Schreiben bei Unzulänglichkeit

Psychotherapeutin Karoline Klemke berichtet über die geheime Kraft des Schreibens und wie sie sie entdeckte.

Das Foto zeigt eine Frau, die am Tisch sitzt und in ein Notizbuch schreibt
Schreiben kann trösten und ein Ausweg aus wortlosem Schmerz und aus Angst sein © Westend61/Getty Images

Heute soll es stürmisch werden, aber noch ist der Himmel klar und der Wind rauscht durch die Linden, als würde er sich erst noch warm machen wollen für das große nächtliche Unwetter. Von meinem Schreibtisch aus sehe ich auf den Kirchturm von St. Josef über die Hinterhöfe und Remisen der Handwerkerbetriebe hinweg. Es laufen ein paar Dachdecker herum, mit großen Gasflaschen brennen sie Bitumen auf die schwarze Dachpappe, bevor der Winter kommt. Man sieht nur ihre Umrisse im Gegenlicht, wie Scherenschnittfiguren im Schattentheater. Die Sonne steht tief und am Himmel hinter dem Kirchturm zieht eine dunkellilafarbene Dämmerung heran. Das Abendlicht leuchtet auf den Backsteinturm und das grüne Kupferdach der Kirche, als würde der Jüngste Tag hereinbrechen. Und bald wird in den kalten, wolkenlosen Winternächten neben dem scharfen Schattenriss der Kirche ein schmaler Sichelmond aufgehen mit großer Geste, über sich den Abendstern, als sagte Gott selbst: Hier! Bin! Ich! Und neben all der Erhabenheit wird das matte Ockerlicht der Kirchturmuhr verblassen und im Schwarz darunter werden wie goldene Perlen auf Samt die beleuchteten Fenster der Mietshäuser liegen.“

Ich habe diese Zeilen vor einigen Jahren geschrieben, als ich, vertieft in ein Gutachten, von meinem Schreibtisch aufsah und an meinen bevorstehenden Umzug dachte. Schwere Unwetter zogen damals über Berlin. Bald würde ich von hier fortziehen, es würden dort keine Linden stehen und kein Kirchturm. Ich war traurig. Also versuchte ich, all die Schönheit zu erfassen, damit ich darauf zurückgreifen könnte, wenn sie mir in Zukunft fehlen würde.

Ich begann erst in meinen späten Dreißigern zu schreiben. In meiner Familie gibt es viele bildende Künstler, über mehrere Generationen. Also malte auch ich. Es war über lange Strecken eine Qual. Vor der weißen Leinwand bekam ich Schweißausbrüche. So gut wie jeder Strich war der Beweis meiner völligen Unzulänglichkeit, fehlenden Talentes, heilloser Mittelmäßigkeit und so weiter. Es waren nicht einfach ein paar Hindernisse zwischen mir und der Leinwand. Es war eine brennende Barrikade aus Angst und Scham.

Etwas stimmte nicht

Wie man leicht erkennt, habe ich nicht umsonst Psychologie studiert. Dort lernte ich, dass gegen neurotische Angst Konfrontation hilft. Also malte ich blind, unter Zeitdruck, nur zwanzig Sekunden pro Bild und versuchte dabei, meine Mittelmäßigkeit nicht allzu persönlich zu nehmen. Ich lernte über die Jahre wenigstens das Experimentieren. Bei einer Ausstellung gefiel jemandem ein Bild. Ich erklärte ihm, dass es rein zufällig entstanden sei, nicht mehr als ein Abfallprodukt. Die Entwertung sprudelte nur so aus mir heraus. Ich hörte mir dabei zu und dachte: „Irgendetwas stimmt nicht mit dir, Karoline.“ Es war nur eine dunkle Ahnung. Vorsichtshalber wiederholte ich die Sache nicht. Schließlich hatte ich auch einen „richtigen Beruf“. Als Psychotherapeutin muss man keine Ausstellungen machen. Man muss Leute therapieren, das ist schwer genug. Vermeidung ist also auch eine Lösung.

