In einer Art Wohnzimmer sitzt eine dunkelhaarige Frau auf dem Sofa einer beigefarbenen Polstergarnitur. Sie trägt ein weißes, ärmelloses Kleid. Ihr gegenüber auf einem Sessel hat ein Mann Anfang sechzig Platz genommen. Kahl ist sein Schädel bis auf einen schmalen, kurz getrimmten Haarkranz am Hinterhaupt; er trägt eine Brille und einen dunklen Anzug mit Krawatte. Das im Jahr 1964 geführte Gespräch wird nur eine halbe Stunde dauern – und bald zur am besten erforschten Beratungssitzung der Welt werden.
Gloria…
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wird nur eine halbe Stunde dauern – und bald zur am besten erforschten Beratungssitzung der Welt werden.
Gloria Burry ist damals 31. Sie hat nach ihrer Scheidung mehrere Affären, die sie aber vor ihrer kleinen Tochter Pammy verheimlicht. Gloria empfindet dabei einen quälenden Konflikt: Weder möchte sie ihr Kind weiter belügen noch für ihr Tun von Pammy abgelehnt werden. Neben dem Psychologen Carl Rogers befindet sich im Raum noch ein komplettes Filmteam. Ein Jahr später laufen Glorias Geständnisse im US-Fernsehen und in den Lichtspielhäusern des Landes. Bis heute findet man Kopien der Gloria Tapes auf YouTube und noch immer dient ihr Gespräch mit Rogers als Lehrmaterial für klientenzentrierte Gesprächsführung und gutes Zuhören an Universitäten und in Coaching-Ausbildungen.
„Ich weiß, dass Sie mir die Antwort nicht abnehmen können“, hört man Gloria sagen. „Ich muss es selbst herausfinden. Aber ich möchte, dass Sie mich dabei anleiten und mir sagen, wo ich anfangen soll, damit es nicht mehr so hoffnungslos aussieht.“
Rogers antwortet: „Und ich denke, ich würde fragen: Was möchten Sie denn von mir hören?“
Gloria darauf: „Ich möchte, dass Sie mir sagen, dass ich ehrlich sein soll und es riskieren und dass Pammy mich akzeptieren wird.“
Akzeptanz für Gefühle
Was macht Carl Rogers da? Was soll das? Welcher Arzt würde seiner Patientin raten, sie solle sich einfach selbst die richtige Diagnose stellen, die passenden Tabletten verschreiben oder die beste Operation? Mitte des vorigen Jahrhunderts ist dieser „nichtdirektive“ und „klientenzentrierte“ Ansatz nichts weniger als eine Revolution. Rogers glaubt, dass kluge Ratschläge selten fruchten. Denn gut gemeinte Tipps hören die Menschen ohnehin schon genug: von ihren Eltern, Geschwistern, der Partnerin oder dem Partner, den Kindern, Nachbarn, Chefinnen. Würde all das helfen, so Rogers, bräuchte man keine Psychologie.
Wer mit ihm das Gespräch suche, werde deshalb etwas anderes erleben: Wenn dieser Mensch „merkt, dass sich jemand seine Gefühle mit Akzeptanz anhört, versetzt ihn das Schritt für Schritt in die Lage, sich selbst zuzuhören“, schreibt Rogers in seinem Hauptwerk On Becoming a Person aus dem Jahr 1961 (deutsche Ausgabe: Entwicklung der Persönlichkeit). „Es wird ihm möglich, sich hinter seiner Fassade hervorzutrauen, sein defensives Verhalten fallenzulassen und offener der zu sein, der er wirklich ist.“ Er werde dann „endlich frei, sich zu verändern und in Richtungen zu wachsen, die für den menschlichen Organismus natürlich sind“.
Über den Rand der Psychose
Seit diesen Zeilen sind mehr als 60 Jahre vergangen. Heute blickt die empirische Forschung wieder mit neuem Interesse auf Carl Rogers und seine Thesen. Sein „empathisches Zuhören“ erlebt eine Wiedergeburt – vielleicht auch jenseits der Universitäten.
