Vor einiger Zeit hat mich eine Freundin ziemlich gekränkt. Nach zehn Jahren Freundschaft teilte sie mir per Mail mit, dass sie keinen Kontakt mehr mit mir haben wolle. Sie sei in einer neuen Lebensphase, habe ihren Horizont erweitert und sei über Leute wie mich hinausgewachsen. Obwohl sich der Kontakt bereits über ein oder zwei Jahre ein wenig gelockert hatte – die Freundin hatte beruflich viel im Ausland zu tun –, war ich von der Vehemenz ihrer Abgrenzung und von ihrer Wortwahl getroffen.
Ich fühlte mich…
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gewordener Pullover. In den Wochen nach dieser Mail klang die Phrase „über Leute wie dich hinausgewachsen“ immer wieder in mir nach und weckte eine ungute Gefühlsmischung aus Ohnmacht, Fassungslosigkeit, Wut und Beschämung, die dazu führte, dass ich mich am Thema noch mehr festbiss. Mein Selbstvertrauen war erschüttert. Noch nach Monaten schmerzte es mich, sobald ich an die Freundin dachte. Eine ziemlich lange Phase, finde ich aus meiner jetzigen Sicht.
„Kränkungen gehören zum Leben. Jeder erlebt gelegentlich Situationen, die ihn überraschend treffen“, sagt die Psychotherapeutin Bärbel Wardetzki, Autorin des Buches Ohrfeige für die Seele. Wie wir mit Kränkung und Zurückweisung besser umgehen können.
Die Akzeptanz der eigenen Kränkbarkeit
Wie schwer es ist, sich die simple Tatsache der eigenen Verletzbarkeit einzugestehen, zeigt eine einfache Übung: Wer den Satz „Ich bin ein kränkbarer Mensch“ laut ausspricht und auf sich wirken lässt, spürt häufig, dass schon dieses verbale Eingeständnis nicht gerade angenehm ist. Der Grund dafür liegt auf der Hand: „Nach einer seelischen Verletzung entsteht ein Konglomerat unangenehmer Empfindungen.
Man fühlt sich schutzlos, gedemütigt, wütend“, erklärt Wardetzki. Dennoch fordert die Psychotherapeutin ihre Klienten in den Sitzungen häufig dazu auf, genau diesen Satz mehrfach auszusprechen und sich so dem Gegebenen zu stellen. Auch wenn dann erst einmal heftige Gefühle von Traurigkeit oder auch Angst folgen, ist sich Wardetzki sicher, dass die generelle Akzeptanz der eigenen Kränkbarkeit ein erster heilsamer Schritt im Umgang mit seelischen Verletzungen ist.
Aber was ist eigentlich genau eine Kränkung und wie entsteht sie? Psychologen sind sich einig, dass Menschen sich immer dann im Kern getroffen fühlen, wenn sie sich in einem für sie wichtigen Wert oder in ihrem Selbstwert missachtet fühlen – und wenn sie das Gefühl haben, von anderen nicht anerkannt oder gesehen zu werden. Anders als ein Gefühl von Ärger oder Traurigkeit, das man nach einer Herabsetzung oder Zurückweisung auch entwickeln kann, gehen Kränkungen wesentlich tiefer, sind eine schwer aushaltbare Mischung mehrerer belastender Gefühle, die auch recht hartnäckig sind und nicht einfach so verfliegen.
Ein innerer Prozess
Man sollte Kränkungen immer von zwei Seiten aus betrachten: Es gibt zum einen ein äußeres Ereignis oder eine Person, die etwas tut, was die Kränkungsreaktion auslöst. Damit eine bissige Bemerkung, eine Zurückweisung oder ein belastender Schicksalsschlag aber tatsächlich als Kränkung wahrgenommen wird, ist immer auch ein innerer Prozess notwendig. Dabei spielen subjektive Bewertungen und Erwartungen eine bedeutsame Rolle. Jeder Mensch hat aus seiner biografischen Prägung heraus außerdem sogenannte wunde Punkte, die ihn besonders kränken. „Diese persönlichen Kränkungsthemen sind letztlich der Schlüssel, wenn man einen konstruktiven Umgang mit entstandenen Verletzungen finden will“, sagt Bärbel Wardetzki.
Dass seelische Verletzungen nicht kausal auf die äußeren Verhaltensweisen anderer zurückzuführen, sondern auch subjektiv sind, sieht man allein daran, dass nicht alle Menschen gleich angreifbar sind. Laut dem Psychiater und Gerichtsgutachter Reinhard Haller gibt es beispielsweise Persönlichkeitsfaktoren, die Kränkbarkeit begünstigen. Zum einen betrifft das Personen, die zum Kreis der Hochsensiblen gehören. Diese etwa 15 bis 20 Prozent der Bevölkerung reagieren empfindlicher als andere auf Reize jeglicher Art und somit auch auf Kränkungsreize.
Zum anderen sind auch Narzissten ausgesprochen kränkbar. Reinhard Haller charakterisiert sie durch die fünf E: Egozentrik, Eigensucht, Empathiemangel, Empfindlichkeit und Entwertung anderer. Diese Mischung führt dazu, dass Narzissten häufig eine Sonderbehandlung von ihren Mitmenschen erwarten und gekränkt sind, wenn sie diese nicht bekommen. Es braucht nicht viel für Menschen dieser Persönlichkeitsprägung, um sich angegriffen zu fühlen und beleidigt zu sein.