Nach einigen Jahren wurde es langsam besser mit mir. Mal malte ich, mal malte ich nicht. Mein Geld verdiente ich mit der Behandlung von Straftätern und ich hatte deshalb andere Probleme. Zum Beispiel dass ich mir wie eine Aufschneiderin vorkam. Die technische Sprache des Fachgebietes lernte ich schnell. Ich schrieb Stellungnahmen, Gutachten, Beurteilungen. Die Psychosprache wurde mein Panzer und mein Schild. Sie besteht hauptsächlich aus zusammengesetzten Substantiven, ergänzt um ein paar vielsagende Adjektive:

„Die in den Anlasstaten zu Tage getretene Gefährlichkeit ist das Ergebnis der Interaktion einer sich zuspitzenden psychosozialen Problemlage infolge einer dauerhaft misslungenen Anpassung an lebensphasische Veränderungsnotwendigkeiten im Rahmen einer dissozialen Persönlichkeitsstruktur mit mangelnder nachhaltiger Problemlösungsfähigkeit und eingeschränktem Empathievermögen.“

Nur damit das mal klar ist! Es gab mir etwas Halt. Und etwas Sicherheit.

Als Psychotherapeutin im Maßregelvollzug musste ich diese Schriftsätze mit meinen Patienten besprechen. Die meisten ließen das schweigend über sich ergehen. Und ich hielt es für meine fachliche Verantwortung, bis ich eines Tages auf Herrn Schmitz traf. Er hatte einen Mord begangen und war nicht gerade ein Sympathieträger. Angriff war seine beste Verteidigung. Wahrscheinlich hatte ich streng geurteilt. Ich drückte ihm das Schriftstück in die Hand und er erstarrte, während er las. Nach ein paar Minuten stand er langsam auf, legte das Papier zurück auf den Tisch, sah mich eindringlich an und sagte verächtlich: „Sie haben nichts über mich geschrieben … rein gar nichts.“ Dann stand er auf und ging. Karoline! Fünf, setzen. Ich fragte mich zum ersten Mal, wie ich mich fühlen würde, wenn ich einen solchen Text über mich selbst lesen müsste.

Ich würde mich fühlen wie ein aufgespießter Käfer.

Bessere Diagnosen schreiben

Ich hatte diese Sprache verwendet wie ein Kind, das gedankenlos mit einer scharfen Waffe spielt. Mir fiel ein, dass Studierende bessere Diagnosen stellen, wenn sie Essays über ihre Patienten schreiben. Also riss ich von meinem Notizblock einen Zettel ab und schrieb, ohne nachzudenken: „Herr Björn Schmitz ist, vorsichtig gesagt, ein ungewöhnlicher Mann. In seinen jungen Jahren muss er attraktiv gewesen sein, er ist noch immer recht athletisch und seine Augen sind taubenblau. Mit dem grauen Jogginganzug ist er wahrscheinlich bereits auf die Welt gekommen. Es war keine gute Welt und Björn muss sehr viel Angst gehabt haben. Bevor er einen Saufkumpan unter einer Plastiktüte ersticken ließ, erlernte er den Beruf eines Fleischers und tötete Rinder im Akkord. Er sah ihnen nicht in die Augen und er trank zu viel. Sein Leben lang blieb er ohne Mitte. Von sich selbst sagt er: ‚Ich bin eben jähzornig‘, als handele es sich um eine Art unvorhersehbares Wetterereignis. Und er verbirgt in sich einen Schmerz, den er andere Menschen sehr genau fühlen lässt. Er bemerkt es allerdings, wenn man über ihn schreibt wie über ein Ding, und das ist erstaunlich.“

Es war, als hätte ich einfach eine andere Gehirnhälfte benutzt, und es fühlte sich besser an. Aber ich dachte auch, das sei zu persönlich und man werde mich für verrückt halten. Also faltete ich den Zettel zusammen, steckte ihn in mein Handbuch der Forensischen Psychiatrie und vergaß ihn.