Zum Zeitpunkt des Gloria-Gesprächs ist Rogers auf der Höhe seines Ruhms. Längst hat sich sein humanistischer klientenzentrierter Ansatz zu einer „dritten Kraft“ auf dem Feld der Psychotherapie entwickelt – neben Freuds Psychoanalyse und der aus dem Behaviorismus hervorgegangenen Verhaltenstherapie. Für Rogers selbst sind Empathie und gutes Zuhören eine sehr ernste und nicht ungefährliche Angelegenheit. So tief taucht er ein in die Realität seines Gegenübers, dass er sich direkt nach dem Gespräch an viele Inhalte des Gesagten nicht mehr erinnern kann. Es geht ihm um eine völlige Präsenz im Augenblick und im Kontakt mit der anderen Person.
Einmal, so gesteht er in einem Interview, habe er sich so sehr „in der Welt des Klienten verloren“, dass er beinahe „über den Rande zur Psychose“ gegangen wäre. „Das ist keine Erfahrung, die ich empfehlen kann.“ Zu einem solchen Tauchgang gehöre deshalb eine gewisse Reife, sozusagen ein Ankerseil, das einen nach dem Gespräch wieder zurückführt in die eigene Existenz.
Zugegeben: Das alles klingt nicht nach kühler Wissenschaft. Rogers selbst spricht von einer „beinahe mystischen Subjektivität“, die er während seiner Sitzungen erlebe. Es erinnert an Der kleine Prinz: Man sieht nur mit dem Herzen gut. Doch wie will man so etwas lehren? Rogers selbst glaubt auch hier an die Kraft des Zuhörens, des Gesprächs und des unmittelbaren Erlebens. Nur widerwillig lässt er sich von seinen Studierenden dazu überreden, an der Uni überhaupt so etwas wie eine Vorlesung zu halten. Andere finden einen pragmatischeren Weg, der einem noch heute in Seminaren für „aktives Zuhören“ begegnet. Zuhören besteht dort aus wenigen handfesten Tricks und Techniken, die sich mühelos an einem Samstagnachmittag vermitteln und auswendig lernen lassen.
Flut an Beratungstrainings
Rogers selbst empfindet solche Gebrauchsanweisungen als „abstoßend“. In seinen Augen machen sie aus der magischen Tugend des Zuhörens eine Art Taschenspielertrick für Jahrmarktszauberer und Hütchenspieler. Dort lerne man zum Beispiel, klagt Rogers, man müsse für gutes Zuhören einfach nur mechanisch die letzten Worte der Klientinnen und Klienten wiederholen. „Ich war so schockiert von diesen völligen Verzerrungen unseres Ansatzes, dass ich einige Jahre lang überhaupt nicht mehr über empathisches Zuhören gesprochen habe“, schreibt Rogers in einem Aufsatz aus dem Jahr 1975. Für ihn ist das Zuhören keine Technik, sondern eine Grundhaltung, eine innere Art und Weise, anderen Menschen zu begegnen.
Dass sein Ansatz überhaupt zum Mainstream werden konnte, hat Rogers selbst übrigens für eine Art Zufall gehalten. Als 1942 sein Buch Counseling and Psychotherapy erschien, glaubte er nur an eine kleine Leserschaft von Interessierten. Doch dann kehrten Abertausende junger Männer aus dem Zweiten Weltkrieg zurück in die USA. „Der Bedarf an psychologischer Beratung wurde für alle offensichtlich“, erinnert sich Rogers in einem Interview wenige Jahre vor seinem Tod. „Es entstand also eine Flut an Beratungstrainings. Und welche Bücher gab es dazu? Nun, nicht sehr viele. Meines war eines der wenigen.“
Zuhören am Arbeitsplatz
Rogers starb im Februar 1987. Dass seine Thesen in der psychologischen Forschung inzwischen eine Art Neugeburt erleben, ist vor allem einem jungen Sozialpsychologen aus Israel zu verdanken. Ursprünglich hatte sich Guy Itzchakov von der Universität in Haifa mit einer ganz anderen Frage befasst: Wie kann man die Einstellungen von Menschen in der Berufswelt ändern, ohne sie dazu überreden zu müssen? Könnte es nicht genügen, ihnen einfach ein objektives Feedback zu geben?
