„Vor jedem Schulsport“, schreibt Franziska Reichel in ihrem Blog Coconut Sports, „fühlte ich mich wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird. Und wenn es nach eineinhalb grauenhaften Stunden endlich vorbei war, hätte ich heulen können vor Glück.“
Mit weniger brachialen Worten berichtet ein zweiter Geplagter auf studis-online.de: „Der Schulsport ist für mich wohl der Hauptgrund, weshalb ich mich heute fast gar nicht sportlich betätige. Ich habe dadurch eine negative Gesamteinstellung zum Sport…
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eine negative Gesamteinstellung zum Sport entwickelt.“
Und ein dritter, ebenfalls auf studis-online.de: „Die Anforderungen fand ich teilweise auch für mich extrem hoch. Fünf-Kilometer-Lauf: 0 Punkte, weil zu langsam, obwohl durchgerannt. 30 Minuten Ausdauerlauf: 0 Punkte, weil zu wenig Strecke geschafft. Bei Liegestützen, Klimmzügen et cetera persönliche Rekorde aufgestellt, die aber nur für niedrige einstellige Notenpunkte reichten. Im Sport ist die eigene Leistung immer sofort öffentlich, im Matheunterricht kann man seine schlechte Klausur schnell in den Hefter schieben. Das Als-Letzter-gewählt-Werden war noch das kleinste Problem.“
Was unterscheidet den Schulsport psychologisch von anderen Fächern?
Das sind drei Beispiele von vielen, die wahrscheinlich alle in irgendeiner Form schon selbst erlebt oder bei anderen beobachtet haben. „Aus Studien und repräsentativen Umfragen wissen wir: Ein Drittel der Schülerinnen und Schüler ist mit dem Sportunterricht sehr unglücklich“, sagt der Sportpädagoge Christian Gaum von der Universität Bochum, der sich wissenschaftlich mit dem Thema befasst: „Es ist der Himmel für viele und eine Hölle für eine bedeutende Minderheit.“
Diese „bedeutende Minderheit“ hat es zu tun mit Mobbing und Demütigung, Erniedrigung und Beschämung.
Nun ließe sich einwenden, dass diese offenbar ewigen dunklen Begleiter des Schulsports auch bei anderen Fächern existieren, doch gibt es markante Unterschiede, die den Schulsport für viele zu einer besonders unangenehmen Veranstaltung werden lassen. Oder wie es der Pädagoge Eckart Liebau in seinem Text Skulptur, Plastik, Performance ausgedrückt hat: „Kein anderes Schulfach berührt so intim und existenziell wie der Schulsport.“ – Warum?
Erstens steht im Sport die Körperlichkeit im Vordergrund. Die Schüler sind nicht nur geistig aktiviert, sondern kognitiv, motorisch, psychisch und emotional eingebunden in das ganze System Unterricht. Das macht Glückserlebnisse intensiver als sonst in der Schule, negative Erlebnisse allerdings auch doppelt schmerzhaft. Denn „durch das Agieren mit dem gesamten Körper schlägt positives wie negatives Feedback stärker als in anderen Fächern auf den Selbstwert zurück“, sagt David Wiesche von der Universität Duisburg-Essen. Er ist Professor am Institut für Sport und Bewegungswissenschaft und hat in seiner Doktorarbeit Beschämung im Schulsport untersucht.
Höher, schneller, weiter
Zweitens wissen Kinder schon sehr früh – heute mehr denn je –, wie ihre Körper auszuschauen haben. Nach einer Studie der Pädagogin Petra Milhoffer haben bereits Acht- bis Vierzehnjährige klare Vorstellungen vom Idealbild des Körpers: sportlich, stark und gutaussehend. Abweichend davon betrachteten vier von fünf Kindern ihren Körper als problemhaft: Jungs empfinden ihn nicht als groß und stark genug, die Mädchen wären gerne schlanker. „Da kann sich jeder ausmalen, wie verletzend und beschämend viele Situationen im Schulsport auf jene wirken, die dem idealen Körperbild nicht entsprechen“, sagt Wiesche. Die Körperlichkeit bietet aufgrund der sozialen Bedeutsamkeit viel Fläche für tiefgreifende Emotionen.
Neben Körperlichkeit und Körperbild ist drittens der Leistungsgedanke im Schulsport durch die olympische Formel „höher, schneller, weiter“ historisch noch intensiver verankert als in den anderen Fächern. Der Schulsport ist traditionell geprägt durch Wettkampf und durch Leistung, gemessen in Sekunden und Minuten, in Metern und Zentimetern. Wer für diese klassische Art des Sports die Voraussetzungen nicht mitbringt, erscheint defizitär.
Nicht zuletzt spielt sich all das auf einer Art Bühne ab. Die Körper all jener, die glänzen, und jener, die nach den Normen des Systems sportlich nicht abliefern, sind den Blicken der anderen meist gnadenlos ausgeliefert. Das oft noch unbeholfene Erproben neuer Bewegungen findet vor Publikum statt: unter den Blicken der Sportlehrerin und der ganzen Schulklasse.