Wenig später fragte mich ein alter Schulfreund, ob ich die Geschichten, die ich bisweilen abends beim Wein erzählte, nicht aufschreiben wolle. Für die Zeitung. „Nein! Schreiben ist nicht mein Metier!“, antwortete ich. Ein Zeitungsartikel ist schließ­lich so was Ähnliches wie eine Ausstellung. Man zeigt Worte, keine Bilder. Da wäre ich schön blöd. „Wer denken kann, kann auch schreiben!“, entgegnete er. Ich dachte nach. „Mal so in einer Zeitung stehen? Ist doch auch was fürs Ego, oder nicht?“ Ich stellte mir vor, wie ich meinen Kindern triumphierend einen Zeitungsartikel mit meinem Namen unter die Nase halten würde mit den Worten: „So, ihr Lieben! Eure Mutter bittet sich in Zukunft etwas mehr Respekt aus! Und das Geschirr gehört übrigens in den Geschirrspü…“ Mein Freund schüt­telte den Kopf: „Mach dir keine Illusionen, da gewöhnen sich alle schnell dran!“

Trotzdem setzte ich mich eines schönen Abends nach der Arbeit guter Dinge vor meinen Laptop, öffnete ein neues Dokument und tippte den Satz „Der Beruf der Psychotherapeutin ist schön und lehrreich“ hinein. Dann starrte ich auf die Zeile, während von innen etwas begann, gegen meinen Schädel zu hämmern. „Du lächerliche Stümperin, was bildest du dir ein, meinst du wirklich, du hast etwas zu sagen?! Das wird nichts als belangloses Gefasel.“ Es lähmt meine Hände, es treibt mir die Schamesröte ins Gesicht. Es lässt mich erstarren. Ich kenne diese Starre. Es sind nur ein paar Fetzen der Erinnerung. Das Atelier meines Großvaters, ein schmaler Gang neben dem Arbeitstisch mit den gestapelten Bildbänden, die mannshoch über mich hinausragten. Ein Brief in meiner Hand am offenen Fenster. Die langgezogenen Schreie der Wildgänse. Ein Abschiedsbrief. Ich werde zu Stein. Du genügst nicht, du bist unzulänglich, ein Mängelexemplar. Im sich Abwenden der Eltern hört das Kind auf zu existieren.

Nur ein kleiner Moment

Ich klappte meinen Laptop zu, betäubt vor Schmerz. Schuster, bleib bei deinem Leisten. Hab ich dir doch gleich gesagt. Manch einer sagt: Schreiben ist einfach. Du musst nur so lange auf ein weißes Blatt Papier starren, bis du Blut schwitzt. Das scheint bei mir schnell zu gehen. Ich stand auf, räumte den Geschirrspüler aus, wischte den Tisch ab, als wäre ich ein Reinigungsautomat, und fiel ins Bett. Am nächsten Morgen wachte ich auf mit dem dringenden Bedürfnis, jemand möge kommen und mir abnehmen, ich selbst zu sein.

Es war nur ein kleiner Moment mit mir allein an einem geschäftigen Abend vor einem geschäftigen Tag, und im echten Leben ging einfach alles weiter wie immer. Ich stand auf, regelte Alltagsangelegenheiten, fuhr zur Arbeit. Ich ging zum Kinderarzt, zur Tierärztin, in die Schule. Aber innen war ich die ganze Zeit abwesend. Wenn ich ein paar Minuten frei hatte, lief ich unschlüssig herum, wischte ein paar Krümel weg und goss ständig meine armen Pflanzen. Dann starrte ich aus dem Fenster, ging alle Dinge durch, die schon längst hätten getan werden müssen: Quartalsabrechnung, Krankenversicherung, Steuererklärung. Und nach einer halben Stunde starrte ich noch immer vor mich hin.

