Max und die Wut

Therapiestunde: Die Eltern sind mit ihrem Latein am Ende: Wie hilft die Therapeutin dem achtjährigen Sohn, der in Frust und Ärger gefangen scheint?

Die Illustration zeigt einen wütenden blonden Jungen mit geballten Fäusten und einem rötlich gezeichnetem Herz auf dem weißen T-Shirt, das sich aus seinem Mund heraus zu einem großen wütenden Wirbel entwickelt
Bei wütenden Kindern sind Eltern schnell überfordert – doch meist verbirgt sich dahinter mehr. © Michel Streich

Max ist acht Jahre alt und kommt seit einigen Stunden zu mir, ursprünglich wegen eines anklammernden Verhaltens der Mutter gegenüber, verschiedenen Ängsten, Unlust und Furcht gegenüber Neuem und Frust in Übergangssituationen (etwa nach dem Schlafen, nach der Schule, vor Terminen). Er verfällt auch immer wieder in heftige Wutausbrüche gegenüber den Eltern und den beiden jüngeren Schwestern. Die Eltern geraten oft in große Not und Anspannung, wenn die Wutausbrüche auf „großer Bühne“ stattfinden, also in der…

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Anspannung, wenn die Wutausbrüche auf „großer Bühne“ stattfinden, also in der Öffentlichkeit, unter Anwesenheit anderer Familien. Aber auch im familiären Rahmen ist es für die Eltern unverständlich, wieso der Junge denn über die Vernunft nicht mehr erreicht werden kann, wenn er in Wut ist.

Schnell wird in der Arbeit mit Max deutlich, dass er außergewöhnlich klug zu sein scheint; so begreift er neue Spiele sehr schnell, kann ungemein verständlich beschreiben, was er denkt, ist schulisch überaus gut, besitzt Witz und verfolgt viele Interessen. Gut nachvollziehbar ist daher, dass die Eltern vornehmlich versuchen, ihn auf der kognitiven Ebene anzusprechen. Blitzschnell und scheinbar ohne logischen Grund schnellt jedoch seine Erregung in frustrierenden Situationen nach oben und es fällt ihm schwer, sich ohne Hilfe und Regulation von außen zu beruhigen. Generell hat Max oft Mühe auszudrücken, was er fühlt – was er denkt, kann er gut in Worte fassen, Gefühle dagegen nur in ruhigen Momenten einigermaßen benennen, in der Erregung gelingt ihm das nicht.

Mit den Eltern befindet er sich dann in einer Spirale aus negativen Affekten, die hin- und hergehen – die Eltern sind angesteckt von Max’ Wut und Verzweiflung und geraten dabei in eigene Stresszustände, die aus Ohnmachtsgefühlen, Scham und Hilflosigkeit bestehen und schließlich ihrerseits in Wut gegenüber dem Kind umschlagen. Dies alles führt nicht zu einer Beruhigung der Situation, im Gegenteil, jeder fühlt sich unverstanden und allein gelassen.

In den Stunden fällt auf, dass Max sich rasch für Spiele oder ein Thema begeistert, dass er sich dann aber auch schnell langweilt. Dadurch entsteht Frust, den er jedoch nicht zum Ausdruck bringen kann, wodurch er in langweiligen Situationen verharrt und nicht in der Lage ist, sie aufzuheben. Trotz Angeboten meinerseits gelingt es ihm nicht, abzulassen vom als eintönig erlebten Spiel, es fehlt ihm die Übersetzung der erlebten Frustration in Worte, was dann eine Lösung ermöglichen würde.

Die Gefühle der Mutter

In der Gegenübertragung spüre ich eigene Langeweile aufkommen und ebenso die Unfähigkeit, die Situation zu verändern. Immer wieder bringe ich mein Gefühl zum Ausdruck, in der Annahme, dass es schließlich auch ihm gelingen kann, seinen eigenen Veränderungswunsch als zu ihm gehörig zu spüren und zu äußern. Das schafft er noch nicht, so dass er in dieser ersten Zeit auch nicht gerne zur Therapie kommt. Es ist ein Pflichttermin für ihn, in dem er selbst noch keinen Sinn erkennt.

