Übergriffe in der Pflege: „Stöhnst du beim Sex auch so?“

Herumkommandieren, treten, spucken – eine Pflegekraft berichtet über die Respektlosigkeit und Übergriffe von Klientinnen und Klienten in ihrem Beruf.

Eine Pflegekraft kümmert sich um einen Patienten
Pflegekräfte gehen Seniorinnen und Senioren bei vielen großen und kleinen Tätigkeiten zur Hand, sei es das Schneiden der Nägel oder das Zusammenstellen der Medikamente. © Branimir76/Getty Images

Seit fast 20 Jahren arbeite ich als examinierte Krankenschwester bei einem ambulanten Pflegedienst. Ich fahre zu den Leuten nach Hause und übernehme die medizinische Versorgung: Insulin spritzen, Blutzuckerprotokolle, Medikamente verabreichen, Kompressionsstrümpfe anziehen. Manchmal wasche ich sie auch.

Ich mache meine Arbeit sehr gern. Ich wünsche mir nur mehr Wertschätzung dafür, finanziell, aber auch persönlich. Wir kommen zu den Men­schen, helfen ihnen bei Aufgaben, die sie nicht mehr selbst erledigen können, und trotzdem sind einige respektlos, kommandieren mich herum oder werden sogar übergriffig. Das ist nicht die Mehrheit, aber es kränkt mich, von oben herab oder nicht wertschätzend behandelt zu werden. So nach dem Motto: Was machst du denn schon?

Manche denken, weil sie ein dickes Haus haben, können sie einer kleinen Krankenschwester abschätzend gegenübertreten. Anderen kann ich gar nichts rechtmachen. Wenn ich ihnen die Kompressionsstrümpfe anziehe, sagen sie: „Die Strümpfe kneifen, da ist noch eine Falte.“ Auch wenn ich keine sehe. Ich rutsche vor ihren Füßen auf dem Boden rum und werde behandelt wie ein Dienstbote. Oder sie beschweren sich, wenn ich nicht auf die Minute pünktlich bin. Die sehen immer nur sich und verstehen nicht, dass ich an dem Tag noch andere Klientinnen und Klienten besuchen muss.

Jeden Tag fahre ich etwa 20, 30 Kilometer und sehe in sechs Stunden durchschnittlich 16 bis 20 Menschen. Das heißt: rein ins Auto, fahren, Parkplatz suchen, Treppen rauf, Treppen runter, weiter geht’s. Ich muss mich immer beeilen. Die Kompressionsstrümpfe dürfen nicht zu spät angezogen werden, sonst sind die Beine zu dick, das Insulin muss zu einer bestimmten Zeit gespritzt werden. Der Beruf ist körperlich anstrengend, ich merke es im Rücken, in den Knien. Die Finger tun weh vom Zerren an den Strümpfen.

Klare Grenzen setzen bei sexueller Belästigung

Viele unserer Klientinnen und Klienten sind 80 Jahre und älter und dement. Bei Dementen kommt alles vor: schlagen, spucken, beißen, treten. Da muss ich ruhig bleiben, sagen: „Ich möchte nicht, dass Sie mich treten.“ Oder ich versuche sie abzulenken, mache Musik an, frage sie, ob sie schon den frischen Kaffee riechen können. Eine Dame kann in einem Moment zuckersüß sein und im nächsten keift sie mich plötzlich an: „Geh weg, du Hexe!“ Das nimmt mich schon mit. Auch wenn ich weiß, dass es an der Demenz liegt.

Wir betreuen ein Ehepaar, bei dem der Mann leicht dement ist. Er hatte einen Schlaganfall, eine Hand ist gelähmt. Mit der anderen greift er nach mir. Wenn ich im Bett seinen Intimbereich wasche, macht er stoßende Bewegungen mit dem Unterkörper und fasst mir mit der Hand zwischen die Beine. Seine Frau ist dabei und schämt sich für ihn. Das war mal ein richtig feiner Herr, aber im Alter kommen die Triebe durch. Ich sage immer: „Nur angucken! Nicht anfassen!“ Dann lacht er. Und lässt es. Oder ich gebe ihm etwas in die gesunde Hand, damit er nicht greifen kann. Wegen seiner Demenz sieht er sich vielleicht als junger Mann. So erkläre ich mir das.

Andere haben diese Entschuldigung nicht. Ein Klient in meinem Alter hat immer anzügliche Bemerkungen gemacht. Wenn ich beim Anziehen der Kompressionsstrümpfe Mühe hatte, fragte er: „Stöhnst du beim Sex auch so?“ Oder er sagte: „Wenn ich dich sehe, vergrößert sich meine Körperoberfläche.“ Der dachte, er ist ein toller Hecht und kann eine Schwester rumkriegen. Mich hat das geärgert. Was bildet er sich ein?

Da musste ich eine klare Grenze setzen, habe einen arroganten Gesichtsausdruck aufgesetzt und ihm gesagt: „Ich kann mir die Männer aussuchen. Du glaubst doch wohl nicht, dass du interessant bist? Du bist für mich ein alter, kranker Mann.“ So rede ich normalerweise nicht, aber danach hat er verstanden, dass er für mich absolut nicht infrage kommt.