Die Wildgänse ziehen nach Norden, und ich höre ihre langgezogenen Schreie durch jeden Straßenlärm hindurch. Ich sehe die Welt aus demselben kleinen Fenster meiner Kindheit. Ich werde nicht schreiben. Mein Beruf als Psychotherapeutin ist ein breiter Baum. Ich lehne mich an ihn an, er trägt mich und ich verstecke mich hinter ihm.

Trotzdem fühlte ich mich leer. Mein Leben schien mir nichts mehr zu sagen. Die Dinge schwiegen mich an und ich schwieg zurück. Und regelmäßig zwischen halb drei und halb fünf Uhr in der Frühe nutzte mein Unterbewusstsein die Gelegenheit und spielte mir die Möglichkeiten meines vollständigen Scheiterns in allen Lebensbereichen vor. Einzeln und en detail. Am Ende war ich beschämt, verlassen und tot. In dieser Reihenfolge.

Ein Brief an das Opfer

Zum Glück arbeitete ich. Bei Herrn Schmitz entdeckte man einen bösartigen Gehirntumor, wahrscheinlich inoperabel. Ich hatte mir eingebildet, die Ursachen seiner Impulsivität zu kennen, und ich schämte mich all der albernen Sätze über ihn. Eines Morgens sagte er zu mir: „Ich habe gelebt, als ob es immer noch ein Morgen gibt. Jetzt ist meine Zeit einfach alle. Flasche leer, verstehen Sie? Dieses Stück Fleisch in meinem Kopf wird mich töten!“ Ich überlegte und sagte: „Gestorben wird erst, wenn gestorben wird. Und das ist nicht jetzt, nicht in dieser Sekunde. Und in der jetzt hier auch nicht.“ Er sah mich an und presste seine Arme um den Oberkörper. „Wenn Sie zurückschauen und etwas bereuen, dann können Sie es jetzt noch ändern“, sagte ich sanft. „Was ich getan habe, ist nicht zu ändern!“ Ich kam mir naiv vor: „Ja, stimmt.“ Aber irgendetwas war falsch daran, darum schob ich hinterher: „Vielleicht nicht außen, aber innen schon. Sie können die Schuld anerkennen, Wiedergutmachung suchen.“ Er sah mich an: „Und wie soll das bitte gehen, Frau Klemke?“ „Schreiben Sie einen Brief an Ihr Opfer“, hörte ich mich sagen.

Als er gegangen war, bemerkte ich, dass ich da gewesen war. Was muss ich selbst eigentlich tun, um mich in Frieden verabschieden zu können? Das ganze Leben ist sterben lernen, hat Montaigne in seinen Essais geschrieben. Seitdem hatte ich die Idee: Vielleicht kann ich nicht in Ruhe sterben, wenn ich die Szenen meiner Familiengeschichte nicht aufschreibe. Als ginge vom Schreiben ein geheimer Zauber aus, der die Kräfte der Vergangenheit bannt.

„Aber wie nur, Frau Klemke?“ Eines Tages erstellte ich mir eine Datei, nannte sie Schreiben bei Unzulänglichkeit und gab mir den persönlichen Auftrag, sie nur zu öffnen, wenn ich mich absolut unfähig fühlte, auch nur einen sinnvollen Satz zu bilden. Ich schrieb: „In diese Datei werde ich mein bahnbrechendes Hauptwerk hineinschreiben. Es trägt den Titel Karoline hat schon wieder nichts zu sagen, und ich werde es in den nächsten Tagen fertigstellen. Es gibt schließlich verschiedene Arten von Unzulänglichkeitsgefühlen und ich bin die Richtige, um sie systematisch zu sammeln und zu bestimmen, denn ich habe sie aus der Nähe studiert und ihre Qualitäten sehr genau geprüft. Man sollte mir einen Preis dafür verleihen.“

Ich musste lachen. Das war doch nicht schlecht, immerhin hatte ich mich selbst aufgeheitert.

