Die Zeit heilt alle Wunden, heißt es. Und tatsächlich lassen sich viele Krisen und Kränkungen im Laufe von Wochen, Monaten und Jahren verarbeiten – man verbucht sie als Erfahrung. Andere belastende Erlebnisse werden zu ständigen Begleitern, zu Altlasten, an denen man hängenbleibt oder die immer wieder so schmerzen, als wären sie gestern passiert.
Da ist beispielsweise der Personaler Mitte vierzig, der es nicht verwindet, dass er eine ersehnte Führungsposition nach kurzer Zeit wieder verlor. Seit zwei Jahren…
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der es nicht verwindet, dass er eine ersehnte Führungsposition nach kurzer Zeit wieder verlor. Seit zwei Jahren sitzt er schimpfend, grollend und verletzt auf einem unattraktiven Posten beim alten Arbeitgeber – immer mit dem Gefühl, dass man ihm übel mitgespielt hat. Oder die Lehrerin Mitte dreißig, die einem Ex-Freund hinterhertrauert, der sie wegen einer anderen verließ. Ihre Gedanken und Gefühle kreisen seit Jahren um die alte Beziehung.
Ins Bild passt auch die Architektin Ende fünfzig, die seit Kindertagen unter ihrer kalten, scharf urteilenden Mutter leidet, bis heute mit Bauchschmerzen ins Elternhaus fährt. Sie kann der Mutter, die mittlerweile eine Greisin ist, den Mangel an Zuwendung nicht verzeihen, gibt ihr die Schuld daran, dass sie sich im Leben oft allein fühlt und niemandem vertrauen kann.
In Grübelei über Vergangenes verloren
Vielleicht erinnert Sie eine der drei Schilderungen an eine Phase Ihrer eigenen Lebensgeschichte, mit der Sie schwer abschließen können. An eine Kränkung, einen Verlust, eine Enttäuschung, die in einer Art Endlosschleife mitläuft. Ungewöhnlich wäre das nicht. Denn in Vergangenes verstrickt zu sein ist zunächst ein Teil jeder Krise.
In psychologischen Diagnosemanualen wie dem DSM-5-TR geht man davon aus, dass Schmerz, Lähmung oder depressive Stimmungen etwa ein bis drei Monate nach belastenden Lebensereignissen wie Trennungen oder Arbeitsplatzverlust langsam nachlassen. Wenn dieser Zeitraum überschritten wird, untersuchen klinische Psychologinnen und Psychologen, ob eine Anpassungsstörung vorliegt – es also schwerfällt, sich an die neue, veränderte Lebenslage anzupassen, man sich in Grübelei verliert und sehr auf Verlust und Kränkung fixiert bleibt.
Eine solche leichte psychische Störung wird oft psychotherapeutisch begleitet und sollte sich innerhalb von sechs Monaten bessern. Auch über angemessene Trauerzeiträume gibt es in der klinischen Psychologie Angaben. Die Trauer um einen geliebten Menschen kann ein Jahr lang lebensbestimmend sein; wenn sie sich dann nicht nach und nach etwas löst oder sogar schlimmer wird, geht man von einer komplizierte Trauerreaktion aus.
Unsere Entscheidung, wie und wann wir uns weiterentwicklen
Wer sich nun selbst fragt, ob es an der Zeit ist, mit Altlasten abzuschließen, ist mit dem Abzählen von Monaten im Kalender allein allerdings nicht gut beraten. Passender wäre, sich zu fragen, ob die zurückliegenden Belastungen, Enttäuschungen oder Verluste dazu führen, dass man nur noch in der Vergangenheit festhängt, in der Gegenwart antriebslos ist und auch keinen Blick in die Zukunft mehr wagt. Falls das auf Sie zutrifft, kann es hilfreich sein, sich noch einmal bewusst damit auseinanderzusetzen, welchen Stellenwert die zurückliegenden Ereignisse und Schmerzen zukünftig in Ihrem Leben einnehmen sollen. Und wie man sie emotional, mental und praktisch verarbeitet.
