„Sie haben nichts!“

Ärztinnen und Ärzte haben durch ihr Auftreten und ihre Kommunikation Einfluss auf den Heilungsverlauf. Dorothea Thomaßen über Placebos und Nocebos

Eine Frau ist gefesselt und trägt eine Papiertüte über dem Kopf auf dem das Wort Hirntumor steht und über ihren Körper ist ebenfalls Papier mit Wörtern, wie zum Beispiel Tod
Unbedachtes Herumwerfen von Diagnosen kann dem Patienten Angst machen. Es braucht einen sensiblen ärztlichen Umgang mit Sprache. © Frommann/laif

Frau Dr. Thomaßen, Sie gehen davon aus, dass Menschen in bestimmten medizinischen Situationen besonders beeinflussbar sind. Was meinen Sie damit?

Selbst im Alltag kann das Reden über ein medizinisches Thema Menschen körperlich beeinflussen. Vor knapp dreißig Jahren waren Läuseausbrüche in Schulen ziemlich neu. Als ich damals in einer Kinderbetreuungsstätte einen Vortrag hielt, wie man Läuse erkennt und behandelt, fingen immer mehr Zuhörer an, sich zu kratzen. Als ich wenig später mit meinen entlausten…

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und behandelt, fingen immer mehr Zuhörer an, sich zu kratzen. Als ich wenig später mit meinen entlausten Kindern meine Mutter besuchte, hatte sie am nächsten Tag am ganzen Körper einen Hautausschlag. So etwas nennt man einen Noceboeffekt.

Was ist ein Nocebo?

Sie kennen vermutlich den aus dem Lateinischen stammenden Begriff Placebo„ich werde gefallen“. Er wird üblicherweise auf Medikamente angewandt, die einem Patienten helfen, obwohl sie pharmazeutisch unwirksam sind. Doch inzwischen ist erwiesen, dass sogar effektive Medikamente bessere Erfolge zeigen, wenn das zu erwartende Resultat angekündigt wird. Mit anderen Worten: Der Placeboeffekt ist grundsätzlich bei jedem Medikament hervorrufbar. Von einem Noceboeffekt – nocebo: „ich werde schaden“ – spricht man, wenn etwas aufgrund einer negativen Erwartung eine negative Wirkung hat. Studien zu Nocebophänomenen in der Medizin haben gezeigt, dass solche negativen Effekte im klinischen Alltag häufig vorkommen.

Placebo- und Noceboeffekte werden oft allein dem Patienten und seiner Vorstellungskraft zugeschrieben. Das aber stimmt nicht. Ärzte und Ärztinnen können durch ihr Auftreten, ihre Wortwahl, ja sogar durch Ansichten und Werte, die nicht verbal geäußert werden, einen starken Einfluss darauf ausüben, welche Bilder und Vorstellungen in ihren Patienten und Patientinnen entstehen. Mehr noch: Das ärztliche Verhalten kann sogar den weiteren Verlauf der Krankheit beeinflussen.

Der Psychoanalytiker Michael Balint vertrat die Auffassung, dass eine Ärztin nicht nur durch die medizinischen Verfahren heilt, die sie anwendet, sondern dass auch die Vorstellungen der Patientin stark auf deren Genesung einwirken. Daraus folgt zweierlei: Zum einen ist es günstig, wenn die Patientin an die Ärztin und die angewandten Methoden glaubt. Zum anderen, so Balint weiter, müsse eine Ärztin auf die Selbstheilungskräfte ihrer Patientin vertrauen und ihr das auch deutlich zeigen. Selbstverständlich kann ein Gespräch zwischen Ärztin und Patientin auch den entgegengesetzten Effekt haben, dann werden die möglichen Selbstheilungskräfte nicht aktiviert, im schlimmsten Fall sogar behindert.

Wie zeigt sich diese Beeinflussbarkeit?

