Vielleicht ist alles ganz anders, als wir glauben. Zum Beispiel unsere Erde. In den USA gibt es diesen Typen, den die Medien als „Mad Mike“ bezeichnen. Im März 2018 hat er sich als 61-Jähriger mit einer Rakete mehr als 500 Meter weit in die Luft geschossen. Eines Tages will er mit einem selbstgebauten Raumschiff ins All fliegen. Von dort werde er den Beweis erbringen, dass unser Planet in Wahrheit eine Scheibe ist. Mad Mike hat sich seinen Beinamen redlich verdient: Er ist das, was man landläufig einen…
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verdient: Er ist das, was man landläufig einen Spinner nennt. Aber immerhin hält er nicht alles für wahr, was andere ihm erzählen. Er sucht nach Beweisen. Er zweifelt.
Das Internet, die sozialen Medien haben uns das postfaktische Zeitalter beschert. Der eine behauptet dies, der andere das. Schön blöd, wer alles glaubt. Kein Wunder, dass die Zeit den Zweifel als den eigentlichen „Antrieb des Geistes“ preist – als Urkraft der Aufklärung und der Freiheit. Einen „Zweifel am Selbstverständlichen“ fordert auch der Medienwissenschaftler Roberto Simanowski in seinem Buch Stumme Medien. Die Tugend des Zweifelns müsse gar in der Schule gelehrt werden – nur so sei unsere Demokratie im digitalen Zeitalter überhaupt zu retten. Ähnlich argumentiert die amerikanische Autorin Siri Hustvedt in ihrem Werk Die Illusion der Gewissheit. „Der Zweifel“, so schreibt sie dort, „ist nicht nur eine Tugend der Intelligenz, er ist ihre notwendige Voraussetzung.“ Gut 200 Jahre nach seiner Geburt scheint jene Weisheit wieder aufzuleben, die Karl Marx einst seiner Tochter Jenny ins Poesiealbum schrieb: „An allem ist zu zweifeln.“
Unser Kopf arbeitet wie ein Hybridauto
Doch wie weit kann der Zweifel überhaupt gehen? Was passiert in unserem Kopf, wenn wir der Welt mit Skepsis begegnen? Die Psychologie hat auf diese Fragen eine Reihe interessanter Antworten gefunden. Eine der wichtigsten stammt von Daniel Kahneman, dem ersten Psychologen, der für seine Forschung einen Nobelpreis erhielt. Kahneman unterscheidet zwei Arten des Denkens: Mal funktioniert es schnell und schmutzig, mal langsam und präzise. Die dahinterliegenden Prozesse unterscheiden sich derart fundamental voneinander, dass Kahneman ihnen die Namen „System I“ und „System II“ gab. Unser Kopf arbeitet mal im schnellen Modus und mal im langsamen – wie ein Hybridauto, das mal elektrisch fährt und mal per Verbrennungsmotor.
Das hat Auswirkungen auf die Art, wie wir Entscheidungen treffen. Wenn wir zum Beispiel den Freibierstand auf einem Volksfest suchen, dann können wir das auf die komplizierte Art von System II erledigen: Wir zweifeln an unserem Orientierungssinn, besorgen uns stattdessen einen Lageplan des Festgeländes und blättern im Programmheft nach den besonderen Highlights der Veranstaltung. Wir identifizieren unsere eigene Position auf der Landkarte und überlegen uns sorgfältig den Pfad, der zu den Gratisgetränken führt. In unserem langsamen Denken von System II funktionieren wir fast so rational wie ein Computer.
Wir können uns die Sache aber auch leichtermachen – und einfach dem Hauptstrom der Besucher folgen. Ganz nach dem Motto: Wo die Massen hinströmen, da gibt’s was umsonst! Derlei Faustregeln sind dann effizient, „wenn sie mit hoher Wahrscheinlichkeit zutreffen, wenn die Kosten eines gelegentlichen Fehlers akzeptabel sind und sie viel Zeit und Mühe sparen“, schreibt Kahneman in seinem Buch Schnelles Denken, langsames Denken. Und das ist im Alltag sehr oft der Fall: Das schnelle Denken von System I spart uns tatsächlich eine Menge Mühe, Zeit und Energie. Und es tut noch etwas anderes: Es unterdrückt jede Art von Zweifel. Der Mensch, der sich auf System I verlässt, handelt immer leichtgläubig und vertraut stets auf genau die Information, die man ihm gerade vor die Nase setzt. Er wählt das Naheliegende – alles andere wird ausgeblendet. US-Präsident Donald Trump sagt: Die Mexikaner sind an allem schuld. Schon liefert das schnelle Denken von System I Millionen von US-Bürgern die innere Bestätigung: Hat man nicht immer häufiger Leute in der Nachbarschaft Spanisch reden hören? Ist das vielleicht der Grund, warum es mit der Wirtschaft nicht mehr so gut läuft wie noch vor 15 Jahren?
