Im Fokus: Die Klimabewegung

Um die Klimabewegung Fridays for Future wurde es ruhig. Radikalere Gruppen bekommen mehr Gehör. Wohin geht der Klimaprotest?

Aktivistinnen und Aktivisten der "Letzten Generation" bringen Tempo-100-Schilder zum Bundesministerium für Digitales und Verkehr in Berlin im Oktober 2022
Im Oktober 2022 bringen Aktivistinnen und Aktivisten der „Letzten Generation“ Tempo-100-Schilder zum Bundesministerium für Digitales und Verkehr in Berlin. © PIC ONE | Stefan Müller/picture alliance

Herr Bleh, von Fridays for Future ist seit vergangenem Jahr relativ wenig zu hören. Die Bewegung sei im „Wachkoma“, attestierte ihr Die Zeit 2022. Wie ist das zu erklären? Gleichzeitig steigt doch weltweit der Verbrauch von fossilen Energien infolge des Ukrainekriegs.

Ein Grund für den Abschwung war die Covid-19-Pandemie. Es gab nur noch ein Thema in den Nachrichten. Zugleich wurde das Demonstrationsrecht beschränkt. Damit wurden der Bewegung die wichtigsten Druckmittel aus der Hand genommen, um auf die…

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beschränkt. Damit wurden der Bewegung die wichtigsten Druckmittel aus der Hand genommen, um auf die Politik Einfluss zu nehmen. Außerdem wurden Schulen und Universitäten geschlossen, also die Orte, an denen sich die Bewegung getroffen und ihre Identität gebildet hatte.

Aber der Abschwung hat ja schon vor der Pandemie begonnen.

Stimmt. Die große Mobilisierungswirkung hat schon Ende 2019 nachgelassen, weil sich der Protest veralltäglicht hat – wir haben uns an ihn gewöhnt. Gleichzeitig setzte auch in den Medien eine Sättigung ein und es wurde weniger berichtet, was wiederum weniger Menschen zu den Demonstrationen lockte.

Andererseits hat Fridays for Future kurz vor den Bundestagswahlen 2021 über 600000 Menschen auf die Straße gebracht.

Das lag daran, dass es mit dem Wahlkampf mal wieder einen Anlass gab, und das ist ganz wichtig für die Mobilisierung. Überhaupt ist es für Bewegungen typisch, dass sie mal stärkere und mal schwächere Phasen haben. Es ist möglich, dass sich irgendwann Massenproteste wie im Jahr 2019 wiederholen. Das muss nicht einmalig gewesen sein. Fridays for Future hat nämlich im Gegensatz zu vielen anderen sozialen Bewegungen der Vergangenheit etwas Bleibendes geschaffen.

Was denn?

Eine junge Generation, die sich politisiert hat und für die Klimakrise sensibilisiert wurde. Die klimapolitischen Forderungen haben deshalb eine ganz andere gesellschaftliche Legitimation bekommen und sind heute in der Gesellschaft viel präsenter. Die Bewegung hat ihre Mobilisierungskraft nicht verloren. In den Talkshows sitzen regelmäßig Klimaaktivistinnen und -aktivisten und diskutieren mit. Das Thema wird bleiben – und Fridays for Future auch.

Wie ist es Fridays for Future eigentlich gelungen, in so kurzer Zeit so viele Menschen zu mobilisieren und sich dann zu etablieren, während frühere Umweltbewegungen nach relativ kurzer Zeit wieder in der Versenkung verschwunden sind?

Die Bewegung kam genau zur richtigen Zeit. Das Pariser Klimaabkommen war bereits beschlossen, es wurde aber in Deutschland und anderen Ländern nur halbherzig umgesetzt. Im Jahr 2018 hatte außerdem eine Rekorddürre weite Teile Europas im Griff. Im gleichen Jahr gewannen Klimaaktivistinnen und -aktivisten den Kampf um den Hambacher Forst. Fridays for Future konnte also auf die Vorarbeit von anderen Klimagruppen aufbauen. Das Problembewusstsein war schon da, nur die Massenmobilisierung noch nicht. Daran hatte Greta Thunberg den wichtigsten Anteil. Die Schwedin hat die Bewegung durch ihren Schulstreik überhaupt erst initiiert und so stark gemacht.

Warum war diese Gruppenbildung so wichtig?