Balints Überlegungen gelten immer, auch für Routinegespräche im ärztlichen Alltag. Eine besondere Bedeutung aber bekommen sie in Situationen, in denen Patienten durch das, was sie erleben oder gesagt bekommen, tief verunsichert sind, etwa wenn ihnen eine Krebsdiagnose mitgeteilt wird oder sie gerade einen schweren Unfall erlitten haben. Die Betroffenen sind sich der Gefahr für ihr Leben bewusst und dabei akut überfordert, denn sie haben kein Vorwissen und auch keine Zeit, um die Hilfsangebote, Ratschläge oder Empfehlungen einer kritischen Prüfung zu unterziehen. So entsteht ein starkes Bedürfnis nach äußerer Hilfe und Stabilisierung, sie werden für alle Informationen, die sie hören, besonders empfänglich. Daher kann ausnahmslos alles, was jetzt zur Patientin gesagt wird, sie in ihren Vorstellungen sehr stark lenken. Das gibt den Äußerungen von Ärztinnen und Ärzten oder anderen Anwesenden eine große Macht, auch beiläufig Gesprochenes kann eine weitreichende Bedeutung annehmen.

Eine Kollegin berichtete, dass einer ihrer Patienten nach einer großen Operation überzeugt war, während des Eingriffs einen Herzstillstand gehabt zu haben. Später stellte sich heraus, dass er auf der Intensivstation mitangehört hatte, wie Ärzte dem Patienten im Nachbarbett sagten, dieser habe während seiner Operation einen Herzstillstand gehabt. Der Patient meiner Kollegin bezog das Gespräch, das er in der Aufwachphase zufällig mitgehört hatte, auf sich; es war schwierig, ihn davon zu überzeugen, dass sein Eingriff tatsächlich routinemäßig verlaufen war. Er war eher gewillt, an eine Vertuschung zu glauben.

Weil solche Botschaften in einem hochemotionalen Zustand für wichtig und wahr gehalten werden, brennen sie sich ein. Das bezeichnen Hypnotherapeuten als hypnotische Wirkung. Ist das im falschen Moment gehörte falsche Wort erst einmal zur Gewissheit geworden, prallen oft selbst gut begründete Informationen ab, die zu einem späteren Zeitpunkt gegeben werden und die falsche Informationen korrigieren sollen. Die Betreffenden werden so suggestibel, dass hypnotische Effekte entstehen und das Gesprochene den weiteren Verlauf entscheidend beeinflussen oder sogar prägen kann. Diese Phänomene treten spontan auf und sind den meisten behandelnden Ärzten und Patienten nicht bewusst.

Wie kommt diese starke Beeinflussbarkeit, Sie nennen es Suggestibilität zustande?

Die Kommunikation zwischen einer Medizinerin und einer Patientin ist oft sowohl im Hinblick auf die Kenntnis der Materie als auch die seelische Verfasstheit der Beteiligten asymmetrisch: Die Ärztin versieht ihre Arbeit, indem sie in einem Gespräch „objektive“ Erkenntnisse und Testergebnisse vermitteln möchte. Die Patientin hingegen erlebt sich in ihrem Körper unmittelbar und subjektiv. Doch je weiter der diagnostische Prozess voranschreitet, umso nebensächlicher wird es, wie sich die Untersuchte in ihrem Körper fühlt und wie sie sich selbst erlebt: Das wird für ihr Tun und für das, was mit ihr getan wird, zunehmend irrelevant. Entscheidend werden von der Medizinwissenschaft definierte objektivierbare Parameter.

Wenn jemand sich gesund fühlt und bei einer Routineuntersuchung überraschend mit einer schwerwiegenden Diagnose konfrontiert wird, ist es für einen Arzt meist relativ einfach, diese Person anhand solch objektivierbarer Ergebnisse zu überzeugen, dass sie krank ist. Wer sich gesund fühlt und in einem Arzt-Patient-Gespräch eine solche Diagnose bekommt, kann in einen Ausnahmezustand geraten, in dem dieser Mensch sehr beeinflussbar, sehr suggestibel ist. Dieser Zustand ermöglicht dem Gegenüber einen großen, auch seelischen Einfluss.