Psychologen bezeichnen derlei Gedankengänge als „Bestätigungsfehler“ (confirmation bias). Unser intuitives System I schnappt sich, was immer man ihm kostenlos anbietet. Alternative Erklärungen kommen uns erst dann in den Sinn, wenn wir einen Moment lang innehalten und zweifeln, wenn wir unser langsames,aber gründliches System II zurate ziehen. Hier findet kritisches Denken statt, das Behauptungen anzweifelt, statt alles zu glauben. Zweifeln kostet also Zeit. Und sehr viel Energie. Beides sind begrenzte Ressourcen. Das heißt: Gegen Fake News ist der Zweifel tatsächlich die Waffe der Wahl. Aber vermutlich sind wir weder sozial noch biologisch dazu in der Lage, unser gesamtes Leben im Zweifelmodus zu verbringen.
Wie gesagt: vermutlich. Aber auch diese Vermutung lässt sich bezweifeln. Spielen wir das Spiel also noch ein bisschen weiter: Was passiert, wenn man, wie Marx es fordert, an allem zweifelt?
Hatte sie den Kamm bereits besessen?
Marx war nicht der Erste, der zu radikaler Skepsis aufgerufen hat. Sein berühmtester Vorgänger in dieser Hinsicht war René Descartes. Im 17. Jahrhundert zerhackte der französische Philosoph sämtliche Gewissheiten seines Lebens. Vielleicht existierte die Welt überhaupt nicht! Vielleicht war alles nur ein Traum! Am Ende seines Gedankenprozesses landete Descartes bei einer einzigen Erkenntnis, die sich unmöglich anfechten ließ: „Ich denke, also bin ich.“ Was nur wenige wissen: Bei Descartes selbst liest sich die Sache zunächst ein wenig anders. Die Aussage unmittelbar vor dem berühmten cogito, ergo sum lautet nämlich: Ich zweifle, also bin ich. Erst im Akt des Zweifelns konnte Descartes also jenen Punkt finden, der über jeden Zweifel erhaben war. Weil er seine radikale Skepsis nicht als Lebenshaltung, sondern lediglich als intellektuelles Spiel betrieb, spricht man bei ihm von einem „methodischen Zweifel“.
Im Alltag scheint radikaler Zweifel allerdings weniger fruchtbringend zu sein. Sigmund Freud schildert dazu einige Anekdoten aus dem Leben seiner Patienten. In seiner Schrift Bemerkungen über einen Fall von Zwangsneurose erzählt er zum Beispiel von einer Frau, die „im Laden einen Kamm für ihre kleine Tochter gekauft hatte“. Auf einmal kamen ihr Zweifel – nicht nur an ihrer Zukunft oder der Treue ihres Mannes, sondern sogar an ihrer eigenen Erinnerung. Plötzlich wusste Freuds Patientin nicht mehr, ob sie den Kamm nicht vielleicht schon vor ihrem Eintritt in den Laden besessen hatte.
Heutige Psychologen geben Freud recht: Ein israelisch-amerikanisches Forscherteam hat den Zweifel jüngst sogar zum Wesensmerkmal einer Zwangsstörung erklärt. Man überprüft immer und immer wieder, ob man den Backofen auch wirklich ausgestellt hat – und zweifelt jedes Mal von neuem an der eigenen Beobachtung, sobald man die Küche verlassen hat. Der Zweifel mag eine der schärfsten Waffen der Vernunft sein. Sobald er jedoch das komplette Leben durchdringt, wird er zur Krankheit.