Stopp, das klingt zu einfach, werden Sie jetzt vielleicht sagen: Denn natürlich stellt sich die Frage, ob es überhaupt möglich ist, dem Schatten der Vergangenheit zu entkommen. In Bezug auf die Kindheit kann man sagen: Es stimmt, dass sie prägend ist. Wer in frühen Jahren Vernachlässigung, emotionalen Missbrauch oder den Verlust eines Elternteils erlebt hat, ist später anfälliger für psychische Erkrankungen.
Das hat erst jüngst wieder eine Metastudie belegt, die unter anderem von Michael T. Mckay, Psychologe an der University of Liverpool, durchgeführt wurde. Aber trotz dieser und anderer Studien mit ähnlichen Ergebnissen sagt die Biografie der Kindheit nicht zwingend die Entwicklungen im Erwachsenenleben voraus. Im Gegenteil: Wir können trotz früher Belastungen ein zufriedenes Leben führen. Wir sind nicht das Schlechte, das uns passiert ist, wir haben Möglichkeiten, selbst mitzugestalten, und wir können uns weiterentwickeln.
Eine aktuelle Studie, veröffentlicht in der Fachzeitschrift Trauma, Violence, & Abuse legt beispielsweise nah, dass der Einfluss früher Belastungen sich relativiert, wenn Menschen auf dem Weg ins Erwachsenwerden – besonders in der Phase zwischen 18 und 35 Jahren – Zuversicht und Vertrauen zu sich selbst entwickeln. Sie können sich dann auf andere und ermutigende Beziehungserfahrungen einlassen. Der Phase zwischen Jugend und dem Erwachsensein – sie wird heute oft als emerging adulthood bezeichnet – scheint also bei der Entwicklung von persönlicher Stärke und Resilienz eine besondere Bedeutung zuzukommen.
"Die Kindheit ist nicht mehr das, was sie mal war."
Aber auch im späteren Erwachsenenalter vergrößern wir den Abstand zur Kindheitsbiografie noch unzählige Male dadurch, dass wir ein selbstbestimmtes Leben mit eigenen Werten und Prioritäten führen oder in der Rückschau eine neue Sicht auf alte Familienkonstellationen gewinnen. Der Mediziner und Hypnotherapeut Gunther Schmidt fasst das in folgendem Satz zusammen: „Die Kindheit ist auch nicht mehr das, was sie mal war.“
Auch im Erwachsenenleben erfahrene Verluste, Kränkungen, Trennungen können wir wenigstens zu einem Teil befrieden. Dabei spielt die Wahl der Bewältigungsstrategien eine entscheidende Rolle. In dem Fachbuch Kritische Lebensereignisse und Lebenskrisen erklärt die Psychologin Sigrun-Heide Filipp, wie wichtig es ist, sich von belastenden Lebensthemen – zum Beispiel einer ungewollten Kinderlosigkeit – bewusst zu verabschieden und schmerzhafte Gefühle immer einmal wieder zu durchleben.
In den letzten Jahren betonen einige Psychologinnen und Psychologen wie George A. Bonanno von der Columbia University, dass es bei dem Verarbeiten von belastenden Lebensereignissen nicht nur die eine, stets richtige Bewältigungsstrategie gebe. Vielmehr komme es darauf an, flexibel zu sein und je nach Situation und Phase unterschiedlich reagieren zu können, passende Bewältigungsstrategien wählen zu können. So hält es auch Bonanno für ausgesprochen sinnvoll, sich Zeit für die Auseinandersetzung mit schmerzhaften Emotionen zu nehmen.
Aber es hilft nicht, sich an seinem Schmerz festzubeißen. Um ein Gleichgewicht zu finden, passt in anderen Situationen möglicherweise besser, andere Menschen aktiv um Unterstützung zu bitten oder einfach nur Zerstreuung zu suchen und sich abzulenken. Oder man wagt einen ersten scheuen Blick in die Zukunft, sucht neue Anregungen und macht Pläne. Letztlich geht es darum, im Umgang mit Krisen und Kränkungen nicht nur in der Vergangenheit zu stecken. Und nicht zu erstarren.
