Herausforderung „Inklusion“

Behinderte und nichtbehinderte Kinder sollen an Regelschulen gemeinsam lernen, um Stigmatisierung zu verhindern. Kann das funktionieren?

Eine Lehrerin unterrichtet gemeinsam einen Jungen und ein Mädchen mit Down-Syndrom
Das Bildungsthema Nummer eins in Deutschland heißt „Inklusion“. © Kali9/Getty Images

Bis vor kurzem war die Grundschule Lämmersieth eine reguläre Grundschule in Hamburg-Dulsberg. Der von Klinkerbauten geprägte Stadtteil im Hamburger Nordosten ist einer der ärmsten der Hansestadt, hier leben viele belastete Familien und Migranten. Der Unterricht mit Kindern aus diesen prekären Verhältnissen ist also schon lange selbstverständlich an der Grundschule Lämmersieth. Und auch Erfahrung mit Förderkindern hatten die Lehrkräfte dort schon immer. Doch jetzt hat sich etwas verändert: Nun besuchen auch…

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jetzt hat sich etwas verändert: Nun besuchen auch verhaltensgestörte und geistig behinderte Kinder, die zuvor auf Sonderschulen gegangen wären, diese Schule. Das hat Folgen.

Im Jahr 2009 trat die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen in Kraft. Darin ist die gleichberechtigte Teilhabe von behinderten Menschen am gesellschaftlichen Leben festgeschrieben – und auch das Recht auf gemeinsame schulische Bildung. Alle Kinder sollen zukünftig gemeinsam lernen können, wie es in Ländern wie Schweden schon lange praktiziert wird. Dabei ist Inklusion nicht Integration, Behinderte sollen nicht „integriert“ werden in eine Gesellschaft „gesunder“ Menschen – stattdessen steht hinter der Inklusion die Idee, dass alle Menschen einzigartig und Behinderungen lediglich eine Facette der Individualität sind.

Inzwischen ist die Inklusion auch das Bildungsthema Nummer eins in Deutschland, bundesweit wird in Behörden und Schulen mit Hochdruck daran gearbeitet, dass möglichst viele Förderkinder Regelschulen besuchen können. Einige Bundesländer sind dabei durchaus erfolgreich: In Schleswig-Holstein besuchen bereits 49,9 Prozent aller behinderten Schüler Regelschulen, in Berlin 43,9 Prozent und in Bremen 41,2 Prozent. Andere Länder gehen es etwas langsamer an: Baden-Württemberg richtete im Schuljahr 2012/2013 vierzig sogenannte Starterschulen als modellhafte Gemeinschaftsschulen mit inklusivem Bildungsangebot ein, um erste Erfahrungswerte zu sammeln. Eine flächendeckende Einführung soll dort erst im Schuljahr 2014/2015 in Kraft treten.

Viele körperbehinderte Kinder besuchen weiterhin Spezialschulen

Allerdings ist der Begriff „Behinderung“ im Rahmen der schulischen Inklusion irreführend. Denn auf Rollstühle oder visuelle Hilfen im Unterricht sind die meisten Schulen noch immer nicht vorbereitet. Viele körperbehinderte Kinder besuchen weiterhin Spezialschulen, weil kaum eine Regelschule Fahrstühle oder Treppenlifts installiert hat. Auch gehörlosen Kindern bietet der reguläre Schulbetrieb noch zu wenige Möglichkeiten der Teilhabe. Diejenigen behinderten Kinder, die inkludiert werden, haben zu 75 Prozent also ganz andere Probleme: Beeinträchtigungen des Lernens (43,7 Prozent), der geistigen Entwicklung (16 Prozent), der emotionalen und sozialen Entwicklung (11,5 Prozent) und der Sprache (10,6 Prozent). Nicht selten liegen ihren Schwierigkeiten soziale Probleme zugrunde wie prekäre Lebensverhältnisse, bildungsferne Elternhäuser oder wenig Fürsorge. Deshalb sind besonders in Brennpunktstadtteilen viele Förderkinder mit Lernbehinderungen zu finden. „Lernbehinderte Kinder kommen häufig aus sogenannten anregungsarmen Elternhäusern“, sagt Bernd Ahrbeck, Professor für Rehabilitationswissenschaften und Verhaltensgestörtenpädagogik an der Humboldt-Universität Berlin. „Der Satz, die Lernbehindertenschulen sind die Schulen der Armen, ist also nicht völlig falsch.“