Zu einer der Stunden erscheint dann die Mutter zunächst allein, zu spät und sichtlich angespannt und unter Druck. Max wolle nicht kommen, er habe sie auf dem Weg vom Auto zur Praxis beschimpft und getreten, sie wisse nicht, was sie tun solle. Max ist noch nicht zu sehen, so bitte ich zunächst die Mutter herein, wir lassen die Türen offen, um ihm ein Nachkommen zu ermöglichen. Schnell ist mir klar, dass ich zunächst einmal empathisch auf die Mutter eingehen möchte, um zu hören, wie es ihr denn gerade geht und wie sie es erlebt, wenn Max sich derart verweigert. Die Mutter ist stets bemüht, „alles richtig zu machen“ und den äußeren Erwartungen gerecht zu werden, was häufig dazu führt, dass die Bedürfnisse von einem oder mehreren Familienmitgliedern keinen Raum finden – die der Mutter miteingeschlossen. Wir setzen uns also in den Behandlungsraum und die Mutter erzählt, sie habe sich vorgestellt, etwas zu erledigen während Max’ Therapiestunde, und sie fühle sich nun in ihrem Bedürfnis nach Funktionalität und Alltagsorganisation nicht respektiert. Außerdem löse es in ihr Gefühle der Ohnmacht und Hilflosigkeit aus, dass das Kind nicht den gleichen Plan verfolge und ganz offensichtlich eigene Vorstellungen und Bedürfnisse habe, die ganz anders seien als die der Mutter.

Eine starke Verstrickung

Die Situation auf der Straße ließ sich nicht mit Vernunft und Logik lösen und Mutter und Max befanden sich in einer Verstrickung von unausgesprochenen Affekten und Bedürfnissen. Während unseres Gesprächs hören wir Max draußen vor der Tür rufen, dass er auf keinen Fall hochkomme. Ich rufe ihm zu, dass die Tür offen sei und dass er gerne kommen dürfe, wenn er bereit sei. Nach wenigen Minuten kommt er die Treppe hoch und setzt sich in den Wartebereich. Die Mutter und ich sprechen währenddessen weiterhin über die Gefühle der Mutter. Während sie sich sichtlich beruhigt und entspannt, wird es ihr möglich, auch über Max’ Intentionen nachzudenken. Wir spekulieren, was in ihm los sein könnte, welche Gründe dazu geführt haben könnten, dass es für ihn heute besonders schwer war herzukommen. Der Mutter fällt ein, dass die Lieblingstante zu Besuch sei und dass noch andere Termine anstünden, außerdem habe es wenig Zeit nach der Schule gegeben, etwas zu essen.

Durch die Entspannung der Mutter ist es ihr gelungen, sich innerlich empathisch auf ihren Sohn einzustellen, was es nun wiederum Max ermöglicht, zu uns zu kommen und sich dazuzusetzen.

Er ist immer noch sichtlich verzweifelt und spricht mit gepresster Stimme. Aufgrund der Beruhigung der Mutter und des Sortierens der unterschiedlichen Affekte hat sich die Situation beruhigt, was atmosphärisch deutlich spürbar ist. Dadurch öffnet sich für Max ein Raum, in dem er zunächst spüren und dann auch äußern kann, was es ihm so schwer machte, heute zu kommen: Der Besuch der Lieblingstante ist sehr wichtig für ihn und außerdem sei es eh langweilig bei mir, wir spielten ja immer das Gleiche. Nun endlich ist es ihm gelungen, diese Langeweile als seine eigene anzuerkennen, sie zu äußern und dadurch Veränderung anzustoßen.

Unmut äußern

Ich freue mich sehr darüber, wie gut es Max gelingt, seinen Frust und Ärger mir gegenüber zu benennen, das finde ich ganz schön mutig und melde ihm das zurück. Um Max und seiner Mutter direkt erlebbar zu machen, dass Ärger und Frust zu positiven Veränderungen führen können, überlegen wir gemeinsam, wie der Tag in der Familie weiterhin gestaltet werden soll. Dann denken wir darüber nach, wie die nächste Therapiestunde bei mir aussehen könnte; Max hat eine gute Idee, auf deren Umsetzung er sich freut.

Wir beenden die Stunde mit der Verabredung, nächstes Mal ein neues Spiel anzufangen. Seitdem gelingt es Max, ohne Probleme zur Therapie zu kommen. Ab und an wird es langweilig und vor allem für mich frustrierend, weil er wirklich häufig unsere Spiele gewinnt. Sehr aufmerksam verfolgt Max dann, wie ich meinen Ärger oder meine Unlust äußere, und erfährt dabei, welche alternativen Möglichkeiten es noch gibt, außer in Wut und Verzweiflung steckenzubleiben und dies das Gegenüber spüren zu lassen.

So wurde eine Therapiestunde, die sehr unerwartet und vermeintlich chaotisch anfing, zum Beginn für einen wirklich fruchtbaren Prozess. Max kann inzwischen zulassen, dass wir darüber sprechen, wie schwierig es für ihn manchmal ist, im Kopf so schnell und klug zu sein, die eigenen Gefühle aber noch gar nicht gut zu verstehen.

Anne Dullenkopf ist Diplom­sozialpädagogin, systemische Kinder- und Jugendlichen­therapeutin und aktuell in der Ausbildung zur analytischen und tiefenpsychologischen Kinder- und Jugendlichen­therapeutin. Zudem ist sie als Erziehungsberaterin für Familienwohngruppen beschäftigt

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 12/2020: So gelingt Entspannung