„Ich brauche zu lange, ich bin zu schlecht“

Eine Lehrerin berichtet, warum es kaum möglich ist, etwas zu lehren und zugleich alle Vorgaben einzuhalten, ohne in Stress zu geraten.

Kinder im Klassenraum werfen ausgelassen mit Papierbällen
Was tun, wenn Schulkinder unterschiedlichen Förderbedarf haben, aber für Lehrkräfte eine individuelle Betreuung nicht möglich ist? © skynesher/Getty Images

Ich bin Lehrerin, ich wollte nie etwas anderes sein, aber der Spagat zwischen dem, was ich leisten müsste, und dem, was ich leisten kann, hat mich fast in ein Burnout getrieben. Seit mehr als zehn Jahren unterrichte ich Mathematik an einer Gemeinschaftsschule in Berlin. In meiner Klasse sitzen aktuell 25 Schülerinnen und Schüler, etwa die Hälfte lebt von staatlicher Unterstützung. Das weiß ich, weil ihnen das Jobcenter die Klassenfahrten bezahlt.

Viele haben weder richtig Deutsch gelernt noch die Sprache ihrer Eltern. Sieben Kinder haben einen Förderbedarf, die meisten wegen einer Lernschwäche. Sie können dem Unterricht nicht folgen und müssten eigentlich individuell betreut werden. Aber wie soll ich das schaffen? Ich würde gern alle da abholen, wo sie stehen, ich möchte sie experimentieren, etwas in die Hand nehmen lassen. Stattdessen ist vom Senat alles vorgegeben: Klassengröße, Klassenzusammensetzung, Lehrplan, Prüfungstermine.

In Mathe habe ich acht Wochen Zeit, um ein Thema wie lineare Gleichungen zu erklären. An einem Gymnasium mag das reichen. Bei uns nicht. Allein ein Koordinatensystem zu zeichnen und zu verstehen, dauert mehrere Unterrichtsstunden. Es wird so viel über individuelles Lernen gesprochen, aber am Ende müssen alle gleichzeitig die gleiche Prüfung schreiben – das widerspricht sich doch! Wir geben den Kindern nicht die Zeit, die sie brauchen. Ich habe ständig das Gefühl, dass ich nur einen Bruchteil der Klasse erreiche. Der größte Teil geht einfach unter.

Die Arbeit nahm kein Ende

Als Berufsanfängerin habe ich versucht, dagegen an zu arbeiten. Ich hatte nur noch die Arbeit, und die Arbeit hat nie aufgehört. Ich habe mir keine Freizeit mehr gegönnt, keine Freunde mehr getroffen, ich musste ja bis abends um zehn am Schreibtisch sitzen. Am Wochenende hat sich trotzdem ein riesiger Berg Arbeit vor mir aufgetürmt: E-Mails von Kolleginnen beantworten, Klausuren korrigieren, Fortbildungsangebote durchsehen. Samstags saß ich von morgens bis abends am Schreibtisch. Sonntags hatte ich frei, aber schlechte Laune, weil ich wusste: Morgen geht es wieder von vorne los.

Als ich es nicht mehr ausgehalten habe, bin ich ins andere Extrem gefallen: Viel ausgegangen, wenig gearbeitet. Morgens stand ich unvorbereitet vor der Klasse. Ich war unruhig, bin laut geworden. Ich war genervt, wenn die Schüler nicht auf mich gehört haben. Ich wusste nicht, wie ich mit blöden Bemerkungen umgehen sollte. Einmal dachte ich: „Ich bin unausstehlich. Kein Wunder, dass die Schüler nicht mit mir klarkommen.“ Ich bin unzufrieden in die Schule gekommen und unzufrieden wieder nach Hause gegangen. Ich habe das Problem immer nur bei mir gesucht: Ich brauche zu lange, ich bin zu genau, ich bin zu schlecht.

Aber dann kamen zwei Dinge zusammen: Mir ist aufgefallen, dass viele andere Kollegen keine volle Stelle haben und das gut finden. Es waren nicht nur Lehrerinnen und Lehrer, die Kinder haben, sondern auch solche, die allein sind, so wie ich. Daran habe ich mich orientiert und beschlossen, meine Stelle zu reduzieren. Und meine Mentorin hat mich ermutigt, diesen Schritt zu gehen. Das war die zweite Sache: Ich habe ein Mentoring angefangen.

Meine Mentorin ist Anfang sechzig und hat eine Ausbildung in systemischer Beratung, wir kannten uns flüchtig und sie hatte angeboten, dass wir uns einfach mal treffen. Das haben wir dann regelmäßig getan und darüber geredet, wie es mir geht. Sie hat mir geholfen, besser über mich selbst zu denken. Vorher dachte ich immer: Wenn ich mir eingestehe, dass ich eine volle Stelle nicht schaffe, muss ich mir eingestehen, dass ich schlecht oder schwach bin. Nach und nach konnte ich sehen: Das stimmt nicht. Einen Tag in der Woche habe ich jetzt offiziell frei.

