„Als wäre ich weniger wert“

Er arbeitet wie alle anderen, also möchte er auch so bezahlt werden. Ein Mann mit Behinderung erzählt, wie wichtig Geld für den Selbstwert ist.

Die Illustration zeigt Behindertenbusse und Büroarbeitsplätze mit Rollstuhlfahrern
Menschen mit Behinderungen kämpfen nicht nur mit ihrer Krankheit, sondern auch gegen das Stigma – vor allem am Arbeitsplatz. © Luisa Stömer für Psychologie Heute

Ich habe das Arbeiten eigentlich immer geliebt, aber es war auch immer schwer für mich. Mein Körper verursacht mir so viele Schmerzen, dass er sich fremd anfühlt. Ich leide an Diabetes und dem chronischen Erschöpfungssyndrom. In meinem Ausweis steht ein Grad der Behinderung von 40 Prozent.

Meinen Beruf als Holzmechaniker musste ich aufgeben. Ein Soziologiestudium konnte ich nicht beenden. Auf dem Arbeitsmarkt wurde es schwierig für mich. Ich habe alles gemacht, jede Maßnahme, jedes Programm bis hin zum Ein-Euro-Job. Irgendwann war ich zermürbt. Ich rutschte in die Grundsicherung, saß zu Hause, war einsam. Gemeinsam mit meinem Arzt habe ich entschieden, in eine Werkstatt für Menschen mit Behinderung zu gehen.

In diesen Einrichtungen verrichtet man einfache Tätigkeiten. Ich habe zum Beispiel Schrauben sortiert und Taschen genäht. Manchmal waren es Aufträge von Unternehmen, manchmal freiwillige Aufgaben. Man arbeitet nur so viel man kann und möchte. Wenn es nichts zu tun gab, haben wir Mensch ärgere Dich nicht gespielt.

„Das ist der richtige Weg für mich!“

Die ersten Wochen waren hart. Es lag nicht an der Arbeit, sondern am Status. Werkstatt – das war für mich ganz unten. Was mir geholfen hat, war der Kontakt zu den anderen Menschen. Mir ging das Herz auf, als ich sah, wie schwer es viele haben und wie sie trotzdem lachen. Die Werkstatt war für uns wie eine Rettungsinsel. Wir waren beschützt vor der bösen Welt da draußen. Vor dem brutalen Arbeitsmarkt. Viele richten sich in diesem Leben ein. Man bekommt ein kleines Werkstatt-Entgelt, dazu meist Grundsicherung oder Erwerbsminderungsrente und wird in Ruhe gelassen. Mein Eindruck ist: Wer einmal in der Werkstatt ist, bleibt da.

Aber mir hat das nicht gereicht. Zum einen wollte ich mir beweisen, dass ich es wieder auf den Arbeitsmarkt schaffen kann. Ich bin ein Kämpfer. Je älter ich werde, desto mehr. Zum anderen wollte ich unbedingt wieder für mich selbst sorgen und Geld verdienen. Sozialleistungen zu beziehen war mir immer unangenehm. Zwar bin ich dankbar für unseren großartigen Sozialstaat und seine Hilfe. Aber für mich war es nur das: Überlebenshilfe. Notlösung. Das Geld vom Amt hat sich nie wie mein eigenes angefühlt. Ich habe es so wenig wie möglich ausgegeben.

Als ich erfuhr, dass ich als Werkstatt­arbeiter auch außerhalb der Werkstatt eingesetzt werden kann, dachte ich: „Verdammte Hacke, das ist der richtige Weg für mich.“ Es funktioniert etwa so wie Leiharbeit: Ich bin über die Werkstatt versichert, werde von ihr bezahlt und begleitet, aber habe einen Job in einem normalen Betrieb. Wenn es gut läuft, übernimmt mich der Betrieb.