In der kindlichen Ohnmacht steckengeblieben
Warum es so wichtig ist, flexibel handeln zu können, wird auch deutlich, wenn man einen Blick auf die psychologischen Gründe wirft, warum Menschen lange an Krisen festhalten. „Oft ist das ein Hinweis darauf, dass man mit Schutzmechanismen reagiert, die aus der Kindheit und Jugend stammen“, sagt Psychotherapeutin Gitta Jacob, Verhaltenstherapeutin und Autorin.
Ganz gleich ob jemand in einer Krise eher im Kampfmodus, in Fluchttendenzen oder in kindlicher Ohnmacht steckenbleibt, all diese Strategien zeichnen sich dadurch aus, dass sie nicht bewusst gewählt, sondern starre Reaktionsmuster sind, die einer selbstbestimmten Verarbeitung der Situation im Weg stehen. Wenn etwa der gekränkte Personaler jahrelang in der Firma bleibt, von der er sich schlecht behandelt fühlt, gelingt laut Gitta Jacob eine reife Reaktionsweise nicht, die kindlichen Mechanismen – Schimpfen, Grollen, Ohnmacht – sind so stark, dass sie über Monate oder Jahre die Führung übernehmen und den Betroffenen immer stärker ins Abseits manövrieren. Erwachsenere Lösungswege – zum Beispiel Unklarheiten zu besprechen oder sich schlicht nach einem neuen Job umzusehen – liegen dann in scheinbar unerreichbarer Ferne.
Von außen betrachtet erscheint es offensichtlich: Vergangenes kann man leichter abschließen, wenn man kindliche Reaktionsmuster erkennt, ablegt und durch eigenständigeres, flexibel wählbares Verhalten ersetzt. Doch sobald man selbst Situationen erlebt, die emotional verunsichern oder verletzen, spürt man, wie schwer das sein kann. In der Verhaltenstherapie ist es laut Gitta Jacob ein wichtiger Schritt, alte Schutzmuster zu erkennen und zu hinterfragen.
„Die Reflexion sollte allerdings nur ein Zwischenschritt sein“, erklärt die Psychotherapeutin. Wenn Menschen sich ohnehin schon in vergangene Belastungen verbissen haben, sei es wichtig, den Blick in Gegenwart und Zukunft zu stärken und eine aktive Neuausrichtung anzustreben. Andernfalls blieben Betroffene leicht in der Echokammer der Vergangenheit gefangen.
Vier Wege, die Fixierung zu lockern
Um Frieden mit der Vergangenheit zu schließen, braucht es also Reflexion und Rückschau ebenso wie neue Erfahrungen und emotionale Neuorientierung. Diese Hin-und-her-Bewegung zwischen den drei Zeitebenen – dem Vergangenen, der Gegenwart und dem Zukünftigen – ist zentral. Wenn man sich mal nach vorne bewegt, mal zurückblickt und es dann wieder schafft, wach im Augenblick zu leben, wird die Fixierung auf Vergangenes sich lockern, sich leichter lösen.
Dieses Lockern lässt sich mit unterschiedlichen Ansätzen und Techniken unterstützen. Hier stellen wir Ihnen vier vor. Wenn Sie gerade in einer alten Geschichte feststecken, schauen Sie einmal, welcher der Wege für Sie zu welchem Zeitpunkt passt.
1. Ein neuer Blick auf die Vergangenheit
Ganz gleich ob es um eine Belastung aus der Kindheit oder eine Krise aus den letzten Jahren geht – ein erster Schritt, um Frieden zu schließen, ist häufig, die vergangene Geschichte anders zu betrachten als bisher, die Perspektive darauf zu erweitern. „Dass wir schmerzhafte Ereignisse zunächst immer wieder auf die gleiche Weise durchdenken, hat einen Grund. Menschen erhoffen sich, Hinweise zu finden, wie sie es beim nächsten Mal anders machen können, was sie daraus lernen können. Das finde ich verständlich und auch wichtig“, sagt die Psychotherapeutin Carmen C. Unterholzer von dem Institut für Systemische Therapie in Wien.