„Die Ergebnisse waren ziemlich ernüchternd“, verrät Guy Itzchakov. Selbst konstruktive Kritik und sogar Lob machten rund 40 Prozent der Mitarbeitenden nicht etwa besser, sondern messbar schlechter. Sie fühlten sich kleingemacht oder gegängelt und schalteten auf stur. Genau in dieser Phase seiner jungen Karriere stolperte Guy Itzchakov über einen alten Artikel von Carl Rogers. Menschen, so las er dort mit wachsender Begeisterung, öffnen sich, sobald man ihnen aufmerksam und wohlwollend zuhört.
Nach seinem Archivfund tat Itzchakov das, was tüchtige Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen tun, wenn sie auf eine neue Fährte stoßen: Er machte sich auf die Suche nach Studien. „Doch zu meiner Überraschung gab es so gut wie keine Forschung dazu in meinem Fachgebiet, der Sozial- und Organisationspsychologie“, sagt er. Offenbar hatte sich kaum jemand die Mühe gemacht, die Thesen von Carl Rogers empirisch zu überprüfen. Und wenn doch, dann waren die einzelnen Studien über alle möglichen Disziplinen verstreut.
Mit Bienenfleiß machte sich Guy Itzchakov daran, die vorliegenden Ergebnisse zu sichten – und parallel eigene Experimente zu starten. Zum Beispiel brachte er in seinem Labor Studierende paarweise zusammen. Eine oder einer der beiden sollte zehn Minuten lang über ein bestimmtes Thema reden – etwa über seine Haltung zum bedingungslosen Grundeinkommen. Die zweite Person bekam die Anweisung, so gut zuzuhören, wie es ihr nur möglich war. Doch bei einigen von ihnen störte Guy Itzchakov diesen Prozess. Zum Beispiel schickten seine Mitarbeiter den Zuhörenden während des Gesprächs immer wieder Textnachrichten mit der Bitte, diese möglichst schnell zu beantworten. So sorgte das Team zielgerichtet für Gespräche, in denen jemand gut zuhörte – und für andere Gespräche, in denen das wegen der permanenten Ablenkung nicht möglich war, genau so, wie das im Alltag häufig der Fall ist.
Konsequenz für die ganze Organisation
In diesen und vielen anderen Versuchen hat Guy Itzchakov inzwischen eine ganze Liste messbarer Folgen aufmerksamen Zuhörens ermittelt. Er konnte nachweisen, dass wir uns sofort besser fühlen, wenn uns jemand gut zuhört. Dass wir auf einmal das Gefühl haben, in Sicherheit zu sein, uns nicht mehr verteidigen oder rechtfertigen zu müssen; dass wir uns öffnen und unserem Gegenüber Dinge anvertrauen, die wir ansonsten für uns behalten hätten. Dass wir uns, während wir reden, viel klarer darüber werden, was wir eigentlich denken und glauben. Mit anderen Worten: Guy Itzchakov fand mit jeder Studie handfeste Belege dafür, dass Carl Rogers genau richtig gelegen hatte.
Und diese Erkenntnisse gelten längst nicht nur für den engen Rahmen einer Psychotherapie. In einem vielbeachteten Aufsatz aus dem Jahr 2023 haben Guy Itzchakov und andere Fachleute all das zusammengetragen, was die Forschung über das Zuhören im Berufs- und Geschäftsleben weiß. Die Ergebnisse sind beeindruckend: Vorgesetzte, die gut zuhören, machen ihr Team kreativer. Wer im Verkauf gut zuhören kann, hat messbar mehr Erfolg.
