprägtes Spannungsempfinden. Flow ist beim Lesen also ein vermittelnder Mechanismus, ein Mediator für das, was der Text im Leser auslöst: Lesen plus Flow erzeugt ein insgesamt lebendigeres Leseerlebnis.
Welche Wirkung hat das auf meinen Körper?
Man kann hierzu unterschiedliche Hypothesen aufstellen: dass zum Beispiel durch die erhöhte Verarbeitungsflüssigkeit auch bestimmte Abläufe im Gehirn messbar schneller werden sollten; oder dass man durch die intrinsische Freude vielleicht sogar mehr lächelt. Hier steht die Forschung aber noch ganz am Anfang. Es ist auch nicht ganz einfach zu untersuchen, wie sich der Flow-Zustand im Körper niederschlägt, denn er kann ja bei ganz unterschiedlicher körperlicher Aktivierung entstehen: Ein Sportler hat beispielsweise ein ganz anderes Aktivierungsmuster als eine Leserin, selbst wenn beide Flow erleben. Was genau diesen Zustand im Körper über Tätigkeiten hinweg ausmacht, muss noch genauer erforscht werden.
Zurück zu Ihrer Skala. Können Sie sagen, welche Texte den meisten Flow erzeugen?
Allgemein sind es die, die optimal herausfordern oder stimulieren. Das passiert, wenn ich schon bestimmte kognitive Schemata habe, die ich auf diesen Text anwenden kann. Also dass nicht alles komplett neu für mich ist, sondern ich schon einiges weiß, was mir den Einstieg erleichtert – und dann passiert etwas Neues: Ich glaube zu wissen, wie der Mörder vorgeht, aber dann passiert etwas Unerwartetes. Ich muss meine kognitiven Schemata überdenken und umdenken, um mitzukommen.
Auch deswegen war die Odyssee eine gute Wahl für unsere Studien, weil sie eine typische Abenteuergeschichte erzählt. Weil man Gewohntes findet und Neues miterlebt. Die perfekte Mischung, um auch noch nach Jahrtausenden Flow auszulösen.
Wäre eine Welt vorstellbar, in der Romane vor dem Erscheinen von einer Software analysiert würden? Eine Verlaufskurve könnte dann anzeigen, in welchen Abschnitten mehr Flow entsteht und wo weniger – Netflix sieht ja auch auf die Sekunde, wo Menschen abschalten. Also: per Flow-Analyse zum Bestseller?
Das ist ein bisschen so, wie wenn man in der klinischen Psychologie herausfinden will, ob ein Therapieverfahren effektiv ist. Da setzt man auf möglichst große Stichproben und guckt, ob sich die Symptomatik im Durchschnitt verbessert. Aber es kann natürlich sein, dass man einen Patienten dabei hat, dem die Therapie gar nichts nützt. Und umgekehrt: Etwas, das im Durchschnitt gar nicht therapeutisch effektiv ist, kann genau das sein, das bei einer bestimmten Patientin funktioniert. Genauso würde auch eine Flow-Analyse für Romane immer nur Aussagen zu Durchschnittslesern machen können, Flow beim Lesen ist aber sehr individuell.
Wie ist es beim Vorlesen? Gibt es dazu schon Erkenntnisse?
Wenn ein Kind beim Vorlesen „Nicht aufhören!“ bettelt, könnte das heißen, dass es beim Zuhören im Flow ist. Wenn es selbst lesen würde, wäre das Dekodieren der Buchstaben vielleicht noch überfordernd, aber beim Vorlesen kann es sich ganz darauf konzentrieren, die Geschichte in seinem Kopf lebendig werden zu lassen. Das können Kinder oft sehr gut…
…oder sie wollen einfach noch nicht das Licht ausmachen und schlafen. Gibt es generell Menschen, die besonders „flowbegabt“ sind?
Es gibt in der Forschung die Annahme, dass manche Personen häufiger Flow erleben als andere. Diese sogenannten autotelischen Persönlichkeiten – von altgriechisch autós für „selbst“ und télos für „Ziel“ – tun Dinge um der Tätigkeit selbst willen und brauchen kaum äußere Motivatoren. Es ist allerdings noch umstritten, ob es diese autotelische Persönlichkeit wirklich gibt. Statt Leute mit einer generellen Flow-Neigung findet man wohl eher Leute mit einer Neigung zu Flow in bestimmten Tätigkeitskontexten – etwa beim Lesen die sprichwörtlichen „Leseratten“ und „Bücherwürmer“.
Könnte dann vielleicht der angenehme Flow-Zustand verantwortlich dafür sein, dass Menschen gerne Bücher lesen? Nicht weil sie so gerne Krimis mögen?
Das ist ein spannender Gedanke. Das würde bedeuten, dass ich mir nicht nach offensichtlichen Kriterien aussuche, was ich gerne mache – sondern es der Flow ist, der mich dahin zieht. Eine These dazu ist, dass sich auf diese Weise Talent oder Expertise überhaupt erst entwickelt. Dass durch eine optimale Anforderungssituation bei einer Tätigkeit Flow entsteht, der mich dazu motiviert, diese Tätigkeit zu wiederholen, was wiederum meine Fähigkeiten trainiert. Und beim nächsten Mal brauche ich dann eine etwas höhere Herausforderung, um wieder in den Flow zu kommen – so lange bis ich richtig gut in dem bin, was mich in den Flow bringt.
Das könnte evolutionsbiologisch tatsächlich die Daseinsberechtigung von Flow sein. Es ist ein Zustand, den wir als so positiv empfinden, dass wir ihn mehr oder weniger bewusst anstreben. Und unser Streben danach treibt uns wiederum an, unsere Fähigkeiten oder Interessen zu verfolgen und zu entwickeln. Das würde ja auch ganz gut zum Lesen passen, weil man beim Lesen den eigenen Horizont erweitert.
Zum Weiterlesen
Birte Thissen u.a.: The pleasures of reading fiction explained by flow, presence, identification, suspense, and cognitive involvement. Psychology of Aesthetics, Creativity, and the Arts, 15/4, 2021, 710–724. DOI: 10.1037/aca0000367
Dr. Birte Thissen ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Fakultät für Psychologie und Bewegungswissenschaft an der Universität Hamburg. Ihre Flow-Forschung wurde 2021 von der Internationalen Gesellschaft für Empirische Literaturwissenschaft ausgezeichnet.