Gruppen schaffen Bedeutung für uns. Sie helfen uns, unsere Identität zu definieren. Ein Fußballverein, eine Nation, eine Berufsgruppe. Greta Thunberg hat eben dieses Gruppenverständnis geschaffen. Sie hat das politische Erwachen der jungen Generation angestoßen, indem sie die gemeinsame Betroffenheit durch die Klimakrise sichtbar gemacht hat. Sie hat die Identität dieser Gruppe bestimmt und selbst als Identifikationsfigur fungiert.

Wie hat ein 15-jähriges Mädchen das geschafft?

Im Grunde hat sie mit ihren unverblümten Botschaften auch zur Verunsicherung in ihrer Generation beigetragen – und das war entscheidend. Wenn in Menschen das Gefühl von Unsicherheit und Unkontrollierbarkeit ausgelöst wird, neigen sie dazu, sich Gruppen anzuschließen. Gruppen machen uns handlungsfähig.

Auf die Klimakrise können wir allein kaum Einfluss nehmen – wir brauchen dafür eine Gemeinschaft, die uns das Gefühl von Kontrolle und Sicherheit zurückgibt. Eine Gruppe gibt uns zudem Klarheit und Sinn für unser eigenes Leben, sie hilft, unser Selbstbild und unsere Ziele zu definieren, indem wir uns mit ihr identifizieren.

Aber eine Gruppe allein verändert ja noch nicht die Welt, nehmen wir die Fans eines Fußballvereins.

Das stimmt. Greta Thunberg hat es geschafft, die öffentliche Debatte auf eine gesellschaftliche Schicksalsgruppe zu lenken: die jungen Menschen, die von der Klimakrise betroffen sind. Das gab es vorher nicht. Entscheidend war dann, dass sie diese Gruppe der jungen Menschen bestimmt hat als diejenigen, die die Politik zwingen müssen, eine nötige Veränderung umzusetzen. Mit dem Schulstreik hat sie ein wirksames Mittel dafür gefunden. Er hat die Gruppe handlungsfähig gemacht und er hat gesellschaftlich den richtigen Nerv getroffen.

Inwiefern?

Das Geheimnis dieses Schulstreiks ist, dass er in seiner Außenwirkung provokativ war und damit viel Aufmerksamkeit erzeugt hat, aber trotzdem von der Mehrheit der Gesellschaft unterstützt wurde. Das lag daran, dass die jungen Menschen ihn moralisch sehr gut rechtfertigen konnten.

Mit dem Normbruch der Schulpflichtverweigerung haben sie auf den Normbruch der inkonsequenten Klimapolitik aufmerksam gemacht. Die Schülerinnen und Schüler haben sich der Schulpflicht widersetzt, weil die Regierung mit ihrer Politik ihre Unversehrtheit und ihre Zukunft auf einem gesunden Planeten verletzt hat, also ein individuelles Freiheitsrecht missachtet hat. Fridays for Future fordert die Verbindlichkeit des Pariser Klimaabkommens von denen ein, die es abgeschlossen haben, also den Regierungen. Es wird nicht mehr und nicht weniger gefordert als Integrität.

Inwiefern unterscheidet sie das von ­älteren Klimabewegungen?

Diese haben eher die globale Gerechtigkeit betont, also die Solidarität mit dem globalen Süden. Das Aufkommen von Fridays for Future hat die Generationengerechtigkeit hervorgehoben. Dadurch hat es diese neue Bewegung geschafft, aus einem abstrakten Problem ein konkretes Problem junger Menschen zu machen. Also die Klimakrise in die Lebenswelt der Menschen zu holen, schließlich haben die allermeisten Menschen Kinder, Enkelinnen und Enkel oder Nichten und Neffen. Die Kommunikationsforschung sagt uns, dass wir die Klimakrise erfahrbar machen müssen, um Menschen von der Dringlichkeit des Handelns zu überzeugen. Und das hat lange Zeit überhaupt nicht funktioniert.

Warum nicht?

Auf den Postern der alten Umweltbewegung prangte der Eisbär auf der Scholle am Nordpol. Das war superweit weg von den Leuten – es war ja nicht mal ein Mensch! Auch die Forderung, dass jeder selbst sein Verhalten ändern sollte, war nicht gerade motivierend. Es ging an der Ursache des Problems vorbei.