Das Unbehagen beginnt in der Umkleide
David Wiesche hat in seiner Doktorarbeit unter anderem mehr als 500 beschämende Situationen aus dem Sportunterricht gesammelt und analysiert: „Ich schäme mich, wenn mir nach einer Rolle die Hose runterrutscht“, „wenn ich rennen muss und alle auf meine Oberweite schauen“, „wenn ich sehr oft auf die Fresse fliege, weil ich so tollpatschig bin“, „wenn ich ausgegrenzt werde, weil ich sportlich unbegabt bin“, „wenn ich bei den Mannschaftswahlen als Letzter gewählt werde“, „wenn es beim Schwimmunterricht nur eine Sammelkabine gibt und ich mich vor allen anderen ausziehen muss“.
Tatsächlich beginnt das Unbehagen für viele schon in den Umkleideräumen. „Ältere Schülerinnen schämen sich generell weniger als jüngere und Mädchen generell mehr als Jungs“, sagt Wiesche. Insgesamt hat er über 100 unterschiedliche Situationen gefunden, die Kinder und Jugendliche beschämen. Die Betroffenen zittern, werden nervös, bekommen Angst und empfinden Leistungsdruck. Das wiederum mindert die Leistungsfähigkeit, die durch die körperlichen Voraussetzungen ohnehin manchmal begrenzt ist.
„Es gibt einige Studien, die zumindest einen kurzfristigen Effekt aufgrund solcher beschämenden Erfahrungen nachgewiesen haben, gerade was Selbstwert und Selbstkonzept der Heranwachsenden betrifft“, erklärt Wiesche.
Lehrkräfte für das psychische Leid sensibilisieren
Allerdings lässt sich anhand der Ergebnisse nicht genau erkennen, ob die Erlebnisse das negative Selbstkonzept verursachen respektive verstärken oder umgekehrt. Über den dauerhaften Effekt solch beschämender Erlebnisse gibt es keine Studiendaten. „Aber ich vermute stark, dass fortgesetzte negative Erfahrungen im Schulsport langfristige negative Effekte auf die Psyche haben können“, sagt Wiesche.
Deshalb steht das Thema „psychisches Leid“ inzwischen auf der Agenda bei der Aus- und Fortbildung im Lehramt Sport. Denn kein Zweifel: Nur wenn Lehrkräfte überhaupt sensibel für das Problem sind, lässt sich etwas an der misslichen Lage ändern.
Sportpädagoge Gaum: „Lehrende müssen wissen, dass Kinder durch den Schulsport in eine Situation gebracht werden, in der sie sich oft sehr unsicher mit sich selbst fühlen. Und dass Schülerinnen und Schüler Angst davor haben, etwas falsch zu machen, weil ein Fehler sie als ganze Person betrifft.“
Perspektivwechsel statt peinlicher Blicke
Sein Kollege David Wiesche versucht deshalb, angehenden Lehrkräften einen Perspektivwechsel aufzuzeigen: dass man als Sportlehrerin keine Trainerin ist und das relative Leistungsvermögen aller Schülerinnen im Blick haben muss, um Beschämungen zu vermeiden. Er will dafür sensibilisieren, wie häufig es zu solchen kommt – vor allem bei einseitig leistungsorientiertem Sport, der mit der Bühnensituation wie ein Brandbeschleuniger wirkt.
Einseitig leistungsorientierter Sport bedeutet: Laufen, Werfen, Springen, Turnen, Handball und Schwimmen nach Stoppuhr und Notentabelle. Zudem laden Situationen wie Bockspringen vor allen anderen aus der Klasse dazu ein, sportlich weniger Begabte zu hänseln und zu mobben. „Schon beim Gedanken daran kriegen die Schwächeren Schweißausbrüche und verspüren Fluchtreflexe“, sagt Wiesche.