Die Grundschule Lämmersieth hat sich intensiv auf ihre vielfältige Schülerschaft eingestellt. Viele großartige Ideen und Projekte hat Direktorin Antje Kılıçlı an der Schule realisiert, um möglichst eng an die Lebenswelt der Kinder und Eltern anknüpfen zu können: Jeder Jahrgang verfügt über einen deutsch-türkischen Zweig, es gibt ein kostenfreies Schülerfrühstück, einen Hort, ein Elterncafé, einen Schulgarten, Musiktherapie, family literacy-Projekte, viele Beratungsangebote für Eltern. Außerdem die preisgekrönte „Kunstetage“ im dritten Stock der Schule, ein gemeinsam von Hamburger Künstlern und Schülern geschaffenes eindrucksvolles Fantasiereich. Und Schulklassen, in denen Kinder mit ganz unterschiedlichen Stärken und Schwächen gemeinsam lernen.

Auch in der Klasse 2c gibt es viele Schüler mit Förderplänen. Farzin, ein dunkelhaariger und kräftiger Junge, hat den Förderschwerpunkt sozial-emotionale Entwicklung. Es fällt ihm schwer, mit den anderen Kindern zurechtzukommen, er neigt zu aggressiven Impulsdurchbrüchen. Damit umzugehen ist nicht leicht: Viele Lehrerinnen möchten die Klasse nicht allein unterrichten, weil sie befürchten, Farzins Wutanfälle nicht unter Kontrolle zu bekommen. Auch nach dem Mathematikunterricht ergibt sich eine kritische Situation. Frau Akbaş, die Lehrerin, ist gerade weg, da entzündet sich aus dem Nichts ein Streit zwischen Farzin und Noah. Farzin schlägt um sich und tritt Noah ins Gesicht. Die Sonderpädagogin Elke Brachtendorf geht lautstark dazwischen, trennt die Jungs und zieht sich mit Farzin ins Besprechungszimmer zurück. „In dieser Situation wäre es wirklich notwendig, noch eine Erzieherin an der Seite zu haben“, sagt sie. Vor der Inklusion waren Integrationsklassen in Grundschulen wie jener in Hamburg-Dulsberg durchgängig doppelt besetzt, mit einem Team aus Lehrkräften, Sonderpädagogen und Erziehern oder Sozialpädagogen. Nun stellt die Behörde in Hamburg pro behindertes Kind für lediglich 3 1/2 Stunden in der Woche eine Tandembesetzung bereit. Eine Doppelbesetzung ist – je nachdem, wie viele Förderkinder die Klasse besuchen – allenfalls stundenweise möglich.

Personelle Ausstellung defizitär

An der Grundschule Lämmersieth befinden sich die Pädagogen deshalb in einem Dilemma. Sie befürworten die Reform und wollen die Inklusion unterstützen. Und doch reicht die personelle Ausstattung hinten und vorne nicht. „Uns sind in den letzten Jahren viele Aufgaben zurückgegeben worden, die früher die Jugendämter oder Sonderschulen innehatten“, sagt Elke Brachtendorf. „Kinder testen zum Beispiel, das sollen wir jetzt selbst organisieren. Schulbegleitungen beantragen – das dauert bis zu einem Jahr. Eigentlich bräuchten wir hier dringend Schulsozialpädagogen. Das System basiert darauf, dass die Menschen, die hier arbeiten, nicht nur engagiert, sondern übermäßig engagiert sind – und oft werden sie dann krank.“

Ob Förderschulen oder Regelschulen für behinderte Kinder besser sind, darüber streiten sich die Experten schon lange. Eine Studie des Bildungsforschers Klaus Klemm für die Bertelsmann-Stiftung ergab, dass die Leistungen von Förderschülern umso schlechter wurden, je länger sie auf der Sonderschule waren. Nur in den wenigsten Fällen schafften die Förderschüler den Sprung auf die Regelschule, mehr als drei Viertel machen nicht einmal einenHauptschulabschluss. „Wir brauchen sicher weniger Behindertenschulen“, sagt auch Bernd Ahrbeck. „Für viele lernbehinderte Schüler ist der inklusive Weg bei entsprechender Ausstattung besser, weil das Anregungsniveau an einer Regelschule höher ist. Aber ich glaube nicht, dass man auf spezielle Schulen ganz verzichten sollte. Es gibt unter den lernbehinderten Kindern auch emotional sehr bedürftige, die große Probleme haben, sich mit Lehrern oder Leistungsansprüchen zu identifizieren. Denen tut es sehr gut, wenn sie einen Schonraum haben und eine enge emotionale Bindung an entsprechende Lehrer.“

