Arbeitsstörungen und Prüfungsängste sind in der Psychosozialen Beratungsstelle für Studierende ein häufiger Konsultationsanlass. Nicht selten sind die Hintergründe komplex und vielfältig, wie der Fall von Lena, einer 21-jährigen Biologiestudentin, zeigt. Sie kommt auf Anraten ihres Prüfers, nachdem sie durch eine wichtige mündliche Prüfung gefallen ist. Modisch gekleidet, blond gelockt und stark geschminkt sitzt sie nun vor mir im Erstgespräch und berichtet in monotoner Stimmlage von der vergangenen…
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vor mir im Erstgespräch und berichtet in monotoner Stimmlage von der vergangenen Prüfung, in der sie sich den Fragen hilflos ausgeliefert gefühlt und eine zunehmende „Leere im Kopf“ verspürt hat. Das, was sie eigentlich zum Ausdruck hätte bringen wollen, konnte sie nicht „authentisch genug“ vermitteln.
Es wird deutlich, dass Lena immer versucht, zu erahnen, was ihr Gegenüber hören möchte, und entsprechend zu antworten, was ihr in der Prüfung jedoch nicht gelungen ist. „Das stelle ich mir sehr anstrengend vor“, sage ich, was Lena bejaht, und ich frage sie, warum sie glaubt, dies tun zu müssen. Sie antwortet, dass sie es gern „harmonisch“ mag und „nicht unangenehm auffallen“ möchte. Älteren Erwachsenen gegenüber stellt sie sich gerne als „nett und gutmütig“ dar. Der Grund hierfür liegt vermutlich in ihrer Biografie: Als Einzelkind ist Lena bei einer Mutter aufgewachsen, die – seit sie zurückdenken kann – an hypochondrischen Ängsten und depressiven Verstimmungen leidet und Lena bis heute das Gefühl vermittelt, nicht genug für sie da zu sein. Ihr Vater war überraschend verstorben, als Lena sechs Jahre alt war. Entsprechend schwer fällt es ihr, eigene Bedürfnisse und Interessen zu vertreten und sich gegenüber den Ansprüchen anderer abzugrenzen.
Zu ehrgeizige Lernpläne
Da Lena ihre Wiederholungsprüfung unbedingt bestehen muss, um ihr Studium fortsetzen zu können, biete ich ihr an, sie in der Vorbereitung zu begleiten und zu unterstützen. Die Analyse ihres bisherigen Lern- und Arbeitsverhaltens zeigt: Lena hat Schwierigkeiten in der kontinuierlichen Vorbereitung, sie scheitert an der Umsetzung ihrer zu ehrgeizigen Lernpläne und stellt – weil sie andere nicht enttäuschen möchte – ihre Bedürfnisse hintan.
Zum Zeitpunkt der Beratung lag die Coronapandemie noch in weiter Ferne, was es aus heutiger Sicht leichter machte, Lena über verhaltensorientierte Interventionen zu einer effektiveren Prüfungsvorbereitung und zu einer ausgeglicheneren Work-Life-Balance zu ermutigen. Hierzu zählte das für sie ungewohnte Lernen in der Bibliothek, die Erarbeitung eines realistischen Lernplans und die Planung von ausgleichenden Freizeitaktivitäten, bei denen sie auftanken und Freude erleben konnte. Während sich die Rahmenbedingungen des Lernens kontinuierlich verbesserten, verzweifelte Lena an inhaltlichen Sachverhalten, bei denen es kein klares Richtig oder Falsch gab.
Es wurde deutlich, dass Lena – aus Angst, den Prüfer persönlich zu enttäuschen und dessen Anerkennung und Zuwendung zu verlieren – an ihrem Glaubenssatz festhielt, im Vorfeld die korrekten Antworten erahnen zu müssen, die dieser auf seine Fragen vermeintlich hören wollte; ein unmöglich zu lösendes Problem, an dem sie zunehmend verzweifelte. Aus der Befürchtung heraus, dass der Prüfer sie „doof“ finden könnte, war Lena beispielsweise der Ansicht, dass es besser sei, „lieber gar nichts zu sagen“, wenn sie sich unsicher war, was der Prüfer hören wollte.
Ich gab zu bedenken, dass der Prüfer den Eindruck gewinnen könnte, sie habe sich mit der Thematik überhaupt nicht auseinandergesetzt, was Lena für das Bestehen der Prüfung als nicht zielführend bewertete. Sie beschloss, lieber etwas „nicht ganz so Richtiges“ als gar nichts zu sagen.
