Vom Schulstress ins Pädagogenkoma

Lehrer gelten bei Psychotherapeuten als unbeliebte Patienten. Warum das so ist und was Verdrängen damit zu tun hat.

Lehrer gelten unter Psychotherapeuten als schwierige Patienten. Sie wüssten alles besser, so heißt es bisweilen. Sie behaupteten, eigentlich gar keine Probleme zu haben und nur gekommen zu sein, weil Partner oder Arzt sie geschickt oder starke Symptome sie gezwungen hätten. „Während andere Patienten in der ersten Sitzung oft unter Tränen ihr Leid klagen“, fasst der auf Pädagogen spezialisierte Psychotherapeut Michael Mehrgardt seine Erfahrungen zusammen, „legt die Lehrerin dem Therapeuten rationale Erklärungen vor und erläutert, dass eigentlich außer der plötzlichen Symptomatik alles völlig in Ordnung und sie ausgesprochen gerne Lehrerin sei.“

Tatsächlich ist oft wenig in Ordnung, denn die Schule ist voller Stressoren: Schlechte Luft im Klassenzimmer und laute Kinder sind nur zwei der vielen ungünstigen Arbeitsbedingungen. 50 oder mehr Prozent der Lehrer gehen vorzeitig in Pension, davon die Hälfte aus psychischen Gründen. Selbst dann kommen viele mit dem plötzlich nachlassenden Stress schlecht zurecht – wie zuvor schon an Wochenenden und in den Ferien. Sie verfallen ins „Pädagogenkoma“, so Mehrgardt, „einen als bleischwere Müdigkeit beschriebenen Zustand“.

Mehrgardts These: Lehrer fühlten ihr Leid nicht, weil viele notgedrungen Meister in der Kunst geworden seien, ihre Selbstwahrnehmung abzuschalten. In der Therapie gelte es, diese „Abwehrstrategien als überlebensrelevant“ anzuerkennen, statt den Patienten gleich mit seinen Verleugnungen zu konfrontieren. Seine Situation müsse ihm vielmehr in oft vielen Sitzungen behutsam bewusstgemacht werden. „Erst nach dieser Therapiephase befindet sich der Patient in etwa auf dem Stand eines ‚normalen‘ Patienten, der von vornherein mit seinem Leiden identifiziert ist.“

Ideal wäre es laut Mehrgardt, wenn die Pädagogen weniger Stunden halten müssten und die Probleme man­cher Schüler – etwa mit Drogen oder Gewalt – anderen Fachkräften überlassen könnten. Derzeit bleibe aber nur, Abgrenzungsstrategien gegen Überlastungen zu erarbeiten und zu trainieren.

Michael Mehrgardt: Psychotherapie mit Lehrern: Oftmals schwierige Patienten. Deutsches Ärzteblatt PP, 19/2, 2020, 66–67

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 11/2020: ​Toxische Beziehung
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