Fehlzeiten: Wenn Kinder nicht zur Schule wollen

Von Mobbing bis Leistungsdruck: Aus vielen Gründen weigern sich Kinder, die Schulbank zu drücken. Was Eltern und Lehrkräfte unternehmen können.

Ein kräftiger Junge sitzt allein und traurig in der Sportumkleidekabine
Ein schlechter Tag in der Schule: Für manche einmalig, für andere alltäglich. Manche Kinder wollen deshalb gar nicht mehr hingehen. © plainpicture/Kaiser

Vor kurzem hat sich bei Jan-Helge Kuhn eine Familie mit einem 10-jährigen Jungen vorgestellt, der in seinen ersten vier Schuljahren nur fünf Tage zur Schule gegangen ist. „Einen solchen Fall habe ich bisher noch nicht erlebt“, sagt der Leiter der Sekundarschule an dem Internat Schloss Varenholz nordöstlich von Bielefeld.

In diese Jugendhilfeeinrichtung kommen Kinder und Jugendliche mit starken Lern- und Entwicklungsstörungen, solche aus schwierigen Familienverhältnissen oder jene, die einen längeren…

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starken Lern- und Entwicklungsstörungen, solche aus schwierigen Familienverhältnissen oder jene, die einen längeren Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik hinter sich haben. Gemeinsam ist vielen, dass sie die Schule nicht mehr besuchen möchten. „Jede zweite Anfrage bei uns steht mit Schulabsentismus in Zusammenhang“, konstatiert Kuhn.

Hohe Dunkelziffer an Betroffenen

Schulabsentismus ist der Fachbegriff dafür, dass schulpflichtige Kinder oder Jugendliche unrechtmäßig nicht zum Unterricht erscheinen. Hierzulande müssen Heranwachsende ab dem sechsten Lebensjahr neun Jahre lang eine Bildungseinrichtung besuchen. Das ist Gesetz. Die Schulen sind dafür verantwortlich, zu überwachen, ob sich alle an diese Pflicht halten. Fehlt ein Kind unentschuldigt, müssen sie reagieren.

Ab wie vielen Fehlstunden man von Absentismus spricht, ist in Deutschland allerdings nicht eindeutig definiert. Manche Untersuchungen dazu orientieren sich an Schweden. Dort gelten fünf Prozent in einem Halbjahr als leichte Form, was bei 30 Unterrichtsstunden pro Woche anderthalb unentschuldigten Fehlstunden entspricht. Ab zehn Prozent spricht man von einer starken Ausprägung, was drei verpassten Stunden pro Woche gleichkommt.

Abhängig davon, was in Studien als Absentismus definiert wird, betrifft das Problem in Deutschland zwei bis fünf Prozent der schulpflichtigen Kinder und Jugendlichen. Die Dunkelziffer ist hoch.

Wahrscheinlichkeit zu schwänzen, steigt mit der Entwicklung

Dem Unterricht mal unbegründet fernzubleiben ist an sich noch nicht ungewöhnlich. Eine Studie der Ruhr-Universität Bochum kam 2016 zu dem Ergebnis, dass 14 Prozent der Grundschülerinnen und -schüler in einem Schuljahr mindestens einmal unentschuldigt fehlen. Mit Beginn der weiterführenden Schule steigen die Zahlen stark an, bis sie in der achten und neunten Klassenstufe ihren Höchstwert erreichen. Dort fehlen 86 Prozent der jungen Menschen schon mal unrechtmäßig.

„Das hat zum einen mit jugendlicher Autonomieentwicklung zu tun. Sie trauen sich Dinge, die sie vorher nicht gewagt haben. Zum anderen erleben Heranwachsende mit steigendem Alter immer weniger Lernfreude in der Schule“, erklärt Heinrich Ricking die unterschiedlichen Zahlen.

Der Professor für emotionale und soziale Entwicklung an der Universität Leipzig forscht seit vielen Jahren dazu, warum Kinder und Jugendliche der Schule fernbleiben. „Die meisten gehen verantwortlich mit ihren Fehlzeiten um. Sie wissen, was sie sich erlauben können und was nicht. Sie tun das sehr gezielt und fehlen so, dass sie keine massiven Spuren in ihrer Leistungsbilanz hinterlassen.“ Einzelne unentschuldigte Fehlstunden dürfe man daher nicht überbewerten.

Problem des mehrgliedrigen Schulsystmes

Je geringer das akademische Niveau der Bildungseinrichtung, desto höher sind die Fehlzeiten. „Das heißt jedoch nicht, dass Hauptschulen schlechtere Arbeit leisten als Gymnasien“, stellt Ricking klar.

