Frau Urban, Schulen haben den Auftrag, Kinder und Jugendliche zu einem verantwortungsvollen Umgang mit Liebe, Sexualität und Beziehungen zu befähigen. Gelingt ihnen das?
Nein, leider werden sie diesem Auftrag nicht gerecht. Alle Bundesländer haben zwar sexuelle Bildung in ihren Rahmenlehrplänen verankert, aber die Umsetzung ist sehr unterschiedlich und hängt massiv von der einzelnen Lehrperson ab: Wenn sie sehr engagiert ist und sich selbst Wissen angeeignet hat, kann das gelingen. Aber in aller Regel wurden…
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Wenn sie sehr engagiert ist und sich selbst Wissen angeeignet hat, kann das gelingen. Aber in aller Regel wurden und werden die Lehrkräfte in ihrer Aus- und Weiterbildung dazu nicht professionalisiert.
Sexuelle Bildung gehört zum Lehrplan, aber die meisten Lehrkräfte sind trotzdem dafür nicht ausgebildet?
Ja, und es gibt ja nicht nur die gesetzliche Grundlage, sondern auch die Erwartung, dass Lehrkräfte nicht nur Wissen vermitteln, sondern auch eine Haltung: Sie sollen Kinder und Jugendliche dabei unterstützen, sexuell selbstbestimmt zu leben, und dazu beitragen, sie vor sexualisierter Gewalt zu schützen. Wir erwarten, dass unsere Kinder in der Schule gut aufgehoben sind, aber dafür professionalisieren wir die Lehrkräfte nicht. Das hat auch die bundesweite Erhebung im Rahmen unseres Forschungsprojekts „SeBiLe – Sexuelle Bildung für das Lehramt“ gezeigt, die wir 2019 durchgeführt haben.
In dieser Studie haben Sie angehende und ausgebildete Lehrkräfte befragt. Was sind die Ergebnisse?
Das Ausbildungsdefizit ist immens: Insgesamt rund 80 Prozent der Befragten gaben an, im Studium keine Angebote zur sexuellen Bildung erhalten zu haben. Bei der Prävention sexualisierter Gewalt sieht es noch schlechter aus: Hier werden beziehungsweise wurden 92 Prozent nicht ausgebildet. Außerdem gibt es kaum Fortbildungsangebote, und wenn, dann beschränken sie sich auf biologische Aspekte von Sexualität. Gleichzeitig äußerten die an der Studie Teilnehmenden einen hohen Bedarf, sich weiterzubilden.
Ab welcher Klasse sollten Kinder etwas über Sexualität lernen?
In sämtlichen Altersstufen. Alle Menschen werden als sexuelle Wesen geboren. Natürlich unterscheidet sich die Sexualität von Kindern von der Jugendlicher oder Erwachsener. Aber sowohl gelebte Sexualität als auch Grenzverletzungen finden schon in der Kita und in Grundschulen statt. Sexuelle Bildung und die Prävention sexualisierter Gewalt gehören in alle Schulformen, vom Gymnasium bis zur Förderschule.
Aber es gibt doch Sexualkunde im Biologie- und Sachunterricht.
Ja, die Kinder und Jugendlichen bekommen Informationen zur Sexualität in der Schule, wir wissen nur nicht welche. Es kann sein, dass sie nur etwas über die körperlichen Veränderungen in der Pubertät, Krankheiten und Verhütungsmittel erfahren. Das reicht aber nicht. Sexuelle Gesundheit ist komplexer, es geht auch um Handlungs- und Reflexionskompetenzen, einen selbstbestimmten und wertschätzenden Umgang mit Sexualität und geschlechtlicher Vielfalt und um den Schutz vor sexualisierter Gewalt. Die Schule ist die einzige Institution, über die wir alle Kinder erreichen – das ist eine große Chance.
In welche Fächer gehören die Themen?
Das können wir nicht auf bestimmte Fächer beschränken. Ich kann schon verstehen, warum Themen wie „körperliche Veränderungen“ und „sexuell übertragbare Krankheiten“ im Biologieunterricht gut platziert sind. Aber die zwischenmenschlichen Beziehungen prägen das Aufwachsen, und sexuelle Themen beschäftigen Kinder und Jugendliche. Das Thema Sexualität ist sowieso überall in der Schule!