Aber wenn man zu lange in einem Grübelmodus steckenbleibe und daran leide, könne es passend sein, sich dem Thema anders als bislang zu nähern – und so möglicherweise in der Erinnerung an Vergangenes neue Aspekte zu entdecken. Für eine Perspektiverweiterung nutzt Unterholzer oft Schreibübungen. Sie schildert die Arbeit mit einer jungen Frau, die ein schwieriges Verhältnis zu ihrer Ursprungsfamilie hatte, denn ihr Vater hatte sich selbst getötet. Die Frau litt, war wütend, dass ihr Vater ihr so viel Belastendes zugemutet hatte, gab ihm die Schuld daran, dass auch sie selbst häufig „düster und schwer“ sei.
In der Schreibübung, die Unterholzer anregte, ging es dann darum, sich gezielt an Momente mit dem Vater zu erinnern, die stärkend und schützend gewesen waren. Beim Schreiben erinnerte sich die Frau, dass der Vater, ein Musiker, ihr beigebracht hatte, Wiener Walzer zu tanzen. Dieses Detail aus ihrer Biografie war vorher verschüttet gewesen. Sie schrieb die Kindheitsszene rund ums Tanzen detailliert auf und konnte nun besser spüren, dass der Vater ihr neben Belastendem auch Leichtes und Kreatives mitgegeben hatte. Der Fokus auf solche stärkenden Erinnerungen hilft, die Sicht aufs Alte zu verändern und in ein emotionales Gleichgewicht zu kommen.
Die Psychotherapeutin Gitta Jacob sieht das ähnlich. In ihrem neuen Buch Leben geht nur vorwärts plädiert auch sie dafür, sich in der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit – ob in Psychotherapien oder allein – nicht nur mit Schmerzhaftem zu beschäftigen, sondern gezielt nach freudvollen, stärkenden Szenen zu schauen, denn sie heben die Stimmung, regen weitere positive Erinnerungen an. In der Depressionstherapie wird diese Technik eingesetzt, um Stimmungen aufzuhellen, zeigt eine Studie der Psychotherapieforscherin Kimberly Arditte Hall, veröffentlicht in Cognitive Behaviour Therapy.
Erlauben Sie sich also, Ihre Erinnerungen mitzusteuern und sie auch um stärkende, heitere Bilder zu erweitern, zum Beispiel im Kontakt mit den eigenen Eltern. Nach dem Motto: Wir können unsere Vergangenheit nicht ändern – aber den Blick auf das Vergangene schon. Wenn Sie hier auch Stimmiges oder Positives sichtbar machen können, kehrt oft etwas mehr innere Ruhe ein.
2. Schluss mit dem Kampf
Natürlich kann man zurückliegende Ereignisse nicht beliebig umdeuten – vor allem wenn es um Todesfälle, Krankheiten und andere tiefe Wunden geht. Steht man vor den Trümmern einer Beziehung wie die Frau, deren große Liebe sie verließ, ist die Suche nach den positiven Aspekten zunächst unpassend. Eher stellt sich die Frage, welchen Platz man den schmerzhaften Emotionen im Leben geben kann.
In seinem Buch When Life Hits Hard beschreibt der australische Psychotherapeut Russ Harris, dass es vor allem in tiefen Krisen hilft, nicht gegen den Schmerz anzukämpfen, zu schimpfen oder alle Gefühle zu unterdrücken. „Wir sind nicht gut darin, den Verlust anzunehmen“, schreibt Harris und erklärt, dass die Tendenz zum Ausweichen zwar menschlich sei, aber im Ernstfall nicht helfe. Gerade wenn man am liebsten wegschauen würde, lohnt es, sich liebevoll hinzuwenden. Als ein Vertreter der Akzeptanz- und Commitmenttherapie (ACT), in der es unter anderem darum geht, alle aufkommenden Emotionen und seelischen Schmerzen liebevoll anzunehmen, nutzt Harris zahlreiche evaluierte Methoden, mit denen diese Art der Hinwendung und Verarbeitung gelingt. Auch hier geht es darum, nicht hart, starr und selbstverurteilend zu reagieren – sondern weich, flexibel und offen.