Dann kam die Klimagerechtigkeitsbewegung und hat den Fokus auf die umweltzerstörerische kapitalistische Wirtschaftsweise gelegt und auf die Menschen im globalen Süden, die am wenigsten zum Klimawandel beigetragen haben, aber am meisten unter ihm leiden. Das ist moralisch eine starke Position, aber für die allermeisten immer noch schwer greifbar geblieben. Letztendlich hat Greta Thunberg gesagt: Die Leidtragenden sind die Kinder und Jugendlichen und das Problem sind die eigenen Regierungen. Das hat das Problem viel konkreter und erfahrbarer gemacht und damit Dringlichkeit erzeugt.

Und das obwohl die Aktivistinnen und Aktivisten von Fridays for Future gar nicht genau sagen, was getan werden muss.

Sie fordern, bestehende klimapolitische Beschlüsse umzusetzen, lassen aber offen, wie das erreicht werden soll. Sie fordern nicht, den Kapitalismus zu überwinden, sondern lediglich: Haltet euch an das, was abgemacht ist.

Inzwischen werden aber kapitalismuskritische Stimmen innerhalb der Bewegung lauter.

Ja, die Debatte hat sich verändert. Wer über Lösungen in der Klimakrise reden möchte, muss schließlich auch die Frage beantworten, wie wir in Zukunft klimaneutral produzieren und konsumieren. Fridays for Future fordert aber nicht, unseren Wohlstand abzuschaffen. Die Bewegung ist sich sehr bewusst über ihre Außenwirkung und will nicht wie eine linksradikale Bewegung aussehen und damit ihre breite Unterstützung verlieren. Die Frage ist, wie man über einen wirtschaftlichen Systemwechsel redet, ohne die Leute abzuschrecken. Denn um das 1,5-Grad-Ziel noch zu erreichen, müssten sich Gesellschaft und Wirtschaft von Grund auf wandeln.

Das Protestmittel des Schulstreiks hat sich erschöpft, sagen Sie. Was könnte der Bewegung denn neuen Schwung verleihen? Das Protestbündnis „Ende Gelände hat Kohletagebaue besetzt und Sachbeschädigung als grundsätzlich legitimes Mittel eingestuft. Ist das die Zukunft des Klimaaktivismus? Und sind Szenen wie in Lützerath im Januar dann die Zukunft des Klimaaktivismus?

Auch wenn Menschen bestimmte Protestaktionen nicht gutheißen, können diese trotzdem auf ein Problem aufmerksam machen. Damit sich aber breite Teile der Gesellschaft einer sozialen Bewegung anschließen, muss die Mehrheit die Protestaktionen als gerechtfertigt betrachten. Wenn wir Aktionen als unmoralisch bewerten, finden wir keinen emotionalen Zugang zu den Protestierenden und fühlen uns so einer Bewegung dann natürlich auch nicht zugehörig.

Also lieber stillhalten und nach den Regeln spielen, obwohl die Klimakatas­trophe naht?

Im Prinzip kann auch normabweichender ziviler Ungehorsam – also etwa Sabotage oder die Zerstörung von Eigentum – Anklang in der Gesellschaft finden, wenn er sich klar erkennbar gegen eine unmoralische Machtausübung der Politik wendet, die konträr zu den Grundwerten der Gesellschaft steht – also etwa der Freiheit und Unversehrtheit der nachfolgenden Generationen. Aber die moralische Rechtfertigung muss eben klar erkennbar sein. Das war zum Beispiel bei den Klimaaktivistinnen und -aktivisten der Letzten Generation nicht immer der Fall.

Was war passiert?

Anfangs war für viele überhaupt nicht klar, wogegen sich der Protest der Letzten Generation richtet. Aktivistinnen und Aktivisten dieser Bewegung hatten zum Beispiel in Berlin Essen auf den Boden geschmissen, um gegen Lebensmittelverschwendung zu protestieren. Aber zwischen Straßenblockade und Lebensmittelverschwendung fehlte jeder Bezug, das war für die Breite der Gesellschaft überhaupt nicht nachvollziehbar. Hätten sie die Müllabfuhr beim Abholen der mit Lebensmitteln gefüllten Müllcontainer am Supermarkt blockiert, hätte es vielleicht eine moralische Rechtfertigung gegeben.