Also sollten sich alle Lehramtsstudierenden mit sexueller Gesundheit, geschlechtlicher Vielfalt und Missbrauch befassen?
Unbedingt, das ist zwingend notwendig, denn als Lehrkraft kann ich mich doch nicht entscheiden, ob ich den Themen begegne oder nicht. Wir können nur entscheiden, ob wir diese Inhalte pädagogisch aufbereitet anbieten und unsere Kinder begleiten. Oder ob wir sie damit allein lassen und darauf hoffen, dass sie einen guten Umgang damit finden werden. Als Lehrkraft muss ich damit umgehen, wenn ich von sexualisierter Gewalt, verbalen Übergriffen im Unterricht oder Grenzverletzungen im Klassenchat erfahre. Ich kann dann so tun, als hätte ich das nicht gehört. Aber damit vermittle ich ja auch: Es ist in Ordnung, wenn Menschen sich so verhalten.
Warum braucht es dafür eine spezielle Qualifikation?
Viele Themen sind schambesetzt, als Lehrkraft fühle ich mich eventuell überfordert damit, über Sexualität, geschlechtliche Vielfalt, Pornografie im Netz oder sexualisierte Übergriffe zu sprechen. Wenn ich keine Qualifikation habe, bin ich abhängig von meinem eigenen Informationsstand. Möglicherweise bin ich auch konfrontiert mit Kindern oder Jugendlichen, die den Konflikt suchen und sich reiben wollen.
Kinder haben oft sehr früh Zugang zu pornografischen oder gewalttätigen Inhalten. Sollten Lehrkräfte das auch ansprechen?
Kinder und Jugendliche sind im Internet vielen Inhalten ausgesetzt, denen sie sich wenig oder nur schlecht entziehen können, weil es cool ist, sie zu konsumieren oder weil sie sie ungewollt gesendet bekommen. Wir können das nicht einfach in ihre Hände legen und sagen: „Die werden das schon machen und lernen, damit umzugehen.“ Aber im Moment passiert meist genau das. Sinnvoll wäre, ihnen Medienkompetenz zu vermitteln.
Warum sind Lehrkräfte in dem Bereich so schlecht ausgebildet?
Bildung ist Ländersache, und das führt dazu, dass wir keine zentrale Stelle haben, die sexuelle Bildung fest im Lehramtsstudium verankert. Hinzu kommt, dass es ein schambesetztes Thema ist. Bis vor einigen Jahren wurde überhaupt nicht offen über Sexualität gesprochen. Das hat sich zwar etwas verändert, aber wenn wir sagen, dass wir alle befähigen möchten, über Sexualität in der Schule zu sprechen, rennen wir damit immer noch keine offenen Türen ein.
Wie sieht es in der Lehre und Forschung an Hochschulen aus?
Auch da besteht ein Mangel. Lehrende wurden bisher bei diesen Themen wenig sensibilisiert und professionalisiert. Es gibt nur einzelne, oft sehr engagierte Dozierende an den Universitäten, die sich der Sache annehmen. Nachdem 2010 sehr viele Missbrauchsfälle aufgedeckt wurden, hat das Bundesministerium für Bildung und Forschung bundesweit fünf Juniorprofessuren im Themenfeld „Forschung zu sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche in pädagogischen Kontexten“ eingerichtet. Leider ist nur eine einzige davon – die bei uns in Merseburg – als reguläre Professur verstetigt worden. Und der konsekutive Masterstudiengang Angewandte Sexualwissenschaft an unserer Hochschule ist der einzige dieser Art bundesweit.
Beratungsstellen wie pro familia bieten Workshops an. Sollten die Schulen sich solche Expertise von außerhalb holen?
Kooperationen mit Fachstellen von außerhalb sind sehr wertvoll. Dort arbeiten Personen, die ganz eng mit diesen Themen befasst sind, andere Skills, Methoden und Materialien haben und vielleicht auch eine andere Vertrauensbasis zu den Kindern aufbauen können. Das kann eine wunderbare Ergänzung sein, aber es ist immer nur punktuell. Wir müssen auch diejenigen qualifizieren, die jeden Tag mit den jungen Menschen zu tun haben.