Die Stilisierung zum Unmenschen
Weil immer auch persönliche Kränkungsthemen und Persönlichkeitsfaktoren eine Rolle spielen, wenn Menschen sich von anderen verletzt fühlen, sehen es Experten wie Bärbel Wardetzki oder der Psychotherapeut Frank-M. Staemmler – Autor des Buches Kränkungen. Verständnis und Bewältigung alltäglicher Tragödien – als unabdingbar an, Kränkungen aus einem starren Täter-Opfer-Schema herauszulösen. Dazu ist es wichtig, sich als gekränkte Person auch damit zu befassen, wie man selbst das eigene unmittelbare Leiden in der Situation oder im inneren Erleben mitbeeinflusst hat.
Dass Psychologen immer wieder darauf hinweisen, wie wichtig eine solche umfassende Sicht auf Kränkungsereignisse ist, hat einen Grund: „Die allermeisten Menschen wehren diesen Blick erst einmal ab, weil er zu schmerzhaft ist. Sie gehen nach einer Verletzung sofort in die sogenannte Kränkungswut, in der man den Kränkenden beschuldigt, abwertet und zum Täter macht“, sagt Bärbel Wardetzki.
Das könne man etwa häufig bei Trennungen sehen. Sobald ein Partner sich trennt, wird er zu einer Art Unmensch stilisiert, der alles falsch gemacht hat, rücksichtslos war und an dem man sich gegebenenfalls sogar rächen muss. Als eine erste Reaktion sei das verständlich. Um Verletzungen zu verarbeiten, sei es aber wichtig, die eigene Kränkungswut zu überwinden – und eine tiefere Beschäftigung mit dem Thema zuzulassen.
Wenn ich auf die Situation mit meiner Freundin schaue, kann ich die obige Warnung vor starren Täter-Opfer-Rollen jedenfalls nachvollziehen. Anfangs fühlte ich mich vor allem ohnmächtig und machtlos. Nach einigen Wochen fing ich dann an, innerlich auf meine Freundin zu schimpfen und ihr die Schuld zu geben. Ich nannte sie arrogant, ruppig, undankbar. Ob sie das nun tatsächlich ist oder nicht, ist aber letztlich nicht der entscheidende Punkt. Für mich wurde es irgendwann dringlicher zu verstehen, warum mich ihre Zurückweisung so stark getroffen hatte, dass ich fast ein Jahr lang immer wieder daran denken musste.
Verletzte Werte erkennen
Theoretisch erscheint es also durchaus einleuchtend, sich den eigenen Kränkungsthemen offensiver zu stellen. Doch praktisch fehlt den meisten Menschen ein Zugang dazu. Für Rolf Sellin, Heilpraktiker für Psychotherapie und Autor des Buches Ins Herz getroffen. Selbsthilfe bei seelischen Verletzungen, gibt es ein paar ganz einfache Ansatzpunkte: „Am Anfang geht es darum, genau wahrzunehmen, was einen in einer Situation konkret verletzt hat“, sagt Sellin. Fragen wie „Was kränkt mich an dieser Aussage?“ oder „Bin ich an diesem Punkt schon häufiger verletzt gewesen?“ gäben eine erste Orientierung, sich selbst und die Kränkbarkeit besser zu verstehen.
Eine weitere wichtige Frage, um den wunden Punkt greifbar zu machen, ist laut Sellin auch: „Welcher Wert von mir wurde in dieser Situation verletzt?“ Diese Suche führe häufig auf die richtige Fährte: „Ich habe festgestellt, dass viele Menschen die unterschiedlichsten Kränkungssituationen letztlich auf die Verletzung eines Werts zurückführen können“, sagt Rolf Sellin. Sehr häufig sei etwa das Bedürfnis nach „Zugehörigkeit“ verletzt, das bei manchen Menschen stark ausgeprägt ist. Sie fühlen sich immer dann gekränkt, wenn sie real oder vermeintlich von anderen ausgeschlossen werden. Auch der Wert „Vertrauen“ ist bei vielen Menschen wichtig, sie sind immer dann gekränkt, wenn sie das Gefühl haben, dass etwas hinter ihrem Rücken passiert, sie sich belogen oder hintergangen fühlen.
Wieder andere sind tief getroffen, wenn sie das Gefühl haben, andere nähmen sie so, wie sie sind, nicht an, sondern vermittelten ihnen die Botschaft: „Du bist nicht gut genug.“ Diesen Leuten gehe es innerlich um „Akzeptanz“ und „Annahme“. Die Suche nach den verletzten Werten und Bedürfnissen führt laut Sellin oft direkt zu einer Art biografischer Kerbe, zu dem Thema, in dem man sich immer wieder angegriffen fühlt und das sich wie ein roter Faden durch die eigene Lebensgeschichte zieht.