Die Gruppe bekommt derzeit besonders viel Aufmerksamkeit, weil sie sich auch an Gemälde kleben oder Rollfelder von Flughäfen besetzen. Bringen solche Aktionen denn überhaupt etwas?

Ohne sie würden wir gerade nicht so viel über die Klimakrise sprechen. Mit ihren Aktionen rütteln sie die Menschen auf. Die Gesellschaft erkennt, dass da ein Problem ist, das viel zu lange ignoriert wurde.

Aber die meisten Leute reagieren doch eher genervt darauf?

Eine Studie zur Black Lives Matter-Bewegung in den USA hat gezeigt, dass disruptiver Protest – also Störungen des Alltags – durchaus viele Menschen dazu bewegen kann, das Anliegen der Bewegung zu unterstützen. Laut den Autorinnen und Autoren der Studie könnte eine Erklärung dafür sein, dass disruptiver Protest Zugeständnisse erzwingen kann, auch gerade weil die Leute in ihrem Alltag dadurch gestört werden.

Heißt das, dass die FDP irgendwann entnervt aufgeben und und sich zum Tempolimit bekennen wird?

Zumindest die moderaten Konservativen oder Liberalen könnten irgendwann zu Zugeständnissen bereit sein, wenn man der Logik der erwähnten Studie zu Black Lives Matter folgt. Ob das im Fall der Straßenblockaden der Letzten Generation aber auch so ist, lässt sich überhaupt nicht absehen.

Die CDU-geführten Länder wollen nach der Besetzung des Berliner Flughafens durch die Letzte Generation prüfen, ob die Bewegung eine „kriminelle Vereinigung“ darstellt. Wird das die Aktivistinnen abschrecken?

Zumindest beim Protest von Ende Gelände hat auch eine Verschärfung des Polizeigesetzes die Leute nicht davon abgehalten, weiterhin zahlreich an den Blockaden teilzunehmen. Auch die andauernden Proteste der Letzten Generation zeigen: Die Aktivistinnen und Aktivisten meinen es ernst und lassen sich nicht so schnell entmutigen. Sie werden das durchziehen, auch wenn die persönlichen Konsequenzen unangenehmer werden könnten.

Wenn Menschen für ein moralisch überzeugendes Anliegen protestieren und der Staat ungerechtfertigt hart dagegen vorgeht, kann das auch zu mehr Empathie mit den Aktivistinnen und Aktivisten in der Bevölkerung führen. So weit sind wir aber noch nicht.

Der Politikwissenschaftler Alexander Straßner von der Universität Regensburg spricht hingegen sogar von einer Radikalisierung der Klimabewegung, die ihn an die Anfänge der RAF erinnere. Hat er recht?

Das ist absolut realitätsfremd. Zu solchen Urteilen kann nur jemand kommen, der keinen Kontakt zur Bewegung hat. Denn die unterschiedlichen Gruppen betonen immer wieder das Prinzip, keine Gewalt gegenüber anderen Menschen auszuüben. Diese Menschen mit einer Gruppe zu vergleichen, die auch vor Mord nicht zurückgeschreckt hat, spielt nur Verschwörungstheoretikern in die Hände.

Was braucht die aktuelle Klimabewegung Ihrer Meinung nach?

Eine Vision. Im Sommer ist eine Studie mit dem Titel Übers Klima reden von der Nichtregierungsorganisation Climate Outreach erschienen. Diese attestierte der deutschen Bevölkerung einen Mangel an positiven Zukunftsvisionen. Das ist sicherlich ein Grund dafür, warum das Gefühl von Hilflosigkeit gegenüber der Klimakrise so stark verbreitet ist.

Deshalb wäre es wichtig, all den Niedergangs- und Verlustszenarien eine sozialökologische Zukunftsvision entgegenzustellen. Das würde mehr Menschen mobilisieren, für Veränderungen hin zu einer klimaneutralen Gesellschaft einzutreten. Ohne gesellschaftliche Vision herrscht gesellschaftliche Stagnation.

Julian Bleh forscht als Sozialpsychologe an der Universität Leipzig zu gesellschaftlichen Visionen, sozialen ­Bewegungen und kollektivem Handeln. Er hat einen Fachartikel über die Erfolgsfaktoren von Fridays for Future geschrieben.

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 3/2023: Alles fühlen, was da ist