Um den Prozess greifbar zu machen, beschreibt Harris die Arbeit mit einem Ehepaar, dessen Baby starb. Während die Frau sich bei Freundinnen Hilfe holte, konnte der Mann, ein Polizist, nur noch erstarren. Er beschimpfte sich selbst, trank viel, erwartete von sich, tapfer zu sein, und begleitete das mit Sätzen wie „Hör auf zu jammern“. In der Therapie versuchte Harris, dem trauernden Vater nahezubringen, mit seinem Schmerz freundlicher und mitfühlender umzugehen – denn das helfe, den Verlust nach und nach zu verarbeiten. Um zu verdeutlichen, wie das gelingen könnte, nutzte Harris das Bild einer gefährlichen Reise zweier Freunde, die durch einen unwegsamen Dschungel müssen. Harris fragte sein Gegenüber, ob er sich für dieses heikle Unternehmen einen Mitreisenden wünsche, der ihn beschimpfe, oder einen, der ihn unterstütze. Der trauernde Polizist wählte den unterstützenden Begleiter. Im Therapieprozess versuchte er daraufhin, sich selbst dieser Freund zu sein – sich auf der Reise durch die Trauer zugewandter zu behandeln.
Auch die Frau, die jahrelang ihrem Ex-Freund nachtrauerte, könnte mit mehr Selbstmitgefühl und Sanftheit einen Schritt aus ihrem Problem heraustreten. Denn wenn man schmerzhafte Gefühle durchlebt und ihnen freundlich begegnet, verändern sie sich in der Regel. Sie halten einen nicht mehr so stark gefangen. Warum das so ist? Laut der Akzeptanz- und Commitmenttherapie ist ein entscheidender Punkt, dass es Menschen sehr viel Energie kostet, unerwünschte Gefühle zu kontrollieren. Man kämpft, um den Schmerz nicht zu fühlen, und vertieft damit das Leid. Wenn man dem Gefühl nachgibt, wird der emotionale Prozess durchlebt, man leistet Trauerarbeit. Um den Mechanismus greifbar zu machen, nutzen Therapeuten wie Russ Harris in der Praxis oft das Bild von Treibsand. Wenn man darin feststeckt, aber ruhig bleibt und den Sturm vorbeiziehen lässt, verhält man sich passend. Wenn man zappelt und sich gegen den Sturm wehrt, versinkt man im Sand.
Falls Sie selbst mit einem Verlust oder einer Enttäuschung kämpfen, die Sie immer wieder einholt, könnten Sie versuchen, die schmerzhaften Gefühle vorsichtig zuzulassen. Es reicht, die Emotionen für kurze Zeit zu spüren, ohne dagegen anzukämpfen oder wegzulaufen. So kann man ein kleines Puzzleteil der Vergangenheit verarbeiten. Und sich ganz langsam vorantasten.
3. Neugierig neue Wege gehen
Auch Vertreter der Akzeptanz- und Commitmenttherapie betonen allerdings, dass ein permanenter Fokus auf Schmerz und Verlust nicht weiterhilft. Es braucht Auswege – hin zu den Bereichen im Leben, in denen man handlungsfähig ist. Als Orientierungshilfe schlägt Psychotherapeut Russ Harris vor, die Frage „Warum ich?“ gelegentlich gegen die Frage „Was kann ich tun?“ einzutauschen.
Wenn Verluste und Verletzungen frisch oder tief sind, könnte es eine kleine selbstfürsorgliche Geste sein, ein Gespräch mit Freunden oder die Ablenkung durch einen Film zu suchen. Wenn es um Themen geht, mit denen man schon lange hadert, kann es dagegen passen, beherzt auf neue Erfahrungen zuzugehen und festgefahrene Denk-, Fühl- und Handlungsgewohnheiten wieder in Bewegung zu bringen.