Komplexer gestaltet sich die Situation bei massiv verhaltensgestörten Kindern, die manchmal ein großes Unruhe- oder Störpotenzial mitbringen und dadurch die Leistungsentwicklung der ganzen Klasse beeinträchtigen können. Auch an der Schule Lämmersieth ist das bisweilen ein Problem. „Trotz aller Bemühungen geht die Inklusion von verhaltensgestörten Kindern bei uns manchmal zulasten derjenigen Kinder, die vom Verhalten her noch einigermaßen angepasst sind“, sagt Elke Brachtendorf. „Die müssen dann wieder und wieder warten, bis es im Raum endlich ruhig wird.“ Auch bei schwerstbehinderten Kindern, die kaum eine Außenwahrnehmung leisten können und auf basale Stimulierung angewiesen sind, hat die Inklusion im schulischen Bereich manchmal ihre Grenzen. Die meisten Bundesländer werden sich deshalb auch weiterhin beide Strukturen leisten: inklusive Regelschulen und spezielle Fördersonderschulen. Eigentlich müssten sich die Ausgaben für die Bildung behinderter Kinder also verdoppeln. Doch kein Bundesland kann oder will das bezahlen.

Weiterbildungsangebote fehlen häufig

Folgt man den Argumenten der Inklusionsdogmatiker, dann setzt eine gelingende Inklusion voraus, dass alle Kinder ihren eigenen hochgradig individualisierten Unterricht innerhalb einer Schulklasse erhalten. Das kann bedeuten, dass manche Kinder in der dritten Klasse schon flüssig Aufsätze schreiben und andere noch mit dem Abc kämpfen. Lehrer sollten also in der Lage sein, vor dem Hintergrund der individuellen Möglichkeiten der Schüler deren unterschiedliche Lernniveaus zu berücksichtigen. Dies macht vielen Lehrern in Deutschland zu schaffen. Vor allem weil sie gar nicht ausgebildet sind, um Klassen mit Förderschülern im Spektrum Lernstörungen, Asperger, schwerwiegende Verhaltensstörungen oder geistige Behinderung zu bewältigen. „Woher soll ich wissen, was ein geistig behindertes Kind leisten kann?“, fragt eine junge Grundschullehrerin aus dem Süden Hamburgs, die lieber anonym bleiben möchte. „Das war nicht Teil meiner Ausbildung. Es ist alles Learning by Doing, und manches klappt dann eben auch nicht so gut.“

Es fehlt an umfassenden Weiterbildungsangeboten für Lehrkräfte. In manchen Bundesländern gibt es kaum Fortbildungen, in Niedersachsen etwa nur fünf Tage pro Jahr für die Inklusion. In Nordrhein-Westfalen hingegen werden derzeit 2500 Lehrer berufsbegleitend an einem Tag in der Woche über anderthalb Jahre zum Sonderpädagogen weitergebildet – neben dem Schulalltag, ohne zusätzliches Studium. Auch die chronisch klammen Universitäten versuchen schon, aus der offensichtlichen Bildungslücke Profit zu schlagen. Seit neuestem bietet die Universität Hildesheim einen berufsbegleitenden Master „Inklusive Pädagogik und Kommunikation“ an, mit dem Ziel, „Lehrkräfte zu stärken, damit sie die Potenziale aller Kinder besser erkennen“. Private Kosten: 5340 Euro. Und noch eines: Alle Fortbildungen sind freiwillig, kein Lehrer kann verpflichtet werden, sie zu besuchen.

Gerät die Inklusion am Ende also doch zur Sparnummer? Ist es für die Behörden mit ihren knappen Budgets kostengünstiger, Kinder mit Förderbedarf in Regelklassen zu stecken – obwohl die Lehrer noch nicht ausreichend weitergebildet und die Schulen finanziell nicht ausgestattet sind, um eine gute personelle Besetzung zu garantieren? Um inklusiven Unterricht in angemessener Qualität anzubieten, so der Bildungsökonom Klaus Klemm von der Bertelsmann-Stiftung, müssten bundesweit 9300 zusätzliche Lehrkräfte eingestellt werden. Eine lohnenswerte Idee wie die Inklusion kann nicht auf Sparflamme realisiert werden. Ohne zusätzliche Gelder ist die Inklusion eine Mogelpackung. Fehl am Platz sind auch allzu dogmatische Ansätze. Müssen durch die Bank alle Kinder auf Regelschulen gehen oder dauerhaft gemeinsam unterrichtet werden? Die individuellen Bedürfnisse von Kindern bleiben dabei auf der Strecke.