Zeitnot, Stress, Geldmangel
Würden wir an allem zweifeln, „wären wir nicht einmal dazu in der Lage, morgens unser Bett zu verlassen“, sagt auch der Psychologe Arie Kruglanski. Deshalb, so argumentiert er, hat uns die Natur mit einem inneren Mechanismus ausgestattet, der die Fragen beseitigt und uns dabei hilft, schnelle Entscheidungen zu treffen. Kruglanski nennt diesen Impuls need for cognitive closure – das Bedürfnis nach kognitiver Geschlossenheit. Die meisten kennen das aus ihrem Alltag: Manchmal kann man es fast körperlich fühlen, wenn es Zeit wird, mit dem Grübeln aufzuhören. Man will mit einer Sache endlich fertig werden und sich anderen Dingen zuwenden.
Das Bedürfnis nach kognitiver Geschlossenheit gehört seit mehr als 25 Jahren zu den einflussreichsten Konzepten der Sozialpsychologie. Aber trotz all seiner Vorzüge genießt das Bedürfnis nach kognitiver Geschlossenheit bei Psychologen keinen besonders guten Ruf. Denn bei manchen Menschen heult die innere Warnsirene allzu früh und gar zu laut. Sie fühlen sich unwohl, sobald sie etwas länger über eine Entscheidung nachdenken müssen – und greifen vorschnell zur nächstbesten Lösung, nur damit die bohrenden Fragen endlich ein Ende haben. Das hat bisweilen ungute Folgen: Man vertraut sein Geld den falschen Leuten an, heiratet einen Partner, der gar nicht zu einem passt, oder glaubt reichen Angebern, die behaupten, das Leben wäre paradiesisch für alle, wenn man nur endlich diese Mauer an der Grenze zu Mexiko bauen würde.
Doch nicht nur Persönlichkeitsfaktoren erhöhen unser Bedürfnis nach kognitiver Geschlossenheit. Viele Studien haben gezeigt: Zeitnot, Stress, Geldmangel und ein momentanes Gefühl der Überforderung zeitigen dieselbe Wirkung. Sie wischen alle Zweifel beiseite und verführen uns dazu, allzufrüh eine Wahl zu treffen und dabei möglicherweise folgenschwere Fehler zu begehen. Was man daraus lernen kann? Wer auf Fake News hereinfällt, muss kein Dummkopf sein. Ein bisschen Stress kann schon genügen, um unsere Fähigkeit zum Zweifeln auszuknipsen. Wer auf Facebook ausländerfeindliche Posts teilt, muss nicht zwangsläufig einen schlechten Charakter haben.
Den Anwalt des Teufels spielen
Dennoch scheint der Charakter einen gewissen Einfluss zu haben. Das zeigt ein Ansatz aus den frühen 2000er Jahren. Damals identifizierten die US-Psychologen Christopher Peterson und Martin Seligman 24 menschliche Eigenschaften, die in allen Gesellschaften und in allen historischen Epochen als Tugenden angesehen wurden. Peterson und Seligman argumentierten: All diese Eigenschaften sind prinzipiell in jedem Menschen angelegt, allerdings in jeweils unterschiedlicher Ausprägung. Meist sind fünf dieser Tugenden so dominant, dass sie sozusagen den Kern unserer Persönlichkeit ausmachen. Momente, in denen wir gemäß dieser zentralen „Charakterstärken“ handeln, gehen uns verblüffend mühelos von der Hand. Wir fühlen uns dann wie damals in der Kindheit, wenn wir in unser Lieblingsspiel vertieft waren. Eine dieser 24 Stärken haben Peterson und Seligman mit dem englischen Wort judgment bezeichnet, was man im Deutschen mit „Urteilsvermögen“ übersetzt. Menschen mit einem besonders hohen Urteilsvermögen „durchdenken und hinterfragen gerne Gedanken und Überzeugungen und versuchen verschiedene Perspektiven einzunehmen“. Anders gesagt: Sie zweifeln praktisch immer an der ersten Idee, die ihnen in den Sinn kommt. Sie lassen sich nicht leicht von Vorurteilen, von falschen Intuitionen oder den üblichen Verzerrungen des schnellen Denkens übertölpeln. Sie handeln ausgesprochen logisch, rational und sorgfältig. Man muss sie sich als geborene Zweifler vorstellen.