Wenn ich wollte, könnte ich auf Station Bescheid sagen und darum bitten, dass jemand anderes die Pflege übernimmt. Aber ich habe mir auf die Fahne geschrieben, dass ich damit klarkomme. Schließlich bin ich keine kleine Krankenschwester von 20 mehr, die bei so was rot wird.

Respekt und Würde stehen an erster Stelle

Den einen Mann kontere ich mit Humor. Dem anderen spiegele ich, dass es so nicht geht. Manchmal lösen sich die Situationen auch einfach so auf. Einmal musste ich mich in einem kleinen Badezimmer über einen Mann beugen, um an den Waschlappen zu gelangen. Da sagte er: „Wenn ich dein Fleisch sehe, könnte ich…“ Ich guckte ihn an. Darauf er: „Musst keine Angst haben, ich kann schon lange nicht mehr so, wie ich will.“ Das war es dann.

Für die Pflege macht es keinen Unterschied, ob jemand übergriffig ist oder nicht: Es ist nie angenehm, jemanden im Intimbereich zu waschen. Egal ob Mann oder Frau. Wenn es die Menschen noch verstehen, geht es vielen gegen das Schamgefühl. Darum sage ich immer, was ich vorhabe, und versuche sie mit einzubeziehen. Ich reiße niemandem wortlos den Schlüpfer runter und wasche ihn. Wenn jemand noch fit ist, drücke ich ihm den Waschlappen in die Hand und sage: „Machen Sie mal vorne, so weit sie kommen, und ich arbeite dann nach.“

Wer schon dement ist, der versteht manchmal nicht, was passiert, und kann die Situation nicht einordnen. Sie oder er wehrt sich, will nicht angefasst werden. Die Generationen, die wir pflegen, haben teilweise noch den Krieg erlebt. Frauen sind vielleicht vergewaltigt worden. Dann hast du jemanden in einem mit Kot beschmierten Bett liegen, der sich nicht drehen lassen will und dir mit den Händen ins Gesicht fasst. Ich konzentriere mich in solchen Situationen auf die Aufgabe. Wenn ich an etwas denke, dann daran, dass ich auch Hilfe haben wollte.

Mir ist wichtig, nie die Empathie für die Menschen zu verlieren. Vielleicht liegt es an den vielen Schicksalen, die ich schon gesehen habe, dem Tod und Sterben. Alle Menschen haben ein Recht darauf, mit Respekt behandelt zu werden. Nur wünsche ich mir diesen Re­spekt eben auch.

Lesen Sie hier mehr aus unserer Rubrik „Das halbe Leben“ rund um das Berufsleben:

Hintergrund zu Übergriffen im Pflegeberuf

Beschimpfungen, Bedrohen, sexuelle Belästigung, aber auch Kneifen, Kratzen und Schläge, Tritte oder Bisse, das erlebten laut einer Studie der Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege knapp 80 Prozent von insgesamt fast 2000 befragten Pflegekräften in den zwölf Monaten vor der Befragung. Durch die Übergriffe von Pflegebedürftigen habe sich rund ein Drittel der Befragten stark belastet gefühlt. Beschäftigte in der stationären Altenpflege waren laut der Befragung am stärksten betroffen.

Deeskalationstrainings gelten als wichtiges Instrument, um den Umgang mit Übergriffen zu verändern. Ziel einer Deeskalation ist, zu beruhigen und Schaden zu vermeiden. Dies lässt sich erreichen, indem Empathie, Ernsthaftigkeit, Respekt und Fairness sowie Ruhe gezeigt werden. Wichtig ist auch, schnell einzuschätzen, ob Hilfe notwendig ist.

Laut Studien führen die Trainings bei Pflegekräften zu mehr Selbstvertrauen, sichererem Auftreten und vermehrten Kenntnissen über Risiken. Sie verringern die Wahrscheinlichkeit, dass eine Situation zu sehr aus dem Ruder läuft.

Das Training allein kann jedoch nicht verhindern, dass Pflegebedürftige aggressiv werden. Zur besseren Vorbeugung brauche es weitere Präventionskonzepte sowie Betreuung der Pflegekräfte nach einem Gewaltvorfall. Das Arbeitsschutzgesetz ist die Grundlage dafür.

Susanne Ackermann

Quellen

Anja Schablon u.a.: Belastungen durch Aggression und Gewalt gegenüber Beschäftigten der Pflege- und Betreuungsbranche in Deutschland – ein Survey. In: Peter Angerer u.a. (Hg.): Arbeiten im Gesundheitswesen. Ecomed, Landsberg 2019

Christoph Heidrich u.a.: Prävention von Gewalt und Aggression gegen Beschäftigte im Gesundheitsdienst und der Wohlfahrtspflege. Eine Handlungshilfe für Arbeitgeber und Arbeitgeberinnen. Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung, Berlin 2018

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 3/2023: Alles fühlen, was da ist
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