Wie also lässt sich die Tragik des Schulsports vermeiden? Darüber haben sich progressive Sportpädagogen und -pädagoginnen lange die Köpfe zerbrochen. Inzwischen sind Lösungen – zumindest im akademischen Sektor der Lehramtsausbildung – wohlbekannt:
Erster Punkt: Positive Räume schaffen und Bühnensituationen konsequent beenden. Wiesche empfiehlt konkret, unterschiedliche Stationen aufzubauen, an denen kleinere Gruppen zusammenarbeiten und alle ihre eigene Bewegungserfahrung machen können. Damit einhergehend müssen Lehrkräfte intensiv darüber nachdenken, wie man diese Gruppen sinnvoll zusammenstellt und wie deren Mitglieder interagieren können. Denn eines ist für den Sportpädagogen klar: „Im Sportunterricht bricht sich das Klassenklima in besonderem Maß Bahn. Wenn es Mobbingprobleme gibt, werden sie im Sport doppelt sichtbar. Die Lehrkräfte müssen also wissen, was gerade Thema ist in einer Klasse.“
Zweiter Punkt: Die klassische Leistungsmaxime hinterfragen. Es geht darum, die individuellen Potenziale der Schülerinnen und Schüler zu nutzen, statt ihre Defizite aufzuzeigen. Christian Gaum: „Ich schaue nicht mehr: Was können die Schüler nicht? Und dann sind die einen eben die Sportlichen und die anderen die, die nichts können. Stattdessen gucke ich individuell: Wo kann die Schülerin mit ihrer körperlichen Voraussetzung hin? Dafür brauche ich einen individualisierten Unterricht, der in der Praxis nicht ganz leicht ist.“
Dritter Punkt: Das Konzept des sogenannten mehrperspektivischen Sportunterrichts. Was das idealerweise bedeuten kann, wird am Beispiel des Inlineskatings klar. Schüler blickten mit völlig verschiedenen Perspektiven auf die Sportart, erklärt Christian Gaum: „Ein tanzaffines Mädchen versucht vielleicht, sich mit den Inlinern zur Musik zu drehen. Der Nächste, eher Abenteuerlustige würde am liebsten raus auf die Halfpipe und das Kribbeln im Bauch spüren. Eine eher leistungsorientierte Schülerin will schneller und schneller fahren lernen. Und dann gibt es solche, die gar nichts damit anfangen können.“
Die Kunst eines modernen Schulsports ist, den verschiedenen Perspektiven gerecht zu werden und gerade nicht zu sagen: Alle lernen jetzt die Techniken für schnelles Skating, dann stoppen wir die Zeiten – und das war’s. Berücksichtigt ein Lehrer im Unterricht dagegen die ganze Bandbreite des Sports, kommt es nicht immer für die gleichen Personen zur Beschämung. Außerdem haben bei eher selten im Unterricht angebotenen Sportarten wie Tanzen oder Trampolinspringen, bei denen zum Beispiel die Ästhetik im Vordergrund steht, andere Schülerinnen und Schüler die Chance zu glänzen.
Was in der schulischen Praxis ankommt
„Über die praktische Anwendung des Konzepts in den Schulen wissen wir noch recht wenig“, erklärt Christian Gaum. Zwar zeigt eine Analyse der Lehrpläne, dass der mehrperspektivische Sportunterricht flächendeckend an den Schulen integriert wurde. Sie belegt aber auch: Nicht alle Perspektiven sind gleichermaßen relevant. Alles rund um Leistung und Kooperation wird überbetont, Wagnis und Gestaltung kommen dagegen eher selten vor.
Dieser Eindruck bestätigt sich auch in Studien mit befragten Lehrkräften. In der Praxis wird Mehrperspektivität zudem oft auf die Auswahl einzelner Sportarten als Exempel reduziert: Fußball eignet sich für Kooperation und Wettkampf, Leichtathletik dafür, Leistung zu zeigen und zu verstehen. „Damit ist aber wieder eine Orientierung an den klassischen Sportarten mit einer bestimmten Perspektive dominant“, merkt Christian Gaum kritisch an.
Ob die Maßnahmen in der Praxis wirklich helfen und Beschämung und Demütigung irgendwann der Vergangenheit angehören? Christian Gaum bleibt zwiegespalten: „Aus eigenen Erfahrungen weiß ich, dass viele Sportlehrer wirklich etwas anderes machen wollen als nur leistungsorientierten Sport. Andererseits haben sie genau diesen Sport zeitlebens als so schön empfunden, dass sie wahrscheinlich denken: ,Wieso geht das nicht allen Kindern so?‘ Der nötige Perspektivwechsel fällt dann leider sehr schwer.“
Quellen
Eckart Balz, Peter Neumann (Hg.): Mehrperspektivischer Sportunterricht. Band 3: Evaluation und Innovation. Hofmann, Schorndorf 2022
Julia Hapke: Erziehender Sportunterricht zwischen Anspruch und Wirklichkeit – eine differenzanalytische Untersuchung zur Umsetzung pädagogischer Perspektiven. Dissertation, Erlangen 2015
Petra Milhoffer u.a.: Selbstwahrnehmung, Sexualwissen und Körpergefühl von Mädchen und Jungen der 3. bis 6. Klasse. In: Forschung und Praxis der Sexualaufklärung und Familienplanung. Wissenschaftliche Grundlagen. Teil 1: Kinder, 7–40. BZgA, Köln 2004
Peter Neumann: Mehrperspektivischer Sportunterricht : ein Phantom der Schulsportpraxis? Sportunterricht 67 (7), 2018, 290-295.
David Wiesche, Antje Klinge (Hg.): Scham und Beschämung im Schulsport. Facetten eines unbeachteten Phänomens. Meyer & Meyer, Aachen 2017