Ein einziges Teammitglied, das diese Fertigkeit exzellent beherrscht, macht das gesamte Team kollegialer und hilfsbereiter. Wer gut und empathisch zuhört, wird von anderen automatisch als Führungsperson wahrgenommen. Itzchakov und sein ehemaliger Doktorvater Avraham Kluger schreiben: „Zuhören führt zu besseren Leistungen – bei der Person, die zuhört, der Person, der zugehört wird, und als Konsequenz auch in der gesamten Organisation.“
Wenn wir gut zuhören, hilft das also nicht nur unserem Gegenüber, sondern auch uns selbst? Guy Itzchakov nickt. „Diese Ergebnisse haben auch uns überrascht“, sagt er. Zuhören tut uns tatsächlich gut. Wir erleben plötzlich weniger Angst, haben das Gefühl, etwas Sinnvolles und Bedeutsames zu tun, unser Selbstbild stabilisiert sich.
Kollektive Wir-Perspektive
An dieser Stelle sollte man eine Art Rätsel erwähnen, dem Guy Itzchakov und andere in ihren Studien immer wieder begegnen: Nach einem Gespräch sind sich beide Seiten längst nicht jedes Mal darüber einig, wie gut das mit dem Zuhören gerade geklappt hat. „Im Durchschnitt ist die Übereinstimmung der beiden viel niedriger, als man erwarten würde“, sagt Guy Itzchakov. In Beratungs- und Coachinggesprächen gehört es deshalb zum Standard, am Ende der Sitzung gezielt nachzufragen, was der Klient oder die Klientin eigentlich erlebt hat: „Wie ist es aus deiner Sicht gelaufen? Wo stehst du jetzt, wenn du das mit dem Anfang dieser Sitzung vergleichst?“
Doch manchmal sind die Gesprächspartner sich auch einig: Ja, ich habe intensiv zugehört. Ja, ich hatte den Eindruck, dass du bei mir warst mit ganzem Ohr und ganzem Herzen. „Dabei entsteht dann etwas, das größer ist als die beiden Einzelwesen“, erklärt Guy Itzchakov. „Wir haben dieses Phänomen immer wieder erlebt in unseren Workshops, Seminaren und bei unseren Experimenten.“ Er und Kluger haben für diesen gleichsam magischen Moment einen Namen gefunden. Sie nennen es togetherness, was man im Deutschen am ehesten mit „Zusammenheit“ übersetzen könnte.
Die beiden am Gespräch beteiligten Menschen sehen die Welt aus einer kollektiven Wir-Perspektive, sie denken und fühlen als eine Einheit. „Das ist ein einzigartiger psychischer Zustand“, sagt Guy Itzchakov. Er ist sich darüber im Klaren, dass er, wenn er von „Zusammenheit“ spricht, ebenso wie Carl Rogers den Grenzbereich des Mystischen berührt. Dennoch glaubt er, diesen Zustand irgendwann empirisch nachweisen zu können. „Derzeit arbeiten wir an Methoden, wie man togetherness messen kann“, erläutert Itzchakov. „Aber ich gebe zu: Wir sind damit noch ganz am Anfang.“
Kann ich gut zuhören?
Deutlich leichter kann die Wissenschaft im Moment eine ganz andere Frage beantworten: Wie genau spüren wir eigentlich, ob wir gut zuhören können oder nicht? Die Antwort klingt wenig schmeichelhaft. In einer solchen Studie stuften sich mehr als 90 Prozent der Teilnehmenden als „überdurchschnittlich gute Zuhörer“ ein. Eine andere Untersuchung kommt zum Ergebnis, dass wir uns in kaum etwas so stark überschätzen wie beim Zuhören. Tatsächlich können die meisten Menschen das vermutlich weniger gut, als sie glauben.