An vielen Schulen herrschen Personalmangel und Überlastung. Wie soll das Kollegium da Zeit finden, sich noch mit Sexualität auseinanderzusetzen?
Ich kann es gut nachvollziehen, wenn das zunächst als eine weitere Aufgabe und Überforderung empfunden wird. Wenn ich aber alle Themen ignoriere, die Sexualität betreffen, mache ich mir das Leben nicht leichter. Wenn es Klarheit über das eigene Handeln gibt, wenn alle miteinander eine Haltung entwickelt haben, wenn alle wissen, was in bestimmten Situationen zu passieren hat, wird das den Arbeitsalltag entlasten. Nicht jede Lehrkraft muss alles wissen. Sie muss aber wissen: Wie kann ich reagieren? An wen kann ich mich wenden? An wen kann ich verweisen, wenn es notwendig ist? Und ganz wichtig: Sie muss ansprechbar sein.
Sind Beratungsstellen für Missbrauchsfälle in solchen Fällen nicht qualifizierter?
Ja, diese Beratungsstellen sind enorm wichtig. Aber: Wenn sich mir als Lehrkraft ein Kind anvertraut, kann ich nicht als Erstes sagen: „Aha, besprich das bitte mit einer Beratungsstelle!“ Ich muss adäquat reagieren und das Kind unterstützen. Das schließt nicht aus, dass das Kind am Ende bei einer Beratungsstelle besser aufgehoben ist. Oder wenn Übergriffe im Klassenchat unter Gleichaltrigen passieren, kann ich überlegen, ob wir das innerhalb der Klasse oder gemeinsam mit den Eltern klären oder Unterstützung von außen hinzubitten.
Wie sollte man reagieren, wenn man erfährt, dass ein Kind sexualisierte Gewalt erlebt?
Im besten Fall hat die Schule ein Schutzkonzept mit einem klaren Handlungsleitfaden entwickelt, an dem sich jede Lehrkraft orientieren kann. Zunächst einmal ist es ganz wichtig, zuzuhören, aufmerksam zu sein und Glauben zu schenken. Kinder und Jugendliche denken sich solche Sachen nicht aus, und wenn doch, dann haben sie ein anderes Problem, bei dem sie Hilfe brauchen. Dann sollte man nichts ohne das Wissen der betroffenen Person unternehmen, um keine neuen Ohnmachtserfahrungen zu generieren. Wenn das Kindeswohl gefährdet ist, muss natürlich das Jugendamt informiert werden. Ganz wichtig ist, unbedingt Ruhe zu bewahren und nicht in Panik zu verfallen, das würde noch mehr verunsichern. Das ist aber sehr schwer, wenn ich mich als Lehrkraft vorher noch nie richtig mit dem Thema auseinandergesetzt habe.
Wäre es sinnvoll, dafür feste Ansprechpersonen in jeder Schulen zu etablieren?
Das wäre toll, weil dann völlig klar ist: Hier an der Schule wird über Sexualität und sexualisierte Gewalt gesprochen. Es gibt eine Person, die diese Themen voranbringen wird, die Ressourcen hat, sich damit zu beschäftigen und sich dafür starkzumachen. Institutionalisiert man die Themen, schafft das Sichtbarkeit und Klarheit.
Welches Feedback bekommen Sie von Eltern?
Nach jedem Elternabend, den ich gegeben habe – und es waren echt viele in den vergangenen Jahren – kommen Eltern zu mir und bedanken sich, dass diese Themen endlich in der Schule präsent sind und nicht mehr nur abhängig davon, ob eine Lehrkraft darüber spricht oder nicht.
Es gibt Eltern, die nicht möchten, dass ihr Kind am Sexualkundeunterricht teilnimmt. Dürfen sie ihm das verwehren?