Die Gabe des natürlichen Zweifelns kommt allerdings nicht besonders häufig vor. In einer Auswertung von mehr als 600 000 Fragebögen zeigte sich: „Urteilsvermögen“ ist nur bei zwölf Prozent der Testpersonen wirklich prägend. Es gehört damit zu den seltensten Charakterstärken überhaupt. Trotzdem kann jeder lernen, sein Talent zum Zweifeln zu stärken. In den empfohlenen Interventionen aus der Charakterstärken-Forschung geschieht das meist auf spielerische Art und Weise. Man stellt sich zum Beispiel für eine Weile vor, man würde in einer politischen Debatte die Position der Gegenseite vertreten. Welche Argumente würde man dabei finden? Man spielt sozusagen den Advocatus Diaboli gegen die eigene Intuition. Eine andere Übung betrifft unser Freizeitverhalten: Man geht in einen Kinofilm, den man sich normalerweise niemals ansehen würde, etwa einen Actionfilm, wenn man eigentlich auf romantische Komödien steht. Man zweifelt am eigenen Geschmack – und erwirbt dadurch einen neuen Blick auf die Welt.
Was wäre ohne Globuli geschehen?
Mit derlei Interventionen erzieht man sich selbst zu mehr geistiger Offenheit – und dazu, häufiger im langsamen Modus von System II zu denken, statt sich auf das intuitive und mühelose System I zu verlassen. Doch all das ist erst der halbe Weg. Denn auch beim systematischen Nachdenken kann man Fehler machen. Anders gesagt: Kluges Zweifeln will gelernt sein. Die Werkzeuge dafür liefert eine Disziplin, die man im Amerikanischen als critical thinking bezeichnet. Die Grundtechniken des kritischen Denkens sind nicht besonders neu. Einige stammen aus der Antike und gehören zum traditionellen Fach der Logik. Deren einfachstes Werkzeug ist der „Syllogismus“, der logische Schluss. Das bekannteste Beispiel dazu lautet: „Alle Menschen sind sterblich. – Sokrates ist ein Mensch. – Also ist Sokrates sterblich.“
Diese Technik des vernünftigen Schließens klingt fast schon banal, wird aber schnell knifflig, wie man an einem an der Cornell University entwickelten Test für das kritische Denken sehen kann. Dort heißt es etwa: „Alle Autos in der Garage gehören Mr. Smith. Alle Autos von Mr. Smith stammen von der Marke Ford. Ist es wahr, dass alle Autos in der Garage von der Marke Ford stammen?“ Eine andere Aufgabe lautet: „Wenn Jane neben Betsy steht – ist es dann auch wahr, dass Betsy neben Jane steht?“ Die erste Antwort heißt: Ja, alle Autos in der Garage sind von Ford. Die zweite Antwort lautet: Vielleicht. Denn Betsy befindet sich zwar neben Jane; es kann jedoch durchaus sein, dass sie nicht steht, sondern sitzt.
Kritisches Denken umfasst aber nicht nur die Gesetze der Logik. Auch ein wenig Statistik gehört dazu, wie in folgendem Fallbeispiel: Ich entdecke bei mir selbst ein paar Krankheitssymptome und konsultiere das Internet, um zu sehen, was mir fehlt. Dabei bemerke ich, dass die Symptome zu zwei verschiedenen Krankheiten passen. Die eine ist eher harmlos und kommt häufig vor. Die andere ist tödlich und sehr selten. Kritisches Denken lehrt uns: Wenn die tödliche Krankheit insgesamt wahnsinnig selten ist, dann macht das natürlich auch die Chance ausgesprochen klein, dass ich mir genau dieses Leiden eingefangen habe. Ärzte jedoch wissen, dass verblüffend viele Patienten an dieser simplen Form des vernünftigen Zweifelns scheitern. Sie begehen einen „Basisratenfehler“ und werden zuerst panisch und dann wütend, wenn der Doktor sie nicht sofort mit Blaulicht zur Intensivstation bringen lässt, sondern lediglich zwei Tage Bettruhe verordnet.