Interessanterweise ist es meist erheblich schwieriger, jemanden, der sich sehr krank fühlt, davon zu überzeugen, dass alle seine Untersuchungsparameter im Normbereich sind und er daher kerngesund ist. Jemand, der sich schon länger krank fühlt, reagiert auf solche medizinischen Resultate eher mit Skepsis, oft sogar mit einer reduzierten Suggestibilität. Anders gesagt: Er macht zu.

Wie erklärt sich das?

Wer sich schlecht fühlt, interessiert sich nicht für abstrakte Befunde, sondern seine konkrete Befindlichkeit, und die wird von dem Wissen, dass alle gemessenen Werte im Normbereich liegen, zumindest zunächst überhaupt nicht berührt.

Bei einer unerwarteten schweren Diagnose hingegen geraten vielen Menschen in eine direkt einsetzende Krise. Ihr normales Körperempfinden wird infrage gestellt. Sie glaubten, gesund zu sein, und hatten sich getäuscht.

Nun hat normales Körperempfinden eine interessante Eigenschaft. Es ist, solange wir gesund sind, unterbewusst und wird oft als selbstverständlich betrachtet. Daher wird Gesundsein häufig nur als Fehlen von Missempfindungen beschrieben, was sich auch in der Wortwahl zeigt: angstfrei, schmerzfrei oder entspannt, entkrampft, also ohne Spannung oder Krampf, von alldem gelöst. Hierin sind Ärztinnen und Patientinnen völlig gleich. Normales fühlt sich neutral an, daher können die meisten zunächst nur schwer beschreiben, was da ist, wenn alles normal ist.

Doch all das, was im Körper weiterhin „normal“ ist, gerät bei gravierenden medizinischen Befunden leicht in den Hintergrund, außerdem reagieren wir bei Angst und Stress auch körperlich. Unter Stress sind Herzrasen, Hitze- oder Kältegefühle, Anspannung bis zum Schmerz selbst bei vollkommen gesunden Menschen nicht ungewöhnlich. Dadurch, dass das eigene Bezugssystem irrelevant wird, öffnen sie sich besonders für das, was sie gesagt bekommen.

Das verstehe ich nicht ganz. Würden Sie das vielleicht noch mal erläutern?

Manchmal zeigt ein konkreter Fall am besten, wie etwas schiefläuft: Ein Mann wird zur Abklärung eines Blutbefundes ins Krankenhaus geschickt. Der Verdacht auf einen bestimmten bösartigen Tumor soll durch eine sehr aufwendige Röntgendiagnostik abgeklärt werden. Der Arzt hatte sein Vorgehen gut begründet, der Patient war mit der Untersuchung einverstanden.

Im Krankenhaus werden zahlreiche Röntgenuntersuchungen gemacht, der Patient muss nach den Anweisungen der Röntgenassistentin bestimmte Positionen einnehmen und für die Dauer der Aufnahme darin verharren. Er ist während der sehr aufwendigen und zeitintensiven Röntgendiagnostik besorgt und achtet aufmerksam auf alle Reaktionen der Röntgenassistentin. Äußerlich ruhig, innerlich hoch beunruhigt entsteht eine Form der Gehorsamkeit, die hellhörig macht. Natürlich möchte er wissen, wie es um ihn steht.

Während der Untersuchungen platzt mehrfach eine Kollegin der Röntgenassistentin herein und stört so sehr, dass die Untersuchende ihre Kollegin aufgebracht anfährt: „Siehst du nicht, dass ich hier ein Myelom auf dem Tisch habe?“ Sie spricht, als sei der Tumor bereits eine Tatsache, obwohl sie nur die Aufnahmen macht, die den Verdacht bestätigen oder entkräften sollen.

Die Röntgenassistentin hat den Namen des Tumors nur benutzt, um ihrer Kollegin mitzuteilen, dass es sich um diese ihnen beiden vertraute und langwierige Diagnostik handelt. Doch als der Patient das Wort „Myelom“ hört, ist er sofort überzeugt, tatsächlich einen bösartigen Tumor zu haben. Die Untersuchungen bestätigen den Verdacht nicht, doch obwohl alle behandelnden Ärzte ihm das versichern und er den schriftlichen Befund gelesen hat, bleibt der Patient tagelang überzeugt, ein Myelom zu haben.