Das Gefühl, in Ungnade zu fallen
Auch Bärbel Wardetzki hat häufig erlebt, dass es konkrete, biografisch geprägte Themen sind, die Menschen in Kränkungssituationen immer wieder antriggern. „Es gibt in der Kindheit und Jugend sogenannte primäre Kränkungen, also solche, die durch Eltern und Erziehungspersonen erfolgen“, sagt die Psychotherapeutin. „Unter diese fallen Botschaften, die die Lebendigkeit, die Integrität und das Selbstwertgefühl des Kindes beeinträchtigen wie beispielsweise ,So wie du bist, bist du nicht richtig‘ oder ‚Verhalte dich nicht so kindisch‘, was so viel heißt wie ‚Hör nicht auf deine Gefühle‘.“
Diese Prägungen aus der Kindheit haben die allermeisten Menschen nicht verarbeitet, sie wirken unbewusst weiter. Wann immer man dann in der Gegenwart mit ähnlichen Sätzen oder Konstellationen konfrontiert werde, erlebe man die primären Kränkungen wieder, ist Wardetzki sich sicher. Ähnlich wie Rolf Sellin nennt auch sie einige klassische wunde Punkte: das Gefühl, ausgegrenzt zu werden, nicht gut genug zu sein, anders zu sein oder perfekt sein zu müssen und bei jedem Fehler in Ungnade zu fallen. Schaut man sich all diese Kränkungsthemen genauer an, dann kann man laut Bärbel Wardetzki zusammenfassen: Ein biografisch bedingt niedriger Selbstwert oder ein ausgeprägter Perfektionismus erhöhen die Anfälligkeit für Kränkungen.
Spätestens nach den Ausführungen von Rolf Sellin und Bärbel Wardetzki ist mir klargeworden, dass meine Freundin mich ebenfalls nicht nur durch den konkreten Kontaktabbruch gekränkt hat. Sie hatte mich auch an einem persönlich wunden Punkt erwischt: Mit ihrer Wortwahl und Attitüde weckte sie in mir das Gefühl, falsch zu sein und so, wie ich bin, jedenfalls nicht gut und interessant genug für andere. Diese Art der Prägung – „So, wie du bist, reicht es nicht“ – kenne ich wenigstens zum Teil aus meiner Jugend.
Unterschiedliche Schwachstellen
Sobald mir das klargeworden war, stellte ich auch fest, dass sich verschiedenste Kränkungsmomente in meinem Alltag in diesem Satz zusammenfassen lassen: Egal ob ein berufliches Projekt scheitert oder ob mein Mann eine komische Bemerkung über meinen Fahrstil im Auto macht – immer habe ich das Gefühl, man will mir sagen, dass ich wohl nicht gut genug bin, und reagiere zumindest kurz gekränkt.
Doch die Punkte, an denen Menschen sich verletzt fühlen, sind höchst unterschiedlich. Manche Leute, die eher das Bedürfnis nach Verbindlichkeit haben, sind immer wieder getroffen, wenn Freunde oder Bekannte kurzfristig Verabredungen absagen, zu spät kommen oder sich sogar einfach nur anders verhalten, als man selbst es sich wünschen würde.
Oder man hat an sich so hohe Erwartungen und Ansprüche, will so perfekt sein, dass man sofort tief getroffen ist, wenn eine andere Person eine Kritik an der eigenen Arbeit, den besten Freunden oder irgendeiner alltäglichen Kleinigkeit äußert. Dass es sich um einen persönlichen wunden Punkt handelt, merkt man oft auch daran, dass andere Menschen sich in der gleichen Situation möglicherweise gar nicht getroffen fühlen. Umso wichtiger ist es zu verstehen, wo man selbst seine Achillesferse hat.
„Man wird durch die Erkenntnis allein zwar nicht gegen jede Kränkung immun, doch man kann lernen, mit den eigenen wunden Punkten achtsamer umzugehen als bisher“, erklärt Rolf Sellin. Denn es sei besonders wichtig, sich bei einer akuten seelischen Verletzung nicht noch zusätzlich selbst einen zweiten Schlag zu versetzen und sich noch mehr zu kränken, etwa indem man sich Vorwürfe macht, dass man so angreifbar ist, oder sich fragt, ob das Gegenüber mit Kritik, Herabsetzung oder Zurückweisung möglicherweise recht haben könnte.
Eine Erste-Hilfe-Übung
So etwas passiere leider häufig. Denn viele Menschen hätten nicht gelernt, mit körperlichem und seelischem Schmerz angemessen umzugehen. Auch das sei häufig ein Produkt von Erziehung. Problematisch ist es laut Sellin etwa, wenn Eltern mit ihren Kindern bei jedem seelischen Schmerz mitleiden oder das Kind vor allen negativen Erfahrungen schützen wollen. Dieses Verwöhnen führe dazu, dass man als Erwachsener eher wehleidig agiere oder sich zu sehr schone.
Genauso schwierig sei das hartgesottene Ignorieren von Kränkungen nach dem Motto „Stell dich nicht so an!“, das viele Eltern praktizieren. Eine ruhige Annahme des Schmerzes im Sinne von Trost, körperlicher Zuwendung oder positivem Zuspruch sei dagegen hilfreich. Die meisten Menschen haben eine Mischung aus günstigen und ungünstigen Prägungen mitbekommen, also geht es schlicht darum, bei seelischem Schmerz Annahme, Akzeptanz und Trost stärker ins eigene Leben zu holen und die ungünstigen Reaktionen wie Härte oder Wehleidigkeit eher zu vermeiden.
