Wie hängt das kindliche Temperament mit dem Erziehungsverhalten der Eltern zusammen?

Christoph Liel erklärt im Interview, welche drei dysfunktionale Erziehungsweisen man unterscheidet und wie sich diese auf Kinder auswirken

Was ist dysfunktionales Erziehungsverhalten?

Darunter verstehen wir ein negatives Verhaltensmuster, das Eltern in der Erziehung regelmäßig zeigen oder mit dem sie häufig auf das Kind reagieren. Dysfunktional heißt es, weil es nicht im Sinne entwicklungspsychologischer Ziele ist, wie etwa die Kinder zu autonomen und stabilen Persönlichkeiten zu erziehen, die selbstsicher sind und Grenzen anerkennen.

Dysfunktional kann es beispielsweise sein, wenn Eltern häufig zu nachgiebig sind, kaum Regeln vorgeben oder selbst zu wenig präsent sind. Oder wenn sie überreagieren, impulsiv oder ungeduldig sind und sich in Diskussionen verwickeln lassen. In einem dritten Verhaltensmuster sind sie sogar manchmal feindselig dem Kind gegenüber und neigen zu harter Bestrafung.

Grundsätzlich gilt: Nahezu alle Eltern zeigen von Zeit zu Zeit dysfunktionales Verhalten. Problematisch wird es, wenn es häufiger vorkommt und zu einem Erziehungsstil wird. Wir wollten in unserer Studie wissen, ob sich Mütter und Väter hierin unterscheiden, und haben 550 Paare befragt, die aus sozial gutsituierten Milieus kamen. Alle Befragten hatten schon an einer früheren, repräsentativen Studie teilgenommen.

Was haben Sie herausgefunden?

Es gibt nur geringe Unterschiede zwischen Müttern und Vätern. Mütter berichteten etwas häufiger von Überreaktionen, Väter etwas öfter von feindseligen Verhaltensweisen. Vor allem aber sahen wir: Erziehung ist ein systemisches Geschehen – Mütter und Väter agieren nicht allein für sich, sondern sie beeinflussen sich wechselseitig.

Wie meinen Sie das?

In unserer Studie zeigte sich: Mütter sind wohl nach wie vor die primäre Bezugsperson des Kindes und sie gleichen offenbar häufiger nachlässiges oder überreagierendes Erziehungsverhalten des Vaters aus, indem sie es zu kompensieren versuchen. Sie berichteten beispielsweise, sich selbst nachgiebig zu verhalten, wenn der Vater überreagierte. Außerdem haben wir festgestellt, dass die Zufriedenheit mit der Partnerschaft mit der Kindererziehung zusammenhängt. Manche Mütter, die sich unzufrieden fühlen, versuchen wohl, dies mit nachgiebigerem Verhalten auszugleichen, und manch ein unzufriedener Vater mit weniger nachgiebigem.

Sie haben zudem festgestellt, dass das Verhalten der Eltern und das kindliche Temperament miteinander zusammenhängen.

Kinder mit einem sogenannten „schwierigen Temperament“ sind oft schwerer zu beruhigen und zu trösten oder haben häufiger Wutausbrüche als andere Kinder. Ob sie „einfach so sind“ oder von den Eltern nur so wahrgenommen werden, wissen wir nicht. Auch haben wir mit dieser Querschnittstudie nicht klären können, ob die Kinder damit auf elterliches Fehlverhalten reagieren. Jedenfalls zeigte sich, dass eine so wahrgenommene negative Emotionalität des Kindes mit allen drei dysfunktionalen Verhaltensweisen der Eltern, also Überreagieren, Nachgiebigkeit und Feindseligkeit, einherging. Das Problem: Reagieren Eltern regelmäßig negativ, kann es zu einer Kaskade kommen, bei der sich Eltern und Kind wechselseitig verstärken, was zu starkem Stress und Überforderung führen kann.

Christoph Liel u.a.: Dysfunktionales Erziehungsverhalten von Müttern und Vätern mit kleinen Kindern. Ergebnisse der Folgestudie Kinder Deutschland – KiD 0–3. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, 25, 2022. DOI: 10.1007/s11618-022-01127-7

Christoph Liel ist wissenschaftlicher Referent am Deutschen Jugendinstitut e.V. Er hat soziale Arbeit studiert und in den ­Fächern Psychologie und Pädagogik ­promoviert

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 5/2023: Bei sich ankommen
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