Vielmehr sorge das mehrgliedrige Schulsystem dafür, dass Kinder und Jugendliche mit hohen Risikolasten so kanalisiert würden, dass sie in bestimmten Schulformen landeten. Damit meint er Heranwachsende, die zum Beispiel benachteiligt sind, weil sie in belasteten Familienverhältnissen aufwachsen – sie landen eher auf der Hauptschule als auf dem Gymnasium.

Doch auch innerhalb einer Schulform gibt es große Unterschiede zwischen einzelnen Schulen und Klassen, was darauf hindeutet, dass die Bildungseinrichtungen und die Lehrerschaft die Anwesenheit mitbeeinflussen. Jungen und Mädchen verweigern sich weitgehend gleich häufig, wenngleich Jungen unter den massiv und chronisch Abwesenden etwas öfter vertreten sind.

Es steckt mehr hinter dem Schwänzen als nur Unlust

Es gibt mehrere Erklärungen dafür, warum Kinder und Jugendliche der Schule fernbleiben. Gerade bei vereinzelten Fehlstunden oder -tagen ist man schnell versucht zu denken, dass sie schlicht keine Lust haben. Auf einen Teil der Schülerinnen und Schüler trifft das zu. Sie meiden den Unterricht, weil sie keinen Spaß an den Inhalten haben – jedenfalls vordergründig.

Jene „Schulschwänzer“ sind junge Menschen, die die Schule ablehnen, die Lehrkräfte und den Unterricht. Stattdessen gehen sie attraktiveren Beschäftigungen nach, treffen sich etwa mit Freunden, die ebenfalls schwänzen. Manchmal bleiben sie sogar auf dem Schulgelände, fehlen aber im Unterricht.

Klar ist: Der Schule fernzubleiben ist immer der Versuch eines Kindes, ein Problem zu lösen – wenn auch ein misslingender. Durch sein Fehlen signalisiert es seiner Umgebung deutlich, dass etwas nicht stimmt, in der Schule oder daheim. Absentismus ist insofern immer ein Symptom für ein dahinterliegendes Thema.

Strenge Lehrkräfte bis Verlustängste: Die Gründe sind vielfältig

Eine Befragung an Krefelder Hauptschulen ergab: Je ärmer die Familie, desto häufiger schwänzen Kinder. Auch wenn Eltern ihre Kinder schlagen oder seelisch quälen, trägt das dazu bei, dass diese sich morgens mitunter nicht auf den Weg zur Schule machen.

Außerdem kann die Schule selbst der Grund sein, warum Kinder und Jugendliche nicht gerne kommen. Strenge oder gleichgültige Lehrkräfte verderben ihnen die Lust am Lernen. Andere Kinder weisen sozial-emotionale Defizite auf: Sie können ihre Gefühle schlecht wahrnehmen oder regulieren.

Während schulische Unlust bei Jungen etwas häufiger auftritt als bei Mädchen, bleiben Letztere gehäuft aufgrund von Ängsten zu Hause. „In der Grundschule geht es oft um Trennungs- und Verlustängste“, sagt Stephanie Peter. Sie ist Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie sowie -psychotherapie und behandelt in ihrer Praxis viele Kinder und Jugendliche, bei denen Schulabsentismus eine Rolle spielt.

Manche Kinder fürchten, ihren Eltern könnte etwas zustoßen, während sie weg sind. Bindungsstörungen können dafür die Ursache sein. Aber auch wenn ein Elternteil körperlich oder psychisch erkrankt ist, bleiben die Jungen und Mädchen zu Hause, weil sie sich um Mama oder Papa kümmern wollen. Ihre Ängste äußern sich dann auch häufig in Bauch- und Kopfschmerzen oder Schlafstörungen.

Leistungsdruck bereitet Sorgen

In weiterführenden Schulen sind es zunehmend die Leistungssituationen, vor denen Heranwachsende Angst haben. Sie haben Sorge, in Prüfungen zu versagen oder vor der Klasse etwas präsentieren zu müssen. Ängste schüren auch die steigenden schulischen Anforderungen im Vergleich zur Grundschule. Die Kinder sollen sich stärker selbst strukturieren und organisieren. Das führt häufig zu einem Ungleichgewicht zwischen den äußeren Erwartungen und dem, was ein Kind tatsächlich leisten kann.