„Ich bin ein großer Fan des Ratschlags Einfach mal machen“, sagt Psychotherapeutin Gitta Jacob. Wenn man anfange, den Fokus auf das Vergangene für Stunden oder Tage aufzugeben und sich ins Neue zu begeben, schaffe man Abstand, gewinne neue und positive Erinnerungen und öffne sich für andere, oft stärkende Gefühle. „So spürt man, dass es möglich ist, über Grenzen zu gehen, die Komfortzone zu verlassen. Dieser Mut wirkt nach.“
Sich in eine Kletterhalle zu wagen, einen Gruppentrip in die Natur zu unternehmen, einen Vortrag zu halten – das alles sind mögliche neuen Erfahrungen. Wenn man merkt, dass man in einer neuen Gruppe zurechtkommt oder beim Klettern eigene Ängste überwindet, werden Emotionen wie Stolz, Freude und Zufriedenheit belebt. Dass durch neue Erlebnisse und Aktivitäten positive Emotionen entstehen, die helfen, uns dauerhaft zu stabilisieren, ist Kern der broaden-and-build theory der Psychologin und Wissenschaftlerin Barbara Fredrickson. Sie ermutigt die Leserinnen ihrer Bücher dazu, selbst aktiv zu werden und nach stärkenden Erfahrungen zu suchen, ob beim Plausch mit dem Bäckereiverkäufer oder bei einem Besuch im Schwimmbad. Immer wieder weist sie auf die wirksame Kurzformel hin, dass das Erleben von positiven Emotionen uns aufblühen lässt und stärkt.
Dementsprechend könnte zum Beispiel die Frau, die ihrem ehemaligen Partner nachtrauert, durch eine Wandertour in einer Gruppe oder eine Städtereise, die sie allein unternimmt, ihre Fixierung unterbrechen und neue Erfahrungen machen, die nichts mit der Trauer um ihre verlorene Liebe zu tun haben. Der gutgemeinte Rat von Freundinnen, sich bei einer Datingplattform anzumelden, ist dagegen möglicherweise als erster Schritt kontraproduktiv – weil er das Thema Beziehung wieder in den Fokus setzt. Neue Erfahrungen, so Gitta Jacob, verändern das eigene Selbstbild und damit auch den Blick auf das Vergangene.
4. Verzeihen lernen
Und dann sind da noch Schuld- und Verantwortungsfragen. Wenn Menschen mit Teilen der Vergangenheit nicht abschließen können, haben sie diesbezüglich oft Vorwürfe und Anklagen im Gepäck. Die Architektin gibt der kalten Mutter die Schuld am Unglück, der Personaler hält „die Firma“ für ungerecht und hat dabei sicher auch ein paar Gesichter vor Augen, die verlassene Mittdreißigerin bezeichnet ihren Ex-Freund als toxisch. Die Haltung, jemandem dauerhaft böse zu sein oder ihn in die Pflicht zu nehmen, fördert die Fixierung auf das Problem. An dieser Stelle kommt die Kraft des Verzeihens ins Spiel – sie hilft, den Groll auszuhebeln, man gönnt sich stattdessen Gefühle der Großzügigkeit, des Freilassens, der Souveränität und des Friedens. Denn wer aktiv vergibt, befriedet einen inneren Konflikt, der sonst unterschwellig immer weiter Energie kostet.
Die Psychologin Friederike von Tiedemann erklärt in ihrem Buch Versöhnungsprozesse in der Paartherapie, dass sie Paare, die in ihre Praxis kommen, schon im Erstgespräch für Verzeihensprozesse gewinne und Versöhnung in Aussicht stelle. Partner, die eher wohlwollend miteinander umgehen, statt mit Groll zu reagieren, seien nicht nur bessere Eltern, sondern verbesserten auch ihre Gesundheit, könnten Anspannung, Bluthochdruck, Schlafstörungen und Rückenprobleme reduzieren. „Letztlich entscheidet die Person, welche die Verletzung noch mit sich trägt, ob sie den anderen aus der Schuld entlassen möchte oder nicht. Sie hat die Macht, der andere ist in der Ohnmacht“, sagt von Tiedemann. Sich das klarzumachen kann ein Anreiz für einen Prozess der Versöhnung sein, auch dann wenn eine Person nicht mehr erreichbar ist, man keinen Kontakt möchte oder sie nicht mehr lebt.