Finnland: Jeder zweite ist einmal Förderschüler – ohne Stigma

Da lohnt ein Blick nach Finnland. Im hierarchiefreien finnischen Schulsystem wird Inklusion schon lange auf eine pragmatische Weise praktiziert. In den vergangenen dreißig Jahren hat Finnland fast zwei Drittel seiner Sonderschulen geschlossen. Stattdessen wird nun in den Schulklassen gefördert: Bis Ende der neunten Klasse ist jeder zweite junge Finne irgendwann schon einmal Förderschüler gewesen – und keiner fühlt sich deshalb stigmatisiert. Gefördert wird nicht nur im Klassenverband, sondern auch in speziellen Räumen auf dem Schulgelände, „Tupas“ genannt, Schutzhütten. Und: Die Klassenverbände sind klein, im Schnitt unter zwanzig Kinder, dafür gibt es an jeder Schule Teams aus Lehrern, Sonderpädagogen, Sozialarbeitern, Psychologen, Schulkrankenschwestern, Laufbahnberatern und Polizeibeamten. Die Finnen setzen also nicht auf dogmatische Ansätze, sondern auf viel Personal und individuelle Förderung. Doch möglicherweise funktioniert das finnische System auch deshalb so gut, weil es per se inklusiv ist: Seit den 1960er Jahren gibt es in Finnland bis zur neunten Klasse ausschließlich Gemeinschaftsschulen – dennoch erreichen 95 Prozent der finnischen Schüler eine Hochschulzugangsberechtigung.

In Deutschland hingegen haben wir ein Schulsystem, das spätestens ab der vierten Klasse exkludiert und separiert. Mit dem Ergebnis, dass die Idee der Inklusion schon ab der weiterführenden Schule hinfällig wird: Zu Zeiten der Integration besuchten nur 54 der rund 3500 Integrationsschüler in Hamburg ein Gymnasium, meist landeten die Integrationsschüler auf den Stadtteilschulen, wie die früheren Haupt- und Realschulen heute genannt werden. Das wird sich wohl auch bei der Inklusion nicht anders entwickeln. „Wenn man sagt, die Inklusion ist die Aufgabe aller, warum sollen dann nur die Stadtteilschulen die schwierigen Schüler aufnehmen und die Gymnasien nicht?“, fragt sich auch Bernd Ahrbeck. „Andererseits hätte ein Kind mit einer Lernbehinderung auf der Stadtteilschule noch eine Chance, in Richtung Hauptschulabschluss zu gehen. Auf dem Gymnasium wäre es völlig fernab aller Lehrpläne.“

Die Lösung kann also nur lauten: Mehr Geld für Personal, mehr Weiterbildung für die Pädagogen und in letzter Konsequenz auch ein inklusiveres Schulsystem. Doch selbst dann gäbe es – ob für behinderte oder nichtbehinderte Kinder – keine reelle Chancengleichheit. „Auch wir wünschen uns eine Schule, in der alle Kinder mit allen Fähigkeiten und Schwächen zusammenarbeiten können“, sagt Elke Brachtendorf. „Aber das funktioniert schon deshalb nicht, weil die Stadtteile so unterschiedlich sind. Chancengleichheit gäbe es nur, wenn man morgens Schulbusse in alle Stadtteile schickt und die Schüler durchmischt. Solche Szenarien denke ich mir manchmal aus.“

Literatur

Bernd Ahrbeck: Der Umgang mit Behinderung. W. Kohlhammer, 2011

„Wir werfen eine 200-jährige Tradition über Bord“

Andreas Hinz ist ein starker Befürworter der Inklusion. Der Professor leitet die Arbeitsbereiche Integrationspädagogik und Körperbehindertenpädagogik an der Universität Halle-Wittenberg und ist Mitherausgeber des schulischen „Index für Inklusion“. Dieses Instrumentarium soll Schulen helfen, sich in eine inklusive Richtung weiterzuentwickeln

PSYCHOLOGIE HEUTE Überrascht es Sie, dass die Debatte um Inklusion an Schulen derzeit so leidenschaftlich geführt wird?

ANDREAS HINZ Nein, überhaupt nicht, weil wir ja gerade eine 200-jährige Tradition der Segregation über Bord werfen müssen, auch was den Unterricht und didaktische Konzepte angeht. Da werden Ängste mobilisiert. Und viele Menschen sind verunsichert, ob Inklusion überhaupt funktionieren kann.