„Schule ist ein Ort, an dem einem Kind permanent und konsequent der Eindruck vermittelt wird, für seine Leistung bewertet zu werden“, hält Stephanie Peter fest. Diese Erfahrung fließt in die Entwicklung der eigenen Identität und des Selbstwerts ein.

Angst und Scham versperren den Weg

Auch die 16-jährige Lina, die anonym bleiben möchte, plagten jahrelang massive schulische Ängste. „Sobald ich die Schule betrat, hatte ich panische Angst. Ich war kreidebleich, zitterte und hyperventilierte“, erzählt sie. Von Anfang an war dieser Ort für sie mit negativen Erfahrungen verknüpft.

Als Kleinkind litt sie am Kruppsyndrom, einer Erkrankung der Atemwege, die sich in plötzlicher Atemnot äußern kann. Während ihrer Grundschulzeit hatte sie immer Angst, dass sie im Unterricht keine Luft mehr bekommen könnte, und verweigerte sich daher. „Anstatt mit mir zu reden, hat mich meine Klassenlehrerin einfach an den Händen auf dem Flur mitgezogen. Das ging über mehrere Jahre so. Irgendwann bin ich einfach mitgegangen, weil die Angst, dass sie mich wieder an den Händen packen könnte, größer war als die vor dem Unterricht“, erinnert sich Lina.

Als sie in der vierten Klasse einmal zum Stundenbeginn aus Furcht weglief, rannten ihr drei Lehrkräfte hinterher und warfen sich auf sie, um sie aufzuhalten. Sie lag am Boden, ihre Hose heruntergerutscht, ein Schuh verloren. Auf dem Gymnasium wurde sie von Mitschülerinnen gemobbt und wechselte schließlich auf eine Realschule. Dort fühlte sie sich etwas wohler.

Doch als Konflikte zwischen ihren Eltern hinzukamen, fehlte sie in der achten Klassenstufe immer öfter, bis sie in der neunten gar nicht mehr kam. Atteste erhielt sie von einer Psychiaterin, die sie damals therapeutisch begleitete.

Die Entscheidung, zu Hause zu bleiben, kann auch von anderen Emotionen wie Scham, Ärger oder Traurigkeit angetrieben werden. Der PISA-Studie von 2015 zufolge haben 53 Prozent der Schülerinnen und Schüler regelmäßig Angst vor Schulnoten. 15 Prozent erklärten, sich als Außenseiter zu erleben, 13 Prozent, einsam zu sein, und 22 Prozent gaben an, beim Lernen angespannt zu sein.

Wie für Lina stellt es für viele junge Menschen somit kurzfristig eine psychische Entlastung dar, nicht in die Schule gehen zu müssen. Die Erleichterung verstärkt jedoch langfristig Fehlzeiten.

Wenn Eltern ihre Kinder abhalten

Doch nicht immer sind es die Heranwachsenden selbst, die nicht kommen wollen. In einer Befragung von 872 Schülerinnen und Schülern an drei niedersächsischen weiterführenden Schulen gaben 40 Prozent der Befragten an, von ihren Eltern direkt oder indirekt abgehalten zu werden.

Die Motive der Eltern sind verschieden. Manche haben selbst eine negative Einstellung gegenüber der Schule – nicht selten weil sie früher mitunter ungute Erfahrungen gemacht haben. Sie billigen es daher, wenn ihr Kind zu Hause bleibt. Stattdessen binden manche ihre Kinder in Verpflichtungen ein, die nicht altersgemäß sind. Sie sollen sich etwa um Geschwister kümmern oder Aufgaben im Haushalt übernehmen.

In manchen Fällen versuchen Eltern gar häusliche Gewalt oder sexuellen Missbrauch an ihren Kindern zu vertuschen. Aber auch religiöse Gründe sind zunehmend ein Motiv, wenn das Kind nicht am Sport-, Religions- oder Biologieunterricht teilnehmen soll. Liefern Eltern ein Entschuldigungsschreiben, haben Pädagogen kaum Handlungsspielraum – außer ein ärztliches Attest zu verlangen.

Meist liegt dem Schulabsentismus nicht nur eine Ursache zugrunde. Vielmehr entsteht er aus einem komplexen Zusammenspiel von Risikofaktoren des Kindes, der Familie, des Freundeskreises, der Schule und der Lehrkräfte. Je mehr Faktoren zusammenkommen, desto wahrscheinlicher bleibt die Schulbank leer.