Herr Schmitz musste zu Ärzten, das war kein Spaziergang. Ein Neurochirurg hatte abgelehnt, ihn zu operieren, mit den Worten: „Wenn ich Sie operiere, werden Sie zeitlebens nur noch sabbern und eine Urinspur hinter sich herziehen.“ Worte wie rotierende Messer. Der Typ sollte seine Patienten nur in Vollnarkose sprechen dürfen, dachte ich, sprach es einfach aus und Herr Schmitz sagte vergnügt: „Wenn ich nächste Woche da bin, sag ich dem das: ‚Meine Therapeutin sagt, ich soll nach ’ner Vollnarkose fragen vor dem Gespräch mit Ihnen!‘“ Lachen hilft auf jeden Fall gegen Angst. Nicht nur mir.

Praktischerweise fühlte ich mich jeden Tag unfähig, also schrieb ich jeden Tag in meine Datei. Zunächst lernte ich, unter meinem eigenen Radar zu fliegen. Ich habe einen hochempfindlichen Sensor, der immer gleich Alarm schlägt. Mittelmäßigkeits-, Unfähigkeits- und/oder Überheblichkeitsalarm. Dann stoppt das ganze System. Darum musste ich anfangs sehr vorsichtig sein. Ich schrieb nur in der S-Bahn, wenn ich müde oder in Zeitnot war. Nur dann war ich sicher vor meinem eigenen Leistungsdruck. Hier kann ja gar nichts Tolles stehen. Was soll dabei schon rauskommen? Nichts. Zum Glück. Das Nichtnützliche ist heilig.

Ich schrieb Porträts von Menschen, meinen Haustieren, täglichen Wegen, notierte Gesprächsfetzen, Gedankengänge, Wetterlagen. Ich lernte, nicht immerzu Besonderes zu wollen, sondern mich dem Prozess der Beobachtung zu öffnen. Irgendwann schrieb ich nicht die Familiengeschichte, sondern kleine Szenen über meine Arbeit. Ich schickte sie meinem Freund, fast ohne es selbst zu bemerken. Er veröffentlichte sie in der Zeitung, und erstaunlicherweise war ich danach nicht beschämt, einsam und tot. Meine Kinder lachten und das Geschirr stand weiter auf dem Geschirrspüler.

Dann hatte ich einen „Schreiben muss man ordentlich lernen“-Anfall und buchte ein Seminar bei einem Schriftsteller. Der sagte gleich am Anfang: „Die Geschichte meines Schreibens ist die Geschichte meiner Sexualität!“ Das verblüffte mich. „Im Ernst?“, dachte ich, da bin ich wohl ein komplizierter Fall: „Die Geschichte meines Schreibens ist die Geschichte der Suche nach meiner Stimme, des Ringens mit Selbstzweifeln und Angst. Mein Versuch, zu überleben und einst in Ruhe sterben zu können, auf den ich verzichten würde, wenn ich könnte.“ Das hätte ich gern entgegnet, aber ich war zu schüchtern. Ich lernte Wichtiges über präzises Erzählen. Mir wurde auch geraten, meinen Text in die dritte Form zu setzen, und ich war brav. Schließlich ist er der Fachmann und muss es also wissen. Wieder zu Hause angelangt, war ich blockiert. Ich selbst war aus dem Text verschwunden und wirklich noch jedes Quäntchen Humor. Also schrieb ich alles wieder um. Und so lernte ich, dass ich unbedingt meiner eigenen Stimme vertrauen muss.

Eine Geschichte entsteht

Morgens in der S-Bahn fügte ich Szenen über Straftäterinnen zu einer Geschichte zusammen, jeden Tag fünfzehn Minuten. Irgendwann war der Papierstapel einen Zentimeter hoch. Aus einer Idee war ein Gegenstand geworden. Ein Manuskript.