Wann tritt dieser hochsuggestible Zustand noch auf?

Jeder existenzielle Ausnahmezustand – sei es eine akut bedrohliche Situation wie ein Autounfall oder ein Herzinfarkt, sei es ein Arzt-Patientin-Gespräch mit Informationen, die das weitere Leben der Patientin möglicherweise radikal verändern – kann dazu führen, dass ein Mensch psychisch völlig neben sich steht. Er kommt in einen natürlichen hochsuggestiblen Trancezustand, in dem auch eine vermeintlich normale Kommunikation hypnotisch wirken kann. Was in einer solchen Situation gesagt wird, kann sogar dann weiterwirken, wenn sich die Betreffende an das Gesagte gar nicht mehr erinnern kann. Es treten die erwähnten Nocebo- und Placebowirkungen auf, die einen Menschen nachhaltig verändern können.

Wie beeinflusst dies die Kommunikation?

In dieser Situation entstehen eine Hilfsbedürftigkeit und eine unkritische Offenheit, die die Betroffenen sehr verletzlich machen. Beeinflussende Botschaften in einer solchen Situation müssen nicht von Ärzten oder Pflegenden stammen. Auch Sätze von Außenstehenden können sich einbrennen und als Nocebo oder Placebo wirken, selbst wenn deren Bemerkungen nichts mit dem oder der Betroffenen zu tun hatten. Ein Beispiel sind unbedacht geplapperte Kommentare von Schaulustigen zu Unfallschuld oder Überlebenschancen bei einem Autounfall.

Welche Besonderheiten gibt es noch?

Vieles, was medizinische Angestellte im Krankenhausalltag zueinander sagen, gleicht einem Code unter Eingeweihten. Es sind gleichsam Kürzel, die für eine schnelle und effiziente Kommunikation nötig sind, sie setzen medizinische Vorkenntnisse voraus, die Patienten nicht haben. Und so hören sie in dem scheinbar umgangssprachlichen Satz: „Hol mir das aus dem Giftschrank“, mit dem ein schmerzstillendes Opiat erbeten wird, vielleicht nur „Gift“ und assoziieren Gefahr.

In manchen Krankenhäusern wird der Haltegriff über dem Patientenbett „Galgen“ genannt und der „Schockraum“ ist der Raum, wo Menschen in lebensbedrohlichen Zuständen erstversorgt und stabilisiert werden, um ein Herz-Kreislauf-Versagen, den sogenannten medizinischen Schock zu verhindern. Doch alltagssprachlich versteht man unter Schock nur Negatives: Angst, Stress, Entsetzen.

Sie sagen, dass Verneinungen nicht verstanden werden.

Um beim obigen Röntgenbeispiel zu bleiben: Sie können einem Patienten eindeutige Anweisungen geben: „Bitte jetzt stillstehen. Nun tief einatmen und dann Luft anhalten.“ Oder Sie können ihm sagen, was er auf keinen Fall tun sollte: „Bitte jetzt nicht bewegen, den nächsten Atemzug nicht so flach atmen, nun nicht mehr atmen, die Luft bloß nicht rauslassen.“ Was, glauben Sie, ist wirksamer? Meine Erfahrungen sind sehr eindeutig. Patienten verhalten sich häufiger so, wie ich es für meine Tätigkeiten brauche, wenn ich ihnen sage, worauf es mir ankommt.

Gerade in neuen Situationen werden Wörter häufig wortwörtlich verstanden, wohingegen Verneinungen ausgeblendet werden. Wenn alle Informationen neu sind, richtet sich die Aufmerksamkeit auf sinntragende Wörter und Wendungen, ein „nicht“ wird leicht ausgeblendet. Tatsächlich hat die medizinische Sprache das grundsätzliche Problem, dass Befunde nicht definieren, was gesund ist, sondern was als pathologisch gilt – und das dann als positiv bezeichnet wird. Man kann generell sagen, dass die Medizin positiv nennt – etwa HIV-positiv –, was für den Patienten negativ ist. Damit nicht genug: Die beste aller diagnostischen Aussagen lautet „ohne pathologischen Befund“. Was keineswegs besagt, dass jemand gesund ist, sondern nur dass – bisher – nichts Krankhaftes gefunden werden konnte.