Inwiefern sich die Schulschließungen während der Coronapandemie auf spätere Fehlzeiten ausgewirkt haben, ist empirisch bislang nicht untersucht. Das Schloss Varenholz jedenfalls erhält seither deutlich mehr Anfragen. Ähnlich erlebt es auch David Halberstadt. Er ist Sozialpädagoge bei dem Projekt Anlaufstelle bei Schulabwesenheit der Diakonie Saar. Dieses zielt darauf ab, abwesende Kinder und Jugendliche wieder für einen Besuch der Bildungsstätte zu gewinnen.

Je länger die Abwesenheit, desto schwerer die Rückkehr

„Nach den langen Schließungen waren viele der Kinder und Jugendlichen, die am Projekt teilnehmen, kurzfristig motivierter, in die Schule zu gehen, einige hatten aber auch Angst vor dem Wiedereinstieg – vor allem diejenigen, die sich vorher schon von der Schule distanziert hatten oder bei denen eine psychische Erkrankung vorlag“, stellt Halberstadt fest.

Aktuell beschäftige ihn der Fall eines Mädchens, das aufgrund sozialer Ängste schon vor der Pandemie die Schule mied. Er hatte vor, therapeutische Unterstützung hinzuzuziehen. Doch die Mutter zeigte sich unkooperativ. Sie wehrte sich gegen die schulische Masken- und Testpflicht und schob diese als Grund vor, warum ihre Tochter nicht in die Schule kommen könne. „Uns waren die Hände gebunden, da die Mutter sich damit in einem rechtssicheren Rahmen bewegte“, beklagt er. Nun habe er Sorge, das Mädchen nicht mehr zurückholen zu können.

Diese Sorge ist nicht unberechtigt. Denn je länger die Abwesenheit anhält, desto schwerer ist die Rückkehr. Schon wenige Fehlstunden bringen schnell Probleme mit sich. Die Kinder verpassen Schulstoff, wodurch ihre Leistungen sinken. Die Beziehung zu Mitschülerinnen und Mitschülern sowie zu Lehrkräften leidet, woraufhin sie umso häufiger fehlen – ein Teufelskreis.

Irgendwann glauben sie, ohnehin den Anschluss verloren zu haben und keinen Abschluss mehr schaffen zu können. Diese langsame Bewegung weg von der Schule dauert oft Jahre und wird im Fachjargon als Drift bezeichnet.

Lehrkräfte fühlen sich hilflos und überfordert

Massive Fehlzeiten sind mit erheblichen Entwicklungs­risiken verbunden. Die jungen Menschen werden öfter straffällig und erkranken häufiger an einer psychischen Störung. Sie verlassen die Bildungseinrichtung mit einem geringen oder gar keinem Abschluss und haben dadurch schlechte Chancen auf dem Arbeitsmarkt.

Doch wie können solche dramatischen Folgen verhindert werden? Zunächst brauchen Schulen klare Konzepte dafür, wie sie mit abwesenden Kindern umgehen möchten. In einer jüngst veröffentlichten Erhebung der Universität Leipzig wurden Lehrerinnen und Lehrer gefragt, wie sie bei Fehlzeiten vorgingen.

Nur ein Viertel gab an, dass unentschuldigtes Fehlen bei ihnen nach spätestens anderthalb Unterrichtsstunden einen Problemstatus erhalte. Gleichzeitig erklärte ein Drittel der Befragten, sich hilflos und überfordert zu fühlen, über die Hälfte wünschte sich mehr Unterstützung durch die Schulleitung.

Anwesenheit kontrollieren, um Muster früh zu erkennen

In Handlungsleitfäden empfehlen Ministerien verschiedener Bundesländer, jede Fehlstunde systematisch zu registrieren und zu verfolgen sowie frühzeitig darauf zu reagieren. Darin steckt auch die positive Beziehungsbotschaft an das Kind, dass seine Anwesenheit in der Schule zählt.

Bestimmte Software und automatische Rückmeldesysteme erleichtern es Lehrerinnen und Schulsozialarbeitern, einen Überblick zu bekommen, wer in welchem Unterricht wie lange fehlt. Dadurch werden Muster erkennbar, die auf Motive der jungen Menschen hindeuten. Annahmen über mögliche Ursachen sind entscheidend, liefern sie doch wertvolle Hinweise für passgenaue und zielführende Hilfen. Ist eine Schülerin ängstlich, verlangt das andere Maßnahmen, als wenn ein Schüler nur keine Lust hat, in die Schule zu gehen.