PH Wie beurteilen Sie die Bemühungen der Schulen und Bildungsverwaltungen um Inklusion?

HINZ Es gibt viele Schulen in Deutschland, die stark am Abbau von unbewussten Barrieren arbeiten – und das unabhängig von den Bemühungen der Bildungsverwaltung um die Umsetzung der Behindertenrechtskonvention. Der Abbau von Barrieren hat ja nicht nur mit zusätzlichen Geldern zu tun, sondern vor allem mit Konzepten, Haltungen sowie entsprechenden inneren Strukturen und Praktiken. Was die Bemühungen der Bildungsverwaltungen betrifft, habe ich gemischte Gefühle: An manchen Schulen machen wir gerade wieder eine Rückwärtsrolle in Richtung Kategorisierung, in Hamburg etwa werden Kinder mit Förderbedarf wieder etikettiert als „Paragraf-12-Kinder“, die dann individuelle Ressourcen erhalten. Da sind wir wieder bei der Aufteilung von Menschen in zwei Gruppen gelandet, die „Behinderten“ und die „Nichtbehinderten“. Gerade das wollen wir mit der Inklusion nicht mehr, weil man diese Trennlinie gar nicht sinnvoll ziehen kann.

PH Wie sollte man die Zuwendungen für Kinder mit Förderbedarf stattdessen sicherstellen?

HINZ Kinder mit Förderbedarf finden sich besonders häufig in Stadtteilen mit prekären Lebensverhältnissen, da gibt es ja eine starke soziale Komponente. Ich finde es also absolut notwendig und auch nur gerecht, dass Schulen in ungleichen Situationen ungleiche Ausstattungen bekommen, sprich Schulen in solchen Gegenden mehr Zuwendungen erhalten. Und zwar nicht fallbezogen, sondern pauschal. So können die Lehrer vor Ort am besten entscheiden, wie die Ressourcen am effektivsten eingesetzt werden sollen. Da gibt es noch große Entwicklungspotenziale.

PH Viele Lehrer beschweren sich, dass mangels personeller Ausstattung eine gute Arbeitsatmosphäre kaum herzustellen ist und gerade Schüler mit Förderbedarf so nicht genug Unterstützung im Unterricht erhalten. Wie beurteilen Sie das?

HINZ Das halte ich für ein schwieriges Thema. Die Angemessenheit von personeller Ausstattung hängt sehr davon ab, welche Unterrichtskonzepte die Kollegen haben. Ich war schon in Klassen mit 28 Kindern, die eine ganz tolle Arbeitsatmosphäre hatten und in denen die Kinder an verschiedenen Aufgaben mit unterschiedlichen Schwierigkeitsgraden arbeiteten. Das ist um Himmels Willen keine Empfehlung für große Klassen. Dennoch kann eine sehr gute personelle Ausstattung auch dazu verführen, dass Kinder sich gegenseitig weniger helfen, weil ständig ein Erwachsener in der Nähe ist, der dann sofort springt. Ich halte es allerdings für wichtig, dass mehrere pädagogisch ausgebildete Erwachsene für eine Lerngruppe zuständig sind und sich über die Schüler und Situationen austauschen können.

PH Viele Kinder mit dem Förderbereich geistige Entwicklung oder Lernen schaffen erfahrungsgemäß keine Hauptschulabschlüsse. Wie sollen sie im Rahmen der Inklusion auf weiterführenden Schulen zurechtkommen?

HINZ Das ist in der Tat schwieriger, denn im Grunde genommen widersprechen sich das Integrationsprinzip und das gegliederte Schulsystem. Bundesweit gibt es aber einige Beispiele, wo aufgrund spezifischer Konstellationen Kinder mit massivem Unterstützungsbedarf Gymnasien besuchen, beispielsweise in Jever, Bad Harzburg, Bad Segeberg oder Wyk auf Föhr. Aber das sind noch exotische Beispiele. Was die Leistungsentwicklung angeht, gilt für die beiden Förderschwerpunkte ohnehin der individuelle Maßstab. Dass Jugendliche mit diesen Förderschwerpunkten nicht die Ziele der Sekundarstufe I erreichen müssen – aber manchmal doch können –, kann Anlass dafür sein, diese standardisierten Erwartungen für alle zu hinterfragen.

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 4/2014: Die Sprache des Körpers