Rein rechtlich dürfen Eltern diese Angebote nicht verwehren und die Schule darf sich auch nicht darauf einlassen. Kinder und Jugendliche haben ein Recht darauf, sexuelle Bildung zu erhalten. Ich verstehe aber auch Schulen, die befürchten, dass sie den Zugang zu den Eltern verlieren, wenn sie nicht auf deren Bedenken eingehen. Das ist eine schwierige Situation. Es wäre gut, wenn wir von vornherein klarmachen: An der Schule wird ganz selbstverständlich über Sexualität gesprochen und es bedarf dafür auch nicht der Erlaubnis der Eltern.
An wen können Lehrkräfte sich für Fortbildungen wenden?
Das ist bundeslandspezifisch. In Sachsen-Anhalt können Schulen zurzeit an unserer Hochschule Angebote buchen. Die bezahlt das Bildungsministerium. Dabei geht es auch darum, Schutzkonzepte gegen sexualisierte Gewalt zu etablieren. Wir bieten auch eine interaktive Präventionsausstellung an, zu der ein Elternabend und eine Fortbildung für Lehrkräfte gehören. Das funktioniert sehr gut, aber nur solange das Ministerium dafür Geld bereitstellt.
Und wie ist das in anderen Bundesländern?
Dafür muss man sich leider immer regional informieren. Schwierig ist auch: Im Moment gibt es noch keine Qualitätsstandards. Es liegt jeweils in der Hand der referierenden Person, welche Inhalte vermittelt werden. Wir haben daher an unserer Hochschule das Curriculum „Sexuelle Bildung für das Lehramt 2.0. Lieben lernen, Lieben lehren“ entwickelt. Es eignet sich besonders für die Aus-, Fort- und Weiterbildung von Studierenden, Lehrkräften und anderen pädagogischen Fachkräften. Das Curriculum besteht aus 14 aufeinander aufbauenden Einheiten, die je nach Schulform oder Interesse angepasst werden können und für jeden zugänglich sind.
Wie ist das Interesse an den Angeboten?
Unsere Angebote werden sehr gut nachgefragt und ich höre regelmäßig von Teilnehmenden, es sei eines ihrer wichtigsten Studienseminare gewesen. Die Lehrkräfte wollen die Kinder und Jugendlichen dabei begleiten, sexuell selbstbestimmte, verantwortungsvolle Menschen zu werden, und sie wollen sich Gedanken darüber machen, wie Schule dafür einen guten Rahmen bilden kann. In unserer Studie sahen etwa 90 Prozent der Befragten es als ihre Verantwortung an, Inhalte sexueller Bildung zu vermitteln. Das ist ein positives Signal, das mich optimistisch stimmt.
Maria Urban ist Sozialarbeiterin, Medien- und Kulturwissenschaftlerin. Sie forscht an der Hochschule Merseburg zu sexueller Bildung für das Lehramt und ist Lehrkraft für besondere Aufgaben im Studiengang Angewandte Sexualwissenschaft.
Sexuelle Gesundheit
ist ein Zustand körperlichen, emotionalen, mentalen und sozialen Wohlbefindens, bezogen auf die Sexualität. Dazu gehört die Möglichkeit, lustvolle und sichere sexuelle Erfahrungen zu machen, frei von Zwang, Unterdrückung, Diskriminierung und Gewalt. Um sexuelle Gesundheit zu erreichen und zu bewahren, müssen die sexuellen Rechte aller Menschen anerkannt, geschützt und eingehalten werden.
Quellen
Anja Henningsen, Uwe Sielert (Hg.): Praxishandbuch Sexuelle Bildung, Prävention sexualisierter Gewalt und Antidiskriminierungsarbeit. Beltz Juventa 2023
Anja Kruber, Maria Urban, Heinz-Jürgen Voß: Sexuelle Bildung für das Lehramt 2.0. Lieben lernen, Lieben lehren. PDF-Datei: t1p.de/PH_Sebile2
Margit Miosga, Ursula Schele: Sexualisierte Gewalt und Schule. Was Lehrerinnen und Lehrer wissen müssen. Beltz 2018
Maria Urban, Sabine Wienholz, Celina Khamis (Hg.): Sexuelle Bildung für das Lehramt. Zur Notwendigkeit der Professionalisierung. Psychosozial 2022