Rechtlich betrachtet ist es eine Erziehungsaufgabe von Eltern und Bildungseinrichtungen zugleich, die Anwesenheit eines Kindes sicherzustellen. Bis Eltern sich aber an das Internat Schloss Varenholz wenden, ist es häufig ein langer Weg. „Es kostet Mütter und Väter viel Überwindung, sich einzugestehen, dass sie Hilfe benötigen. Oft kommen sie erst zu uns, wenn die Familie schon eine lange Leidensgeschichte hinter sich hat“, erklärt Schulleiter Jan-Helge Kuhn.

Auf der sogenannten Schulstation werden die Neuankömmlinge in einer Klasse von maximal zehn Schülerinnen und Schülern behutsam durch Integrationshelfer, Sozialarbeiterinnen und Lehrkräfte dabei unterstützt, den Weg zurück in den schulischen Alltag zu schaffen. Sie haben anfangs nur eine Stunde Unterricht am Tag, meistens in ihrem Lieblingsfach. In der restlichen Zeit spielen, backen oder spazieren sie gemeinsam.

Um dem Biorhythmus der Kinder und Jugendlichen entgegenzukommen, beginnt der Unterricht auf Schloss Varenholz erst um 8.30 Uhr. Außerdem haben sie eine Gleitzeit von fünfzehn Minuten.

Teil des Unterrichts: Was braucht ein Kind?

„Der Versuch, ein Kind zurück in die Schule zu holen, ist immer ein Balanceakt zwischen dem Verständnis einerseits und einer bestärkenden Begleitung andererseits“, sagt Psychotherapeutin Stephanie Peter. „Wenn sich ein Kind verstanden und abgeholt fühlt, ist es in der Regel bereit, den Weg mitzugehen.“

Wichtig sei, dass Schulen versuchten, den psychischen Grundbedürfnissen der Kinder und Jugendlichen so gut wie möglich gerecht zu werden. Lehrkräfte können dazu beitragen, indem sie einen Unterricht anbieten, der aktiviert, motiviert und Kompetenzen der Kinder in den Mittelpunkt stellt, sowie zu Schülerinnen und Schülern eine vertrauensvolle und wertschätzende Beziehung aufbauen oder wiederherstellen.

Ein angenehmes Schul- und Klassenklima ist ebenso bedeutsam. Dazu gehört nicht nur, sicherzustellen, dass der Pausenhof gewaltfrei ist. Auch Schulregeln beeinflussen, ob Kinder und Jugendliche gerne kommen. So stelle etwa die vermeintlich banale Regel, während des Unterrichts nicht zur Toilette gehen zu dürfen, für viele ein ernsthaftes Problem dar, so Psychotherapeutin Peter. Dahinter steckten meist unerfüllte Grundbedürfnisse nach Kontrolle oder Selbstwert.

„Schulabsentismus ist nichts anderes als gescheiterte Inklusion“

„Warum fühlen sich Schülerinnen und Schüler unwohl? Und warum lässt man das so einfach geschehen? Schule muss aufhören, Kinder systemisch zu frustrieren“, fordert Absentismusforscher Ricking.

Ein Problem sieht der ehemalige Förderschullehrer darin, dass es oft keine Passung gebe zwischen den Anforderungen und dem, wozu ein Kind intellektuell und psychologisch in der Lage ist. „Absentismus ist in vielen Fällen nichts anderes als gescheiterte Inklusion“, findet er. In der Tat ergab eine britische Studie 2022, dass insbesondere Heranwachsende mit sonderpädagogischem und sozial-emotionalem Förderbedarf den Schulbesuch verweigern.

Obwohl ihre Angst noch da ist, geht Lina mittlerweile wieder regelmäßig in die reguläre Schule. Nach ihrem verpassten Jahr wechselte sie auf eine Berufsschule. Die Aussicht auf einen Abschluss motivierte sie. Von Anfang an sei sie dort gut integriert worden. Ihre Klassenlehrerin sei sehr empathisch auf sie eingegangen, habe ihre Stärken gesehen und gefördert.

Geholfen habe auch, dass ihre Klasse relativ klein sei und sie schnell Freunde gefunden habe: „Es gab Tage, da dachte ich, ich schaffe es nicht – aber dann hat morgens mein bester Freund aus der Klasse angerufen und gefragt: ‚Wann kommst du? Ich warte auf dich an der Bushaltestelle.‘ Daran habe ich mich festgehalten.“ Sie holte ihren Hauptschulabschluss nach und möchte jetzt ihre mittlere Reife schaffen. Sie fährt leidenschaftlich gerne Fahrrad und will Zweiradmechatronikerin werden.

Quellen

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 6/2023: Woher weiß ich, wer du bist?