Der Unternehmensberater Heinz Jiranek hat jüngst noch an ein weiteres „Denkwerkzeug für kluges Zweifeln“ erinnert, das er aus der sogenannten „Signalentdeckungstheorie“ entlehnt. Ein einfaches Beispiel erklärt, worum es dabei geht: Wir stehen unter der Dusche, das Wasser rauscht. Nebenan klingelt unser Telefon. Jiranek teilt eine solche Situation in vier Gedankenkategorien: 1. Es hat geklingelt und ich habe es gehört. 2. Es hat geklingelt, aber ich habe es nicht gehört. 3. Ich habe geglaubt, ein Klingeln zu hören – dabei hat es gar nicht geklingelt. 4. Es hat nichts geklingelt und ich habe auch nichts gehört. Das klingt noch simpler als der schlichte Sokrates-Syllogismus aus der Aussagenlogik. Doch sobald man Jiraneks Denkwerkzeug auf ein Alltagsproblem anwendet, stellt man schnell fest: Ganz so einfach ist die Sache dann doch nicht. Jiraneks Fall geht so: Ich leide an einer Erkältung. Dann nehme ich ein homöopathisches Mittel – drei Tage später ist die Erkältung weg. „Was“, so fragt Jiranek, „wäre mit der Erkältung ohne die Einnahme von Globuli geschehen?“ Wer klug zweifelt, würde sagen: Meine Heilung beweist überhaupt nichts. Ich müsste noch mehr Versuche durchführen, um etwas über die Wirksamkeit des Mittels aussagen zu können. Viele Menschen verlassen sich in so einer Situation aber nicht auf den Zweifel, sondern auf ihr schnelles Denken im Sinne von System I. Sie sagen: „Du musst das Mittel unbedingt ausprobieren – bei mir hat’s jedenfalls super geholfen!“
Was unser Weltbild stört
In einem Interview wurde Arie Kruglanski einmal gefragt, ob man für eine aufgeklärtere Welt nicht mehr Pflichtkurse im kritischen Denken anbieten müsse. Kruglanski antwortete verblüffend zurückhaltend. Die Technik des guten Zweifelns helfe erst einmal gar nichts. Viel wichtiger sei, ob wir überhaupt Lust dazu hätten, uns im Einzelfall die Mühe des gründlichen Denkens zu machen. Anders gesagt: Es kommt nicht darauf an, ob wir zweifeln können, sondern ob wir zweifeln wollen. Letzteres ist überraschend selten der Fall. Auf der Weltkonferenz der Kommunikationswissenschaftler im Mai 2018 in Prag wurden mehr als 40 Vorträge zu dem Thema Fake News gehalten. Wie kann man die Menschen dazu bringen, Botschaften kritischer und mit mehr Zweifel zu lesen?
Studie über Studie erbrachte dasselbe niederschmetternde Ergebnis: Skeptisch sind wir fast nur dort, wo eine Meldung uns nicht in den Kram passt, wo sie unserem Weltbild widerspricht. Alles, was wir gut finden, akzeptieren wir unbesehen – und teilen es womöglich in den sozialen Medien. Kluger Zweifel wäre etwas anderes. Er würde dort beginnen, wo wir eine Meldung oder Nachricht von ganzem Herzen glauben wollen, aber bereit wären, unsere eigenen Vorurteile infrage zu stellen. Das jedoch passiert so gut wie nie. Gibt es einen einfachen Weg, um einen solchen heldenhaften Zweifel in uns Menschen zum natürlichen Impuls werden zu lassen? Vielleicht schon. Aber bislang hat ihn noch niemand gefunden.
Zum Weiterlesen
Heinz Jiranek: Klug zweifeln. Weil der zweite Gedanke oft der bessere ist. BusinessVillage, Göttingen 2017
Omri Ron, Ela Oren, Reuven Dar: The doubt-certainty continuum in psychopathology, lay thinking, and science. Journal of Behavior Therapy and Experimental Psychiatry, 53, 2015, 68–74
Daniel Kahneman: Schnelles Denken, langsames Denken, Penguin, München 2016
Christopher Peterson, Martin Seligman: Character strengths and virtues. A handbook and classification. Oxford University Press 2004
Donna Webster, Arie Kruglanski: Individual differences in need for cognitive closure. Journal of Personality and Social Psychology, 67/6, 1994, 1049–1062