Der Akt des Verzeihens kann ein Ritual sein, das man für sich allein durchführt, indem man beispielsweise einen versöhnlichen Brief an die betreffende Person schreibt, den man dann aber nicht abschickt, sondern für sich behält – als Symbol fürs Loslassen der alten Geschichten. Falls Sie gern verzeihen würden, aber Ihr Groll sehr groß ist, wäre es lohnenswert, sich einmal mit den positiven Folgen des Vergebens zu beschäftigen. So sagte beispielsweise der südafrikanische Erzbischof Desmond Tutu, der sich lange für die Aufarbeitung der Verbrechen während der Apartheid eingesetzt hat, einmal: „Vergeben heißt nicht, selbstlos zu sein, es ist die beste Form von Eigeninteresse.“
Vielleicht haben Sie jetzt Anregungen bekommen, wie Sie alte Fixierungen lockern können. Eine alte Kränkung, der Schmerz nach einer Trennung oder der Groll aufs Elternhaus verschwinden vielleicht nie ganz. Doch die unterschiedlichen Strategien, mehr Distanz zu bekommen, können das Leben verändern. Frieden mit der Vergangenheit fängt da an, wo Sie mit der eigenen Lebensgeschichte in der Gegenwart sorgsam umgehen. Seien Sie sich selbst der freundliche Freund, mit dem Sie durch unwegsames Gebiet reisen können. Das genügt.
Wollen Sie mehr darüber erfahren, wie Sie vergangene Krisen aufarbeiten können? Dann lesen Sie gerne folgende Artikel aus derselben Ausgabe:
Drei Schreibübungen, um vergangene Last loszuwerden in Schreibend die Vergangenheit loslassen
Warum es in der Partnerschaft wichtig ist, Kränkungen nicht anzustauen in "Tut mir leid, dass ich nicht für dich da war"
Komplizierte Trauer
Das ist ein anderer Begriff für eine „anhaltende Trauerstörung“, bei der Menschen auch noch ein Jahr nach dem Tod eines nahestehenden Menschen oder darüber hinaus in tiefem Schmerz verharren, in der neuen Lebenssituation nicht ankommen. Im Diagnosemanual DSM-5-TR werden diese Symptome als prolonged grief disorder geführt. Wenn Trauer sehr lange anhält, kann eine psychotherapeutische Behandlung angebracht sein.
Quellen
Charles L. Burton und Georg A. Bonanno: Regulatory flexibility and its role in adaptation to aversive events throughout the lifespan, in: American Psychological Association eBooks, 71–94, 2016,
Sigrun-Heide Filipp: Kritische Lebensereignisse und Lebenskrisen: Vom Umgang mit den Schattenseiten des Lebens. Kohlhammer, Stuttgart 2018
Kimberly A. Arditte Hall u.a.: Positive memory enhancement training for individuals with major depressive disorder, in: Cognitive Behaviour Therapy, 47/ 2, 155–168, 2017
Russ Harris: When Life Hits Hard. How to Transcend Grief, Crisis, and Loss with Acceptance and Commitment Therapy, New Harbinger Publications, Oakland 2021
E. Noni Höfner: Glauben Sie ja nicht, wer Sie sind! Grundlagen und Fallbeispiele des Provokativen Stils. Carl-Auer, Heidelberg 2011
Gitta Jacob: Leben geht nur vorwärts. Wann es Zeit ist, das innere Kind in Ruhe zu lassen und durchzustarten. Beltz, Weinheim 2024
Doris Leung u. a.: Resilience of Emerging Adults after Adverse Childhood Experiences: A Qualitative Systematic review, in: Trauma, Violence & Abuse, 23/1, 163–181, 2020
Michael T. McKay u. a.: Childhood Trauma and Adult Mental Disorder: A Systematic review and Meta‐analysis of longitudinal cohort studies, in: Acta Psychiatrica Scandinavica, 143/3, 189–205, 2021
Masi Noor, Marina Cantacuzino: Vergebung ist ziemlich strange. Carl-Auer, Heidelberg 2020