Herr Schmitz wurde operiert und auf Bewährung in ein Pflegeheim entlassen. Bevor er mit dem Rollstuhl durch die Schleuse gefahren wurde, gab er mir einen kleingefalteten Zettel. „Hat ein bisschen geholfen“, flüsterte er. Ich drückte ihm die Hand und dann schob ihn der Pfleger hinaus mit einem jovialen „Na dann wollen wir mal“. Auf dem Weg in mein Büro faltete ich das karierte Papier auf. Es sah aus wie die Zettelchen, die wir uns in der Schule im Unterricht geschrieben und heimlich durch die Sitzreihen gereicht hatten.

„Lieber Marcel, ich hab dich umgebracht und das tut mir leid. Aber jetzt bin ich auch bald dran und das ist die gerechte Strafe. Ich wusste nicht, was Leben ist, bis der Fleischklops in meinem Kopp es mir gesagt hat. Bis bald, dein Björn.“

Ich wusste nicht, ob ich lachen oder weinen sollte. Und da fiel mir gerade noch rechtzeitig mein eigener Zettel im Handbuch wieder ein. Ich rief dem Pfleger hinterher, rannte in mein Büro und blätterte die Bände durch, bis ich ihn fand. „Ich hab hier noch was für Sie“, sagte ich zu Herrn Schmitz. „Ich hoffe, dass ich da was über Sie gesagt habe…“ Er lachte, als wüsste er genau, wovon ich sprach, schob den Zettel in die Tasche seiner Jogginghose und dann brachte ihn der Pfleger fort. Ein paar Wochen später war er tot.

Schreibprojekte zu zweit

Ich fragte mich, ob es besser gewesen wäre, ich hätte mit Herrn Schmitz geschrieben, statt zu reden. Was wusste ich jenseits meiner Diagnosen eigentlich von ihm? Ich begann Schreibprojekte zu zweit, meine Familie war das Opfer. Zum Beispiel: Man einigt sich pro Buchstabe A bis Z auf je ein Wort und schreibt jeweils eine Seite dazu. Ich hätte nicht gedacht, dass mein Sohn eine so tiefe Bindung zu seinem Bruder hat, mein Mann zu seinem Großvater und meine Freundin zur Rechtswissenschaft. Gemeinsames Schreiben vertieft Beziehung.

Und ich kann mit Sicherheit sagen, absichtsloses, beobachtendes Schreiben ist, wie sich freizuschwim­men. Wenn man hundertmal beobachtet und aufgeschrieben hat: „Ich bin unfähig, das wird sowieso nichts“, wird es langweilig und verliert seine Kraft. Auch in diesem Sinne war Schreiben für mich befreiend. Ich begann in meinen inneren Bildern zu scrollen, wie in der Fotogalerie meines Handys. Lauter Szenen der Vergangenheit, die ich beiseitewische mit einem Seufzen oder Schulterzucken. Aber dann plötzlich gibt es eine, an die ich heranzoome wie an die Begegnung mit Herrn Schmitz. Als könnte ich so wieder hereinfallen in diesen längst vergangenen Moment, als Besucherin aus einer anderen Zeit. In dem der Geruch, die Berührung, das Licht und die Worte vor mir stehen, als wären sie eingemeißelter Teil meines Selbst. Und dann ist es, als würden die Sätze sich aus meiner Hand von allein auf das Papier schreiben und ich müsste nur zusehen und mich um Gottes willen nicht einmischen, während die Geschichte entsteht.