Ein Alltag ohne Überforderung

An diesem Tag arbeite ich aber dennoch. Ich bereite den Unterricht vor, bastle zum Beispiel für Mathe geometrische Formen als Modelle. Oder ich mache Sachen, die ich im Schulalltag nicht schaffe, wie Elternbriefe schreiben oder Klausuren entwerfen. Es hat gedauert, Strukturen für mich selbst zu finden: Was mache ich an dem freien Tag? Ist es schlimm, wenn ich am Wochenende arbeite? Bin ich faul, wenn ich es nicht tue? Ich musste erst lernen, es zu genießen, wenn ich abends ein Buch lese oder Fernsehen gucke. Früher musste jeder Moment gefüllt sein mit „etwas tun“. Heute kann ich Prioritäten setzen und meinen Alltag so strukturieren, dass es mir guttut.

Auch im Unterricht entscheide ich mehr selbst. Ich nehme mir zum Beispiel die Zeit, um Grundlagen zu erklären: Was ist ein Term? Wie geht man mit Variablen um? Wenn die Schüler das verstehen, fallen ihnen schwierige Themen wie Gleichungen leichter. Die Zeit holen wir also wieder auf.

Aber ich lasse dennoch Themen weg, die auf dem Lehrplan stehen, die aber nicht in der Prüfung zum mittleren Schulabschluss vorkommen. Zum Beispiel unterrichte ich nur den Satz des Pythagoras und nicht auch die Umkehrung davon. Wenn sie in die Oberstufe kommen, brauchen sie das vielleicht. Aber Kinder, die das schaffen, verstehen es dann auch. Vorher war ich fremd­bestimmt, habe mich ausgeliefert gefühlt. Jetzt habe ich wieder die Hoheit über meine Arbeit.

Trotzdem ärgert es mich, dass ich so viele Vorgaben erfüllen muss, die den Schülerinnen und Schülern nichts bringen. Zum Beispiel Förderpläne schreiben, die dann nicht umgesetzt werden. Lehrersein ist ein ständiger Spagat zwischen diesen vielen Vorgaben und dem, was die Kinder wirklich brauchen. Es ist schwierig, sich dann auch noch zu fragen, wie man selbst damit gut leben kann. Ich bin froh, dass ich nicht so viel Geld brauche und es mir leisten konnte, meine Stelle zu reduzieren und etwas weniger zu verdienen. Das kann nicht jede. Und es ist ein Unding, dass sie diesen wichtigen Beruf so anlegen, dass man ihn in der Zeit, für die man bezahlt wird, schlicht nicht schaffen kann.

Erschöpfung bei Lehrern

Uta Klusmann ist Professorin für pädagogische Psychologie an der Universität Kiel, im Interview spricht sie über die Situation, in der sich viele Lehrerinnen und Lehrer befinden.

Offenbar können viele Lehrerinnen und Lehrer ihren Beruf nicht mehr in Vollzeit ausüben, ohne in ein Burnout zu geraten. Warum?

In unseren Studien zeigt sich: Das Unterrichten vieler verschiedener Gruppen an einem Tag, Störungen im Unterricht, Lärm, Konflikte, wenig Pausen und das Verschwimmen beruflicher und privater Zeit sind für mentale und körperliche Erschöpfung mitverantwortlich. Außerdem gilt der Lehrermangel als größte Herausforderung. Dennoch – es gibt sehr viele Lehrerinnen und Lehrer, die überaus zufrieden mit ihrem Beruf sind.

Ist die Diskrepanz zwischen den Lehrplänen und den Fähigkeiten der Schülerinnen und Schüler gewachsen?

Die Leistung der deutschen Grundschüler und Grundschülerinnen in Mathematik und Deutsch sinkt laut neuen Studien. Zugleich steigt der Anteil derer, die nicht die Mindeststandards erfüllen. Lehrkräfte beschreiben das aber als weniger belastend als Verhaltensprobleme von Kindern und Jugendlichen.

Was können Lehrerinnen tun, um gesund zu bleiben?

Zunächst: sich und die eigene mentale Gesundheit ernst nehmen. Stresssymptome wie Nervosität, Reizbarkeit oder Schlafprobleme wahrnehmen. Überlegen, welche Situationen das auslösen und wie man es ändern könnte. Hierfür kann man sich auch Unterstützung durch Schulpsychologinnen holen. Viele Schulleitungen sind mittlerweile sehr offen für das Thema „gesunde Schule“. Oft sind vermeintlich kleine Dinge hilfreich, wie ein ruhiger Pausenraum, die Berücksichtigung individueller Bedürfnisse bei der Stundenplangestaltung, mehr Austausch im Kollegium.

Uta Klusmann, Natalie Waschke: Gesundheit und Wohl­befinden im Lehrerberuf. Hogrefe, Göttingen 2018

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