Und sicher: Wenn gutes Zuhören dennoch gelingt, dann liegt das zum Teil daran, dass eine der beiden fesselnd erzählen und die andere ganz wunderbar zuhören kann. Doch Guy Itzchakov hat in einer seiner Studien herausgefunden: In den meisten Fällen liegt gutes Zuhören nicht am Talent der Einzelpersonen. Die Magie entsteht vielmehr in der sogenannten Dyade. Es kommt also darauf an, wie gut die Chemie stimmt zwischen zwei Menschen in einer konkreten Situation. Es ist wie beim Tanzen: Manchmal gelingt die „Zusammenheit“ mit zauberhafter Leichtigkeit und wie von selbst. Ein Mensch trifft den anderen und es macht einfach klick.
In der Haltung des Nichtwissens
Kann man anderen dabei helfen, solche Klickmomente häufiger zu erleben? Guy Itzchakov nickt. Inzwischen gibt er regelmäßig Workshops und Seminare im guten Zuhören. „Nach meiner Erfahrung läuft das wie beim Fahrradfahren“, sagt er. „Es hilft zwar, wenn man ein paar Dinge über Techniken und Theorie erfährt, aber um es wirklich zu lernen, muss man in erster Linie üben.“
Eine von Itzchakovs Hausaufgaben lautet deshalb: „Versuche in dieser Arbeitswoche, jeden Tag etwas Neues über jemanden aus der eigenen Firma zu erfahren.“ Damit nähert man sich den Kolleginnen und Kollegen automatisch mit Neugier, mit einer Haltung des Nichtwissens – und deshalb mit einem offenen Ohr. Klar: Es hilft, die wichtigsten Anzeichen für gutes Zuhören zu kennen und zu beherzigen. Doch in seinen Seminaren erfährt Itzchakov immer wieder, dass zu viel Theorie unser Zuhören sogar schlechter machen kann. Wir sind dann mit unserer Aufmerksamkeit nicht mehr beim Gegenüber, sondern bei all den Regeln, die wir krampfhaft beherzigen wollen.
Vier Feinde des guten Zuhörens
Auch das hat den israelischen Forscher auf eine Idee gebracht: Könnte es so etwas geben wie „die inneren Feinde des guten Zuhörens“? Tatsächlich hat die Forschung dabei vor allem vier Faktoren ermittelt.
Die Angst vor Veränderung. Wer anderen zuhört, läuft automatisch Gefahr, die eigenen Ansichten korrigieren zu müssen. Wer sich davor fürchtet, wird die Ohren verschließen und im Kopf bereits eine geschliffene Antwort formulieren, statt aufmerksam zuzuhören.
Die Ablenkung durch „Chatter“. Wenn wir gestresst sind, rasen uns tausend Gedanken durch den Kopf. Der Sozialpsychologe Ethan Kross hat dieses innere Dauergeplapper treffend als „Chatter“ bezeichnet. Dieses Gedankengeschnatter macht uns zu schlechteren Zuhörerinnen und Zuhörern. Guy Itzchakov empfiehlt deshalb vor jedem Gespräch eine kurze Atemübung oder Meditation. Noch besser: Wir sorgen vor dem Gespräch dafür, dass ein anderer Mensch uns gerade aufmerksam zugehört hat. Das innere Gelaber verstummt – und wir können uns mit voller Aufmerksamkeit unserem Gegenüber zuwenden.
Die Angst vor Statusverlust. Wer das Wort führt, begibt sich automatisch in eine Position der Macht. Manche Menschen fürchten umgekehrt einen Statusverlust, wenn sie erst einmal zuhören und ihrem Gegenüber das Rederecht einräumen. Diese Angst macht uns zu schlechteren Zuhörern.