So ist als eine Erste-Hilfe-Übung bei einer akuten Kränkung zu empfehlen, dass man sich selbst Trost spendet, etwa indem man sich die rechte Hand auf den linken Oberarm legt oder beide Hände auf die Oberschenkel sinken lässt. Diese Berührung beruhigt und lindert die Kränkung ein wenig – und die Geste zeigt, dass man mit sich selbst sorgsam umgeht.
Eine Lebensaufgabe
Für eine tiefere Auseinandersetzung mit den eigenen wunden Punkten empfiehlt Sellin eine Übung, die er „platonische Tankstelle“ nennt. Es geht hier darum, dass man sich den verletzten Wert, der einem in der eigenen Erfahrung fehlt und der seit jeher ein wunder Punkt ist, aktiv selbst zukommen lässt. Dabei stellt man sich auf einen Platz in einem Raum und stimmt sich auf den Wert ein, der einem fehlt, beispielsweise „Annahme“, „Zugehörigkeit“ oder „Vertrauen“.
Wichtig ist, dass man versucht, mit diesem Wert in Kontakt zu kommen, ihn zu spüren und zu verstärken. Laut Sellin ist das eine Übung, bei der Klienten oft feststellen, dass sie sich einen Teil dieses fehlenden verletzten Wertes tatsächlich selbst geben können. „Sich einen Wert zu vergegenwärtigen und ihn zu spüren bringt nicht nur Orientierung, es gibt auch spürbar Kraft und Energie“, sagt Rolf Sellin. Wer die Übung regelmäßig wiederholt und sich von Zeit zu Zeit mit dem fehlenden Wert „füttert“, wird den wunden Punkt zwar nicht ganz heilen. Nach und nach kann man sich so aber eine neue Haltung und mehr Zuversicht erarbeiten – und wird von innen heraus stabiler.
Sich weiterentwickeln und wachsen
Für die Psychotherapeutin Bärbel Wardetzki ist auch das Leben selbst ein gutes Übungsfeld, um mit dem eigenen wunden Punkt umgehen zu lernen und alte Kränkungen teilweise zu überwinden und sogar zu heilen. Für sie ist es wichtig, dass man primäre Kränkungen und die damit verbundenen inneren Überzeugungen wie „Ich bin nicht gut genug“ oder „Ich muss alles perfekt machen“ hinterfragt, modifiziert und durch neue Erfahrungen ersetzen lernt.
So seien Kinder häufig darauf angewiesen, die Bewertungen von Bezugspersonen zu schlucken, erklärt Wardetzki. Erwachsene Menschen dagegen sind aufgefordert, sich neue Sichtweisen anzueignen, alte Prägungen und Ängste zu überwinden und dafür zu sorgen, dass Bedürfnisse, die sie spüren, auch angemessen gestillt werden. „Anlässe, um zu wachsen und sich zu entwickeln, sind häufig Lebenskrisen“, erklärt Bärbel Wardetzki.
Belastende Ereignisse wie Trennungen, Arbeitsplatzverlust, Krankheiten gehören zu den sogenannten kritischen Lebensereignissen, die Menschen zum Umdenken und zu neuen Entwicklungen auffordern. „Krisen sind oft ein Zeichen dafür, dass es Zeit ist, neue Sichtweisen auf sich selbst und das eigene Leben zu erarbeiten“, findet Bärbel Wardetzki. Bei Trennungen und Rückschlägen werden oft alte Kränkungen durch neue schmerzhafte Erfahrungen angestoßen. Man könne dann im Zuge der Verarbeitung der Krise auch lernen, zu alten Verletzungen und frühen Zurückweisungen eine neue Position zu finden.
Die Gefühle hinter der Kränkung
Da das innere Gleichgewicht in psychischen Krisen oft kippt, ist eine einfache Selbsthilfeübung oder die Reflexion der eigenen wunden Punkte hier meist nicht mehr ausreichend. Die Kränkung ist dann zu massiv und raumgreifend. „In einer Ausnahmesituation wie etwa einer Trennung nach einer langen Beziehung hat man gelegentlich das Gefühl, gegen die Stärke der Gekränktheit machtlos zu sein“, sagt Bärbel Wardetzki. In solchen Momenten sei es wichtig, geduldig zu sein und ansonsten zu versuchen, die verschiedenen einzelnen Gefühle aufzuspüren, die hinter der Kränkung stehen, und auf diese dann einzeln zu reagieren. „Hinter der Verletzung findet man womöglich Traurigkeit, die Scham, nichts wert zu sein, die Angst, allein zu bleiben, und die Wut auf den Partner oder seine neue Beziehung.“
Die einzelnen Gefühle sind greifbar. Wer traurig ist, kann weinen, fühlt sich danach oft besser und lässt zu, dass er auch manchmal ein trauriger Mensch ist. Wer sich klein und wertlos fühlt, kann sich trösten und vor Augen halten, was er sonst doch alles hinkriegt, und mehr Selbstvertrauen aufbauen. Und die Angst, nie mehr eine neue Beziehung zu finden, wird man ebenfalls irgendwann los – indem man nach einer gewissen Zeit wieder aktiv wird und einen neuen Partner sucht.
