Von allen Städten, die wir kennen, haben wir ein Bild im Kopf. Entdecken wir eine neue Stadt, weist unsere innere Kartierung hingegen nur wenige ausgeleuchtete Stellen auf. Hier die neue Wohnung mit den umliegenden Straßen, da das Stadtviertel, in dem man arbeitet oder studiert, und dort das Zentrum mit seinen Sehenswürdigkeiten, Geschäften und Ausgehmöglichkeiten. Aber was liegt dazwischen?
Man sieht den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr
Zu Fuß oder auf dem Fahrrad kann man die Verbindungen zwischen…
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Zu Fuß oder auf dem Fahrrad kann man die Verbindungen zwischen den Bildteilen ausleuchten. Je langsamer man sich bewegt, desto intensiver ist die Wahrnehmung der Umgebung, desto mehr Details fallen einem auf. Wer sich aber sehr langsam bewegt, verliert leicht den Blick fürs große Ganze. Man sieht den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr oder eher: Man sieht die Stadt vor lauter Gebäuden und Straßen nicht mehr. Das Fahrrad kann ein guter Kompromiss sein: schnell genug, um voranzukommen, und dennoch langsam genug, um all die gewonnenen Sinneseindrücke zu verarbeiten.
Während man in die Pedale tritt, bemerkt man, wie sich der Charakter der Stadt verändert, an einigen Stellen nur langsam und graduell, an anderen schlagartig. Auf manchen Straßen ist zu sehen, wie die Zahl der Geschäfte langsam abnimmt, die Gehsteige leerer und die Gebäude niedriger werden. Schnelle Übergänge sind manchmal förmlich spürbar.
Abrupter Stimmungswechsel
Während meines Studiums habe ich in der Nürnberger Altstadt gewohnt, wo fast die gesamte Bodenfläche versiegelt ist und wenig Wind durchzieht. Wenn ich an Sommerabenden am Fluss entlanggeradelt bin, spürte ich beim Passieren der Stadtmauer schlagartig feuchtere und kühlere Luft. Plötzliche Veränderungen gibt es aber nicht nur zwischen verschiedenen Mikroklimata.
Vielleicht radelt man in eine Bahnunterführung hinein, und plötzlich ist die Stimmung ganz anders, der Ort hat einen anderen Charakter. Besonders oft finden sich solche abrupten Übergänge an natürlichen oder an baulichen Grenzen, wenn etwa ein Neubaugebiet direkt an ein älteres Quartier grenzt oder wenn eine Bahnlinie, eine größere Straße oder ein Fluss ein Stadtviertel durchtrennt.
Die Radtour eignet sich also für Beobachtungen unserer sozialen Welt. Wo reihen sich Baugerüste aneinander, weil jede Fassade renoviert wird, um zahlungskräftigere Mieterinnen anzulocken? Wo ist es sauber und wo liegt mehr Müll? Wo stehen Luxusautos, wo Kleinwagen und wo beides nebeneinander? In manchen Stadtteilen fallen einem Boutiquen ins Auge, in anderen Barbershops, Bioläden oder Discounter – und in manchen Gegenden gibt es überhaupt keine Geschäfte.
Angesagt oder abgeranzt?
Wer mit offenen Augen durch eine Stadt radelt, bekommt einen Eindruck von der Sozialstruktur. Man erlebt, welche Altersgruppen und Milieus die einzelnen Viertel prägen und welche Stimmungen damit einhergehen. Man spürt, wo man nur schnell weiter und weg will. Zudem gewinnt man einen Eindruck, ob in einem Viertel soziale Ungleichheit herrscht oder es eher sozial durchmischt ist und ob hier bestimmte Gruppen unter sich sind.
Ein Verkehrsmittel bringt uns nicht allein von A nach B, es kann auch Ausdruck eines Lebensstils und ein Mittel zur Selbstdarstellung sein. Dessen werden wir gewahr, wenn Luxusautos gerade dort den Motor aufheulen lassen, wo besonders viel Publikum ist.
Welche Botschaft sendet man an seine Umwelt, wenn man mit dem Rad unterwegs ist? Wie wird man gesehen und wie möchte man sich vielleicht selbst darstellen? Reichtum lässt sich auf dem Fahrrad eher schwer zur Schau stellen. Bessere Chancen hat, wer sich als umweltbewusst, gesundheitsbewusst, sportlich oder modern präsentieren will. Vielleicht demonstriert man auch: Ich brauche keine klassischen Statussymbole.
Der Verzicht auf klassische Statussymbole fällt manchen leichter als anderen. Die Herzchirurgin kann auf einem alten, klapprigen Drahtesel zur Arbeit fahren, ohne dass sie deshalb von ihrem Umfeld als unerfolgreich wahrgenommen wird. Beim Versicherungsmakler, der von Provisionen lebt, könnte dasselbe günstige Fahrrad eher als Zeichen für mangelnden beruflichen Erfolg interpretiert werden. Die Forschung zeigt, dass diejenigen Menschen, die ihre gesellschaftliche Stellung als weniger gesichert wahrnehmen, eher fürchten, mit einem Fahrrad als beruflich erfolglos gesehen zu werden: „Wenn du es geschafft hast, kaufst du dir ein Auto und kein Fahrrad.“
Ohne Statusangst radeln
Wer hohe Bildungsabschlüsse und einen prestigeträchtigen Beruf vorzuweisen hat, sieht den eigenen Sozialstatus seltener infrage gestellt und kann ohne skeptische Blicke des Umfeldes und ohne Statusangst radeln. Empirische Daten unterstreichen das: Menschen mit höherer Bildung fahren im Schnitt deutlich häufiger Rad, selbst wenn sie in ähnlichen Stadtvierteln leben und gleiche Entfernungen zurücklegen als weniger Gebildete.
Manchmal ist man in Eile und rast wie mit Scheuklappen durch die Straßen, nur auf Ausschau nach dem schnellsten Weg oder Gefahrenquellen, etwa Autotüren, die sich plötzlich öffnen und den Radweg versperren könnten. Mit etwas mehr Muße kann die Stadt rollend erkundet und besser verstanden werden. Egal ob man im Urlaub eine neue Metropole entdecken oder seinen Wohnort noch besser kennenlernen will: Beim Radeln wird das Tableau der Stadt an immer mehr Stellen beleuchtet und es kommen neue Farben, weiche Übergänge und scharfe Kontraste hinzu.
Dr. Ansgar Hudde ist akademischer Rat auf Zeit am Institut für Soziologie und Sozialpsychologie der Universität zu Köln. In seiner Forschung beschäftigt er sich mit Themen wie Familie, Lebensverlauf, politische Einstellungen sowie Mobilität und Stadt.
Quellen
Ralph Buehler, John Pucher (Hg.): Cycling for Sustainable Cities. MIT Press 2021
Ansgar Hudde: Educational differences in cycling: Evidence from German cities. Sociology, 56/5, 2022, 909–929
Rebecca Steinbach u.a: Cycling and the city: A case study of how gendered, ethnic and class identities can shape healthy transport choices. Social Science & Medicine, 72/7, 2011, 1123–1130