Die Furcht vor Nähe. Es gibt auch auf der Gegenseite eine innere Haltung, die das Zuhören erschwert. Denn Zuhören erzeugt Nähe, und nicht jede und jeder hält diese Nähe aus. Mehrere Studien haben inzwischen gezeigt, dass Menschen mit einem „vermeidend-ambivalenten Bindungsstil“ sich unwohl fühlen, wenn ihnen jemand empathisch zuhört. Die Bindungsscheuen fürchten das offene Ohr – und profitieren messbar weniger davon als der Rest der Menschheit.
Das wohl ehrgeizigste Projekt in der Arbeit von Guy Itzchakov liegt allerdings noch in der Zukunft. Er will erforschen, wie gutes Zuhören Menschen zusammenbringt, die einander eigentlich nicht leiden können, die an unterschiedliche Götter glauben oder unterschiedliche Parteien wählen. „Wir sehen in unseren Experimenten, dass wir weniger extreme Positionen einnehmen, wenn uns jemand wirklich zuhört, dass unsere Grundeinstellung weniger extrem und einseitig wird“, sagt Guy Itzchakov. Jetzt treibt ihn die Frage um: Wie könnte man dieses Phänomen nutzen, damit ganze Gruppen einander neu und weniger feindlich begegnen? Die Psychologie des Zuhörens könnte ein Weg werden, mehr Frieden in eine kriegerische Welt zu bringen. Carl Rogers wäre damit vermutlich sehr einverstanden.
Die 7 Signale, dass jemand gut zuhört
Wiederholt mit eigenen Worten, was wir gerade gesagt haben
Sieht uns in die Augen und hält den Blickkontakt
Fragt nach, sobald etwas nicht verstanden wurde
Unterbricht nicht, lässt vor dem eigenen Sprechen eine kleine Pause
Nickt und sendet paraverbale Signale („mhm, mhm“)
Richtet den Körper auf uns aus
Stellt relevante, offene Fragen
Die 7 Signale, dass jemand nicht gut zuhört
Wechselt abrupt das Thema
Spricht mit ungeduldigem Unterton
Erteilt ungefragt Ratschläge
Schaut parallel aufs Handy
Will schon sprechen, ehe wir unseren Satz beendet haben
Dreht sich von uns weg
Zeigt mit seiner Mimik Zweifel an unseren Worten
Quellen
Guy Itzchakov, Netta Weinstein, Mark Leary, Dvori Saluk & Moty Amar: Listening to Understand: The Role of High-Quality Listening on Speakers' Attitude Depolarization During Disagreements, Journal of Personality and Social Psychology, November 2023 (online ahead of print)
Avraham Kluger, Guy Itzchakov: The Power of Listening at Work. Annual Review of Organizational Psychology and Organizational Behavior, 9, 2022, 121–146
Avraham Kluger, Thomas Malloy, Sarit Pery, Guy Itzchakov, Dotan Castro, Liora Lipetz, Yaron Sela, Yaara Turjeman-Levi, Michal Lehmann, Malki New & Limor Borut: Dyadic Listening in Teams: Social Relations Model. Applied Psychology, 70/3, 2021, 1045–1099
Guy Itzchakov, Avraham Kluger: The Power of Listening in Helping People Change. Harvard Business Review, 05/2018
Dotan Castro, Avraham Kluger, Guy Itzchakov: Does avoidance-attachment style attenuate the benefits of being listened to? European Journal of Social Psychology, 46/6, 2016, 762–775
Carl Rogers: Empathic: An Unappreciated Way of Being. The Counseling Psychologist, 5/2, 1975, 2–10
Carl Rogers: On Becoming a Person. A therapist’s view of psychotherapy. Constable 1961
Carl Rogers: Entwicklung der Persönlichkeit. Psychotherapie aus der Sicht eines Therapeuten (Deutsche Ausgabe von On Becoming a Person). Klett-Cotta 2018
Scott Wickman, Cynthia Campbell: An Analysis of How Carl Rogers Enacted Client-Centered Conversation With Gloria. Journal of Counseling and Development, 81, 2003, 178–184