Diese Art der konkreten Auseinandersetzung kann laut Bärbel Wardetzki gelingen, wenn man sich klarmacht, dass „Kränkungen unflexible Antworten auf Zurückweisungen“ sind, also ein Zeichen dafür, dass man bisher nur eingeschränkte Möglichkeiten hatte, auf eine Situation zu reagieren. Während man sie verarbeitet, entwickelt man neue Sichtweisen und Fähigkeiten – im Umgang mit anderen Menschen und im Umgang mit den eigenen wunden Punkten.
Widerstandskraft aufbauen
Es ist natürlich nicht zwingend eine tiefe Krise nötig, um sich selbst als Person zu stärken. Dass man generell eine gewisse Widerstandskraft gegenüber Kränkungen, Widrigkeiten im Alltag und schwierigen Lebenssituationen aufbauen kann, gilt heute als gesichert. In der positiven Psychologie geht es darum, persönliche Ressourcen zu stärken und so Resilienz – also psychische Widerstandsfähigkeit – aufzubauen.
Verschiedene klar definierte Charakterstärken wie etwa die Fähigkeit zur Dankbarkeit, Wertschätzung des Schönen, Zuversicht und Optimismus werden mit verschiedenen Übungen und Techniken eingeübt. Der renommierte amerikanische Psychologe Martin Seligman hat sich in den letzten Jahrzehnten damit beschäftigt, diese stärkenden Haltungen und Techniken zu erforschen und ihre Wirkung zu belegen. So ist beispielsweise messbar, dass es möglich ist, aus sich selbst heraus und durch konkrete Übungen Optimismus und Zuversicht aufzubauen.
Das konnte etwa die Psychologieprofessorin Barbara Fredrickson in mehreren Studien zeigen. Sie ließ Versuchsteilnehmer, alle Mitarbeiter einer Computerfirma, die sogenannte loving kindness meditation in sechs Sitzungen trainieren. Diese Art der Meditation, bei der man sich selbst und anderen liebevolle und mitfühlende Gedanken und Gefühle zukommen lässt, führte in der Studie dazu, dass Personen viel mehr positive Emotionen der Verbundenheit und Zuversicht erlebten. Die Zunahme der positiven Gefühle wiederum stabilisierte die Versuchsteilnehmer, sie fühlten sich gesünder, weniger depressiv und sinnerfüllter. Kurz gesagt: Die selbst erzeugten positiven Gefühle stärkten die seelische Belastbarkeit.
Studien wie diese legen nahe, dass es sich lohnt, sich selbst aktiv in eine zuversichtliche, positive Stimmung zu bringen, in der man weniger Enge, Erstarrung oder Kränkung empfindet – und mehr Verbindung mit sich selbst und anderen. Man kann sich also eine Grundhaltung zulegen, in der man ganz allgemein etwas weniger verletzbar ist.
Die Starre auflösen
Aus dieser Position heraus wird es leichter, eine konkrete Reaktion auf Verletzungen zu gestalten. Denn eins ist klar: Auch wenn hier bisher vor allem die inneren Klärungs- und Verarbeitungsprozesse im Umgang mit wunden Punkten betont wurden – der zweite wichtige Ansatzpunkt ist immer, einen Umgang mit der seelischen Verletzung in der Außenwelt zu finden. Denn für viele Menschen ist Kränkung etwas sehr Unmittelbares und Alltägliches. Wer sich montags vom blöden Witz eines Kollegen getroffen fühlt oder durch den Partner, der den Jahrestag vergessen hat, der ringt in einer konkreten Situation um Fassung.
Klare äußere Reaktionen sind dann ratsam. „Ich finde es wichtig, nicht nicht zu reagieren, wenn man verletzt ist – denn nur so kann man auch gleich wieder die Starre auflösen, in die man durch die Kränkung gerät“, sagt Rolf Sellin. Als einfachen Tipp schlägt Sellin deshalb vor, sich in der alltäglichen Kommunikation mit dem Satz „Wie meinen Sie das?“ zu helfen. Der andere muss dann seine zynische Bemerkung, seine Kritik oder seinen lapidaren Umgang erklären – und kann entweder Missverständnisse aus dem Weg räumen oder muss sich selbst ins Bewusstsein rufen, dass hier eine Grenzverletzung stattgefunden hat, die er gar nicht richtig mitbekommen hatte.
Überhaupt ist das Setzen von Grenzen eine gute Präventionsmaßnahme, findet Rolf Sellin: „Wer keine Grenzen zieht, lebt an der Realität vorbei – denn es gibt reale Grenzen.“ Wer sich selbst als komplett offen oder hilfsbereit stilisiert oder auch andere Menschen als nur freundlich oder gut sieht, überfordert sich selbst und andere permanent. Auch das hat mit Kränkung zu tun: Denn je mehr man sich in eine solche Selbsttäuschung begibt, eine andere Person idealisiert oder die eigene Offenheit und Gutherzigkeit überschätzt, desto mehr Enttäuschungen und Kränkungen wird man mit anderen auf Dauer erleben.
Das richtige Maß an Abgrenzung
Andere zu idealisieren, die sich dann ganz anders verhalten, als man dachte, kann sehr verletzen. Genauso kränkt es aber auch, ganz offen zu sein und anderen zu viel Angriffsfläche zu bieten. Sellin hat in der Arbeit mit seinen Klienten oft festgestellt, dass viele kränkbare Menschen entweder ganz offen sind oder, wenn sie dann erst einmal enttäuscht wurden, sich ganz abschotten. Beide Positionen sind nicht angemessen – und führen zu mehr Leiden. „Es wäre besser, mit einem mittleren Level an Offenheit anzufangen und dann je nach Erfahrung mit einer Person etwas näherzukommen oder etwas distanzierter zu werden“, sagt Rolf Sellin.