Mein Buch Totmannalarm wurde veröffentlicht. Und dann kam die Angst, niemand werde es lesen. Und dann die Angst, es werde verrissen werden, und dann die Angst, ich würde alle enttäuschen, und dann die Angst, ich könnte jemanden verletzt haben, und dann die Angst, jetzt hätte ich mich endgültig selbst zum Abschuss freigegeben, und dann die Angst, ich würde zwar dieses, aber nichts Weiteres schreiben können. Bisher ist nichts davon eingetreten. Neben meiner Familie und Freund*innen ist Schreiben bei Unzulänglichkeit meine Rettung daraus. Ich schrieb einfach weiter. Dort, in diesem stillen Raum finde ich Halt.

Ich hatte angenommen, bedeutsame Momente im Leben würden sich einstellen, wenn ich mich nur genug anstrenge. Ein Ziel erreiche, etwas Besonderes hervorbringe oder leiste. Zum Beispiel ein Buch schreibe oder jemanden heile oder sonst wie nützlich bin. Ich habe im Prozess des Schreibens gelernt, dass dem nicht so ist. Schreiben gibt mir Wurzeln. Wo ich in Zukunft auch sein werde, wird die Welt, die ich geliebt und über die ich geschrieben habe, Teil von mir sein. Indem ich schreibe, entreiße ich sie dem Vergessen. Und dann ist es, als würden Zeit und Ort bedeutungslos werden – mehr noch: als würden sie überhaupt nicht existieren. Und als würde nur noch die Beziehung zu den Menschen, den Tieren und den Dingen Bedeutung haben und weiter nichts.

Ich stelle mir vor, wenn ich alt bin, mich nicht mehr bewegen kann, nicht mehr nützlich bin und nur noch vor mich hindämmere in irgendeinem Heim, dann werde ich durch all diese Szenen reisen können in meinem Inneren. Darauf freue ich mich. Vielleicht werde ich gerade diesen Moment jetzt besuchen. Ich werde mich sehen, schreibend nach einem langen Arbeitstag. Blau zieht vor mir die Dämmerung hinter dem Kirchturm auf. Mein Mann sieht fern, meine Tochter erzählte mir bis eben von ihrem Tag, meine Söhne sind unterwegs und die Katze ist schnurrend neben mir eingeschlafen. Vielleicht werde ich mich fragen, ob ich das selbstverständliche Glück und den Frieden zu schätzen gewusst habe. Das Bei-mir-Sein und das Zusammensein mit denen, die ich liebe.

Etwas vom Glück in mir

Und dann werde ich zurückkommen und nur ein wenig meine Augen öffnen in das Jetzt hinein, in dem ich dann sein werde. Und was immer ich dort sehen, hören, riechen werde, vielleicht das errötete Gesicht einer Altenpflegerin, ein „Na, dann wollen wir mal“ oder den stechenden Geruch von Desinfektionsmittel. Etwas von meinem erfahrenen Glück wird in mir sein.

Schreiben tröstet mich, es ist mir Ausweg aus wortlosem Schmerz und aus Angst. Es hat mich Vertrauen gelehrt, Einfühlung und Verbindung. Schreiben ist ein Spiegel, eine Suche und kann ein Kampf sein. Ohne Zweifel steckt darin eine geheime Kraft. Welche es ist, kann man nur erfahren, wenn man selbst damit beginnt.

Am frühen Morgen ging ich auf dem Weg zu meiner Arbeit über den Alexanderplatz und vor einem zartblauen Himmel neben der Silberkugel des Fernsehturms ging der Vollmond unter, so sachte und zerbrechlich. Ich stand an der Ampel einer großen Magistrale und jemand hatte ein lachendes Holzmännchen auf das Straßenschild geklebt, nur wenige Zentimeter hoch. Ich blieb einen Moment länger stehen, dachte an Herrn Schmitz und musste lächeln. Und hinter den Hochhäusern am anderen Ende der Straße ging rosagolden die Sonne auf.

Karoline Klemke ist Psychologin, Psychotherapeutin und ­Autorin in Berlin

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: DAS DOSSIER Psychologie Heute: Schreiben
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