Ich arbeite häufig mit an Krebs erkrankten Menschen. Nach einer gut gelaufenen Nachsorgeuntersuchung berichten sie oft freudestrahlend: „Man hat nichts gefunden!“ Wenn ich frage: „Hat man Sie denn nicht untersucht?“, schauen sie mich an, als sei ich ein bisschen verrückt. Aber sie sind auch verunsichert und sagen: „Natürlich. Die ganze Latte, und da war nichts!“ Wenn ich nachhake: „Und da war nichts? Keine Lunge, kein Herz, keine Leber, kein Knochen?“, lachen sie in der Regel und sagen: „Doch, doch, alles gesund.“ Wenn ich sie bitte, über den Unterschied zwischen „Sie haben nichts!“ und „Sieht alles so weit gesund/normal/gut aus!“ nachzudenken, sagen sie: „Bei gesund erinnere ich mich an alles, was jetzt gut ist, bei nichts denke ich an Metastasen…, obwohl ich keine habe.“

Als ich das mit einer Kollegin besprach, meinte sie stirnrunzelnd: „Ich kann doch niemandem sagen, dass er gesund ist. Es kann immer etwas sein, dass kann ich nicht wissen. Ich kann höchstens sagen, dass er keinen Krebs hat.“ Ich fragte sie, woher sie diese Gewissheit nehme, da sich in unserem Körper ständig Zellen teilen und in jedem Moment eine Zelle bösartig entarten könne. Warum darf man einem Menschen nicht sagen: „Alles, was ich sehe, sieht gesund aus“? Tatsächlich haben viele in der Medizin Angst vor der Hoffnung der Patientinnen und Patienten, denn sollte sie enttäuscht werden, könnte das, so fürchten sie, ihnen zur Last gelegt werden.

Was folgt aus all dem für die medizinische Kommunikation?

Erfahrene Ärzte und Pflegepersonen kennen die Situationen, die ihnen im Berufsalltag begegnen, und können sich darauf sprachlich vorbereiten; wenn sie wissen, dass in diesem medizinischen Alltag natürliche Trancephänomene auftreten, können sie lernen, sie zu nutzen.

Helfende sollten sich daher auf Akutsituationen nicht nur mit einem medizinischen, sondern auch einem sprachlichen Notfallkoffer vorbereiten. Selbstverständlich können Wörter und Sätze medizinische Interventionen nicht ersetzen. Aber zahllose Beispiele aus der Praxis zeigen, dass alles, was in einer Notsituation zu einer Hilfsbedürftigen gesagt wird, deren Befinden erheblich beeinflussen kann. Daher erfordern Krisen und Notfälle eine große sprachliche Sorgfalt. Menschen in Notsituationen müssen unbedingt vor Äußerungen von Schaulustigen abgeschirmt und geschützt werden; Hilfskräfte müssen konsequent darauf achten, dass ihre Äußerungen seelisch stabilisierend sind.

Dazu gehört vor allem, dass sie ihr eigenes medizinisches Handeln in einer einfachen, verständlichen Sprache positiv beschreiben. Das beginnt bei der Erstversorgung eines Unfallverletzten mit so einfachen Sätzen wie: „Ich bin Ihr Arzt und wir tun jetzt alles, um Sie zu stabilisieren.“ Es ist hilfreich, Handlungen zu erklären und die Wirkung zu prognostizieren: „Über diesen Zugang kommen die Medikamente sofort in Ihren Kreislauf und können dort schnell wirken.“ Oder: „Dieses Medikament nimmt Ihnen die Schmerzen. Es wird Ihnen gleich besser gehen und Sie werden sich wohler fühlen. Das verbessert die Durchblutung Ihres Herzens. So stärke ich Ihren Kreislauf. Gleich werden Sie wieder mehr Luft bekommen und freier atmen.“

Medizinische Standardsätze wie „Sie haben nichts. Alles ist ohne pathologischen Befund“ haben im sprachlichen Notfallkoffer keinen Platz, stattdessen muss das Gesunde direkt und in einfachen Sätzen wie „Alles sieht so weit gesund aus“ benannt werden. Auch Wortbestandteile wie un-, ent-, -los, oder -frei sollten vermieden werden, denn entkrampfen, unbeschwert, schmerzlos oder angstfrei lenken die Aufmerksamkeit auf Krampf, Schwere, Schmerz und Angst. Begriffe wie weich, locker, gelöst und erträglich haben sicher eine andere Wirkung.