Was meine eigene Geschichte mit meiner Freundin angeht, kann ich bestätigen: Es ging nicht nur um meine persönlichen wunden Punkte, die getroffen waren. Ich hatte mich auch in Kontakt und Kommunikation nicht richtig abgegrenzt: Ich hatte immer sehr offen mit ihr gesprochen, während sie stets etwas Bewertendes und Distanziertes hatte.
Ein wenig früher zu fragen, was bestimmte Bemerkungen – beispielsweise über meinen Kleidungsstil oder meinen Beruf – überhaupt bedeuten sollten, hätte den Ball auf ihre Spielfeldseite geschlagen und vielleicht in einem früheren Stadium zu einer Auseinandersetzung geführt. Das hätte mir selbst die Möglichkeit gegeben, früher zu prüfen, ob sich Schwierigkeiten aus dem Weg räumen ließen oder ob in diesem Kontakt mehr Abstand und weniger Offenheit angemessen gewesen wären. Im Nachhinein weiß ich: Ich wollte die Antwort nicht wissen, denn der Kontakt war mir wichtig. Deshalb hielt ich an meinem Idealbild dieser Freundschaft fest.
Erste Hilfe bei Kränkung
Zahlreiche einfache Übungen können Menschen dabei unterstützen, ein Gefühl der Verletzung zu lindern oder sogar zu überwinden. Fünf davon stellen wir hier vor
Sich wieder ausdehnen. Wer gekränkt ist, fühlt sich oft auch körperlich eng und verstärkt durch diese Verkrampfung die Verletzung zusätzlich. Eine einfache Körperübung ermöglicht es, sich psychisch und physisch zu weiten: Setzen Sie sich auf einen Stuhl oder legen Sie sich hin und verstärken Sie erst noch einmal den angespannten Zustand, indem Sie Ihre Muskeln bewusst noch stärker zusammenziehen. Dann lassen Sie die Spannung los bis hin zur Entspannung. Spüren Sie Ihre eigene Schwere. Wenn Sie dann irgendwann den Impuls bekommen, sich aufzurichten, recken und dehnen Sie sich. Nehmen Sie bewusst Raum ein und empfinden Sie die Weite.
Den Schaden begrenzen. Wer sich von einer Kritik oder von einer Zurückweisung getroffen fühlt, ist oft zunächst am Boden zerstört und befürchtet das Schlimmste für sein Leben. Eine Möglichkeit, die Kränkung etwas realistischer und weniger katastrophal zu sehen, besteht darin, sich einmal alle Lebensbereiche anzuschauen und herauszufinden, welche Bereiche von der Kränkung betroffen sind. Prüfen Sie etwa die Lebensaspekte Beruf, öffentliches Ansehen, Freunde, Familie, Bildung und Wissen, Gesundheit und materielle Sicherheit. Kennzeichnen Sie innerlich, welche Bereiche die Kränkung betrifft. Meist stellt man erstaunt fest, dass es nur ein oder zwei Lebensbereiche sind. Machen Sie sich klar, dass alle anderen Bereich intakt sind.
Sieh es anders. Der Begriff des „Refraiming“ stammt aus der systemischen Familientherapie und bedeutet „Umdeutung“. Man versucht mit dieser Technik, ein bestimmtes Ereignis oder eine Kränkung aus einer anderen Perspektive oder unter anderen Vorzeichen zu sehen. Versuchen Sie also angesichts einer Zurückweisung oder Kränkung einmal eine solche Umdeutung: Fragen Sie sich etwa, wofür die Sache gut sein könnte, was für Chancen oder Möglichkeiten sich daraus ergeben. Sie können auch versuchen, mit dem neuen Deutungsrahmen die Heftigkeit der Kränkung mit anderen Augen zu sehen. Wenn Sie etwa bisher gedacht haben: „Die Trennung [der Arbeitsplatzverlust] ist eine Katastrophe“, können Sie versuchen zu sagen: „Die Trennung [der Arbeitsplatzverlust] ist traurig, aber keine Katastrophe.“ Die neue Sichtweise vermag die Verletzung zu relativieren.
Informationen herausfiltern. Besonders bei kleineren Kränkungen im Alltag durch eine spitze Bemerkung oder einen einzelnen Satz kann es helfen, die Information von der Kränkung zu trennen. Angenommen, jemand hat Sie kritisiert oder spöttisch angegriffen. Versuchen Sie dann bewusst, das kränkende Gefühl, das dadurch entstanden ist, beiseitezulassen und zu überlegen, welche wichtige sachliche Information in der Aussage des Gegenübers steckt. Will der Kränkende einem sagen, dass man ungeschickt oder anmaßend war, hat die Kritik einen wahren Kern? Oft können gerade Menschen, die uns kränken, auf wichtige blinde Flecken aufmerksam machen. Und: Wer sich traut, sich der sachlichen Seite einer Verletzung zu widmen, agiert ziemlich souverän.