Für die Arbeit gekämpft

Weil ich das unbedingt wollte, habe ich dafür gekämpft: selbst den Kontakt zu einem Arbeitgeber hergestellt, die Chefin eines Fahrdienstes überzeugt und als Fahrer angefangen. Die Aufgabe: Menschen mit Behinderung zu ihrer Werkstatt bringen. Für mich war es von Anfang an mehr als Auto fahren. Ich liebe meine Fahrgäste, bringe sie untereinander ins Gespräch, helfe bei Fragen und Problemen, versuche zu fördern. Ich werde geschätzt, kann etwas bewirken und habe wieder Kolleginnen und Kollegen, die dasselbe tun wie ich und mit denen ich mich austauschen kann. Mit Ende fünfzig fühlt sich das an wie ein neuer Frühling. Über die Arbeit war ich gleich glücklich. Über das Gehalt nicht.

Für einen Werkstattangestellten muss ein Unternehmen weniger zahlen als für einen regulären Angestellten, und den größten Teil behält die Werkstatt. Ich verstehe das System: Unternehmen sollen motiviert werden, Menschen mit Behinderung einzustellen, und wir haben die Sicherheit, zurückzukönnen, falls wir die Arbeit nicht schaffen. Aber wenn du dieselbe Arbeit machst wie alle anderen, wenn du genauso gut bist wie alle anderen und trotzdem weniger verdienst – das fühlt sich schlecht an. Als wäre meine Arbeit nur halb so viel wert, weil ich eine Behinderung habe. Als wäre ich weniger wert.

Dabei leiste ich sogar mehr. Arbeiten ist für mich so viel anstrengender als für einen gesunden Menschen. Nach mehreren Stunden im Auto schaffe ich es kaum noch, die Küche aufzuräumen. Der Rücken tut mir weh. Ich muss früh ins Bett. Und was habe ich finanziell davon? Wenig. Für 80 Stunden Fahrdienst im Monat kamen anfangs nur 250 Euro bei mir an. Ich musste zusätzlich Grundsicherung beziehen.

Ich kenne so viele Menschen in der Werkstatt, die mehr leisten könnten und es nicht tun. Kein Wunder: Die Kraft, die ein Mensch mit Behinderung aufbringen muss, ist gewaltig. Du kämpfst mit Angst, schlechten Erfahrungen, deinem Körper, musst dich in einem Job um so vieles selbst kümmern und hast am Ende kaum etwas verdient. Dabei sollte das System doch so sein, dass man sein Leben verbessern kann.

Es geht mir nicht darum, viel Geld zu haben. Materielles war mir nie wichtig. Es geht mir um Teilhabe. Dieses Wort hört man immer, wenn es um Behinderung geht. Aber um am Leben teilzuhaben, brauche ich Geld. Mal ausgehen, ein bisschen Urlaub – alles kostet. Ich will es aus meiner Tasche zahlen und das geht nur mit einem fairen Gehalt.

Mit meiner Krankheit bringe ich ihnen Geld ein

Ich wollte nicht für den Rest meines Lebens nur Schrauben sortieren und Mensch ärgere Dich nicht spielen. Ich wollte für mich selbst sorgen, und ich habe es geschafft. Nach drei Jahren hat mich der Fahrdienst übernommen. Jetzt bin ich ein regulärer Angestellter mit 35-Stunden-Woche und lebe ausschließlich von meinem Einkommen. Fühlt sich das gut an! Gerade habe ich mir Onlinebanking eingerichtet. Wenn ich den Gehaltseingang auf meinem Konto sehe, weiß ich: Das habe ich verdient. Das gehört mir. Das kann kein Amt von mir zurückfordern.

1400 Euro netto verdiene ich aktuell. Meine Chefin könnte eine Lohnförderung erhalten, weil sie einen Menschen mit Behinderung beschäftigt. Aber ich muss den Antrag stellen und noch zögere ich. Einerseits wäre es gut, wenn dadurch mein Gehalt steigen würde. Andererseits wirkt es auf mich, als würde ich ihr mit meiner Krankheit Geld einbringen. Dabei will ich das Geld nicht mitbringen, ich will es verdienen. Ich will bezahlt werden, weil ich Leistung bringe – und zwar eine gute. Nicht weil ich eine Behinderung habe.

Wollen Sie mehr zum Thema erfahren? Dann lesen Sie gerne auch, wie unser Einkommen mit unserem Selbstwertgefühl verknüpft ist in Gehalt und Selbstwert.

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