Welche Vorteile hat dieses Vorgehen?

Es stabilisiert Patienten nicht nur psychisch, sondern auch körperlich. Mit dem sprachlichen Notfallkoffer kann man dem Patienten zu einem Zustand größerer Ruhe und Zuversicht verhelfen. Das gilt für akute Notfallsituationen ebenso wie für Operationen oder aufwendige Untersuchungen, die im medizinischen Alltag Routine, für den Patienten aber durchaus bedrohlich sind. So zeigen Studien, dass bei einer solchen positiv-suggestiven Kommunikation Untersuchungen seltener abgebrochen werden, der Medikamentenverbrauch sinkt und Patienten schneller genesen.

Hypnotherapie und Schulmedizin – haben die ein gutes Verhältnis zueinander?

Eher nicht. Ich erlebe als Hypnotherapeutin immer wieder, dass viele Schulmediziner und -medizinerinnen nicht mehr zuhören, sobald das Wort „Hypnose“ fällt. Es löst bei ihnen negative Assoziationen aus, von „Scharlatanerie“ bis „unethische Manipulation“. Und alle führen dazu, dass Studien ­ignoriert werden, wie sie der Wissenschaftliche Beirat Psychotherapie schon im Jahr 2006 in seinem Gutachten zur Hypnotherapie gewürdigt hat. Diese Studien haben die Wirksamkeit der Hypnose nicht nur bei der Änderung von Gewohnheiten und Süchten, ­sondern auch bei somatischen Krankheiten nachgewiesen. Ärztinnen und Ärzte sollten den Blick dafür öffnen, dass sie in akuten Notsituationen mit spontanen Trancezuständen zu tun haben, in denen sich Suggestionen nicht vermeiden lassen. Viele unbedachte Äußerungen, mögen sie noch so gut gemeint sein, sind leider schädlich.

Dr. Dorothea Thomaßen hat Medizin, Germanistik, Linguistik und Philosophie studiert. Sie ist Fachärztin für Chirurgie und in traditioneller chinesischer Medizin und ericksonscher Hypnotherapie ausgebildet. In ihrer Praxis in Frankfurt am Main arbeitet sie mit dem Schwerpunkt Psychosomatik.

Quellen

Elvira Muffler (Hg.): Kommunikation in der Psychoonkologie. Der hypnosystemische Ansatz. Carl-Auer 2015

Michael Balint: Der Arzt, sein Patient und die Krankheit. Klett-Cotta 2019 (12. Auflage)

Winfried Häuser, Ernil Hansen, Paul Enck: Nocebophänomene in der Medizin. Bedeutung im klinischen Alltag. Deutsches Ärzteblatt, 109/26, 2012, 459–465

Winfried Häuser, Maria Hagl, Albrecht Schmierer, Ernil Hansen: Wirksamkeit, Sicherheit und Anwendungsmöglichkeiten medizinischer Hypnose. Eine systematische Übersicht von Metaanalysen. Deutsches Ärzteblatt, 113/17, 2016, 289–296

Wissenschaftlicher Beirat Psychotherapie nach § 11 PsychThG: Gutachten zur wissenschaftlichen Anerkennung der Hypnotherapie. Hypnose, 1 (1+2), 2006, 165–172

Eine Übersicht zu den eingereichten Studien zur Hypnotherapie bei Erwachsenen und bei Kindern und Jugendlichen sowie deren Bewertung findet sich auf der Homepage des WBP: https://www.wbpsychotherapie.de/fileadmin/user_upload/_old-files/downloads/pdf-Ordner/WBP/Hypno_Ueberblick.pdf

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 7/2024: Die Straße der guten Gewohnheiten