Jeder leidet. Die US-Psychologin Kristin Neff hat zusammen mit ihrem Kollegen Christopher Germer eine spezielle Art des Achtsamkeitstrainings entwickelt, das „Selbstmitgefühlstraining“. In den Übungen geht es darum, sich selbst gegenüber freundlich zu sein und sich klarzumachen, dass man mit Schwäche und Leid nicht allein ist, sondern dass alle Menschen damit zu tun haben. Diese bewusste Sicht auf das „gemeinsame Menschsein“ ist eine Haltung aus dem Buddhismus. Wenn Sie sich ihr ganz praktisch annähern wollen, reicht es, angesichts einer Kränkung oder Zurückweisung immer auch zu sagen: „Das erleben alle Menschen.“ Oder einfach: „Jeder leidet.“ Das schafft ein Gefühl von Verbundenheit und Trost.
„Vielen fehlt es an Anerkennung“
Das Kränkungspotenzial am Arbeitsplatz ist hoch. Die Philosophin und Unternehmensberaterin Barbara Strohschein erklärt, was Mitarbeiter und Führungskräfte tun können, um das zu ändern
Frau Dr. Strohschein, Sie beleuchten in Ihrem Buch Das gekränkte Ich, welche Mechanismen dazu führen, dass Menschen einander in kollektiven Zusammenhängen kränken. Warum ist Ihnen dieser Blick wichtig?
Mich beschäftigt die Frage, wie Gewalt in Gesellschaften entsteht. Die für mich entscheidende Antwort ist: Physische wie psychische Gewalt entsteht immer dann, wenn vorher eine Entwertung stattgefunden hat. Einzelne Menschen oder Gruppen fühlen sich abgewertet, nicht gesehen, nicht verstanden und nehmen das als tiefe Kränkung wahr. Dafür rächt man sich dann je nach Kontext durch innere Kündigung, Gegenangriffe, Mobbing oder gar Krieg. Die destruktiven Folgen der Entwertung sind dann offen sichtbar, doch die Kränkung selbst wird weder wahrgenommen noch thematisiert. Die Wurzel der Aggression bleibt verborgen – und kann nicht bearbeitet werden.
Warum werden Kränkungen am Arbeitsplatz nicht zum Thema?
Kränkungen zuzugeben wird als Eingeständnis von Schwäche gesehen und ist für viele bereits im privaten Rahmen ein Wagnis. Entwertungen im Beruf zur Sprache zu bringen ist ungleich schwerer, für Mitarbeiter und Führungskräfte. Es gibt meist keine Gesprächskultur, um solche tiefgehenden emotionalen Fragen zu besprechen. Es besteht ein Risiko, als Nörgler zu gelten oder als empfindlich, wenn man die Kränkung zur Sprache bringt. Deshalb lassen es viele sein. Dazu kommt, dass Menschen erlebte Kränkungen oft nicht richtig greifen können. Zum einen weil man sie nicht wahrheben will oder sich für diese Gefühle schämt. Zum anderen sind Kränkungen aber auch im Wirtschaftssystem selbst verankert, so dass wir sie selbstverständlich finden und auch deshalb kaum noch wahrnehmen.
Das müssen Sie erklären.
Wir leben in einem ausgeprägten Leistungssystem, in dem viele Menschen verinnerlicht haben, dass sie hervorragend sein müssen. Wer diesen Ansprüchen nicht gerecht zu werden meint, wertet sich selbst ab, bewusst oder unbewusst. Bei meinen Klienten erlebe ich das häufig: Viele haben hohe Posten und eine Menge Verantwortung. Obwohl sie von niemandem kritisiert werden, sind sie sich nicht sicher, ob sie gut genug sind. Das Leistungsprinzip ist also auf eine vertrackte Weise selbst eine Kränkungsursache.
Das führt dazu, dass viele Menschen es vermeiden, sich mit den Folgen von Kränkungen auseinanderzusetzen. So versucht man etwa, aufkommenden Konflikten aus dem Weg zu gehen. Das verhindert aber wiederum, dass die daraus entstehenden Probleme konstruktiv gelöst werden können.
Wie entstehen Kränkung und Abwertung konkret?
Ich beobachte, dass sich viele Mitarbeiter nicht gesehen fühlen. Entscheider aus der Chefetage und Führungskräfte aus dem mittleren Management sprechen meist nur wenig Lob aus. Sie nehmen nicht wahr. welche Anstrengungen Mitarbeiter auf sich nehmen, um ihre Arbeit gut zu machen. Unter den Mitarbeitern herrscht zudem oft Konkurrenzverhalten, das Kränkungen herausfordert. Diese Phänomene haben auch damit zu tun, dass in Deutschland die regressiven Erziehungsmethoden vergangener Generationen nachwirken. Viele Menschen sind in dem Geist erzogen: Funktioniere und erwarte nichts dafür. Wenn ein Kind immer sein Zimmer aufräumt, ist das doch normal. Wenn ein Mitarbeiter seine Arbeit gut macht, ist das nicht weiter erwähnenswert. Das ist natürlich ein Irrtum: Wir brauchen Resonanz. Doch diese Haltung sitzt tief – und führt zu ständig neuen Kränkungen.
Geht es darum, Mitarbeiter mehr zu loben?
Das allein reicht natürlich nicht. Manchmal wird der Ratschlag „Lobt eure Mitarbeiter“ in Führungskräftetrainings verordnet. Das ist dann vollkommen hohl und wirkungslos – denn es gibt in vielen Unternehmen keine Kultur von Anerkennung und Rückmeldung, die das tragen könnte. In vielen Abteilungen gibt es weder Zeiten noch Raum, in dem konstruktive Gespräche auf Augenhöhe stattfinden könnten, ein Austausch von Ideen und Rückmeldung möglich wäre. Wenn man in einer Firma nirgends eigene Anliegen oder heikle Themen besprechen kann, ist das per se eine Entwertung und das hat negative Folgen: Durch die Unmöglichkeit, sich mit seinen Kränkungen zu zeigen, entsteht hintenherum eine Jammerkultur. Man beschwert sich bei Kollegen über die Chefin, bei der Chefin über die Arbeitslast und bei allen anderen über einen Mitarbeiter, den man zum Sündenbock macht. Von der Missstimmung fühlen sich dann wieder die Führungskräfte gekränkt – sie verstehen nicht, warum die Mitarbeiter sich permanent negativ äußern, wo doch eigentlich alles gut läuft.
Wie kann man die Abläufe so verändern, dass eine Atmosphäre der Anerkennung entsteht?
Es wäre eine gute Basis, sich gegenseitig mehr wahrzunehmen, zuzuhören, hinzuschauen. Eine Firma ist schließlich ein soziales Gefüge. Zum Zweiten: sich bei Konflikten hinzusetzen und zu reden. Die Kommunikation sollte sich generell nicht nur an Sachaufgaben aufhängen, sondern sich auch auf die Klärung der zwischenmenschlichen Beziehungen richten. Auch ein Termin, in dem man sich zum Thema übergeordnet Gedanken macht, kann sinnvoll sein: In so einem Treffen könnten sich alle gemeinsam fragen: Was wollen wir gemeinsam erreichen? Welche Formen der Anerkennung brauchen wir? Und wie wollen wir miteinander umgehen? Ich arbeite oft mit Teams und nutze dabei experimentelle Methoden, bei denen Teilnehmer ihre Ideen kreativ und konkret einbringen können. In diesen Gruppen ist häufig Zusammenhalt entstanden und eine konstruktive Kommunikation hat sich über Jahre weiterentwickelt. Die Mitarbeiter fühlen sich nicht länger übergangen – und bringen sich ein.
Gibt es etwas, das jeder Einzelne tun kann, um sich im Job weniger gekränkt zu fühlen?
Man kann versuchen, sich selbst und die eigene Arbeit mit mehr Wertschätzung zu betrachten. Dabei hilft der Blick auf die eigenen Ressourcen: Was sind meine Stärken? Was mache ich hier wirklich gut? Oder auch die Suche danach, wer einen im Team unterstützen kann. Man kann diese Tendenz noch verstärken und versuchen, sich weniger auf die Anerkennung anderer zu konzentrieren, sondern darauf, was einem bei der Arbeit wichtig ist, welche Werte und Visionen man dort verwirklichen will. Man fokussiert sich also auf das, was zu tun ist. Bertolt Brecht hat das einmal in einem Song das „Lob der dritten Sache“ genannt. Dort schildert er, dass es hilft, sich nicht ständig zu fragen, wie geht’s dir, wie geht’s mir, sondern sich vor Augen zu führen, was es gemeinsam zu tun gibt. Wer das Gelingen der gemeinsamen Arbeit an erste Stelle setzt, wird konstruktiver mit Kränkungen umgehen.
Barbara Strohschein ist Philosophin, Wissenschaftlerin, Coach und Unternehmensberaterin in Berlin. In ihrem Buch . Was Kränkungen anrichten und wie Anerkennung glücklich macht (Goldmann) untersucht sie das Kränkungspotenzial verschiedener sozialer Gruppen und Gefüge, etwa in der Arbeitswelt, im Bildungswesen und in der Politik
Literatur
Rebecca Böhme: Resilienz. Die psychische Widerstandskraft. C.H. Beck, München 2019
Barbara L. Fredrickson u.a.: Open hearts build lives: Positive emotions, induced through loving–kindness meditation, build consequential personal recources. Journal of Personality and Social Psychology, 95/5, 2008, 1045–1062. DOI: 10.1037/a0013262
Reinhard Haller: Die Macht der Kränkung. Ecowin, Wals bei Salzburg 2019
Martin Seligman: Flourish. Wie Menschen aufblühen. Die Positive Psychologie des gelingenden Lebens. Kösel, München 2012
Rolf Sellin: Ins Herz getroffen. Selbsthilfe bei seelischen Verletzungen. Kösel, München 2016
Rolf Sellin: Bis hierher und nicht weiter. Wie Sie sich zentrieren, Grenzen setzen und gut für sich sorgen. Kösel, München 2014
Frank–M. Staemmler: Kränkungen. Verständnis und Bewältigung alltäglicher Tragödien. Klett–Cotta, Stuttgart 2016
Bärbel Wardetzki: Ohrfeige für die Seele. Wie wir mit Kränkung und Zurückweisung besser umgehen können. Dtv, München 2014
Bärbel Wardetzki: Loslassen und dranbleiben. Wie wir Veränderungen mutig begegnen. Kösel, München 2019