Eigene Ansprüche hinterfragen
Über diesen und weitere sokratische Dialoge gelang es Lena, ihre unerreichbaren Überzeugungen und Ansprüche an die Prüfung kritisch zu hinterfragen. Lena gewann zunehmend mehr Zutrauen in ihre Sicht der Dinge, schenkte ihren eigenen Ansichten und Haltungen dem Prüfungsstoff gegenüber immer mehr Beachtung.
Die Wiederholungsprüfung schafft sie schließlich mit sehr gutem Ergebnis. In der Prüfung ist es Lena gelungen, „authentisch und von innen heraus“ zu antworten, ihre Sichtweise der Dinge darzulegen und sich nicht ständig zu überlegen, was der Prüfer hören möchte. Damit ist das ursprünglich vereinbarte Beratungsziel erreicht, sechs Beratungssitzungen sind bis zu diesem Zeitpunkt vergangen. Lena signalisiert jedoch, dass sie weitere Gespräche nutzen möchte, um „noch mehr Sicherheit zu bekommen“.
Ich unterstützte dieses Anliegen, unter anderem weil ich in der Beratungsbeziehung bemerkt hatte, dass Lena sich auch mir gegenüber als „unkomplizierte“ Klientin präsentierte und geneigt war, sich in ihrem gewohnten Muster der Anpassung stark an dem zu orientieren, was ich als die „richtige“ Art der Prüfungsvorbereitung vertrat. Immer wieder hatte ich sie daher dazu eingeladen, ihre Befindlichkeiten mir gegenüber so zu äußern, wie sie waren, und sie darin bestärkt, mir nichts „vorspielen“ zu müssen.
Anfänglich nicht ohne Scham und Zögern, spricht Lena in der siebten Stunde erstmalig von ihrer Beziehung zu einem gleichaltrigen Physikstudenten. Von Anfang an hat es „nicht so richtig gepasst“, auch weil beide „zu verschieden“ sind: sie sehr emotional und er sehr rational. Sein damals hartnäckiges Werben um sie imponierte Lena jedoch, und so hatte sie sich schließlich doch auf eine Beziehung eingelassen. Mittlerweile sind beide fast ein Jahr zusammen und Lena fühlt sich in der Partnerschaft in ihrer Attraktivität zu wenig bestätigt; nur auf ihr Drängen hin macht der Freund ihr noch Komplimente und in den Gesprächen mit ihm vermisst sie „Tiefgang“. All das wirft Lena dem Freund häufig vor und er gelobt Besserung, bislang jedoch mit für sie wenig akzeptablem Erfolg.
Das Symbol der Marionette
Etwas provokativ frage ich Lena, wie es denn wäre, wenn der Freund ihre Kritik vollständig umsetzen und ihr jeden Wunsch von den Lippen ablesen würde. Lena antwortet darauf entrüstet: „Dann wäre er ja wie eine Marionette, das möchte ich nicht! Er soll schon eine eigene Persönlichkeit haben!“ Gemeinsam können wir verstehen, wie der Freund in seinem Bemühen, es ihr besonders recht machen zu wollen, immer mehr unter Druck gerät und sich dabei immer mehr blockiert, was für sie wiederum Anlass zur Kritik bietet, dass von ihm so wenig Eigenes kommt. Ein Teufelskreis und Interaktionsmuster, das sie selbst beispielsweise mit ihrer Mutter und dem Prüfer nur allzu genau kennt.
In dem (für den Freund gefundenen) Symbol der Marionette verdichtet sich Lenas eigener Identitäts- und Beziehungskonflikt: Muss sie zur Sicherung der Anerkennung anderer und einer vermeintlichen Harmonie wesentliche (Selbst-)Anteile verdeckt halten oder darf sie sich so zeigen, wie sie wirklich ist? Auch wenn die Loslösung und Befreiung hin zu einer eigenständigen authentischen Persönlichkeit im Sinne des wahren Selbst nach Winnicott sicherlich nur im Rahmen einer längeren Psychotherapie möglich ist, so hat die insgesamt zwölf Sitzungen dauernde Beratung Lena einen Raum für vertiefende Einsichten in ihre Beziehungsgestaltung, ihre Identitätsproblematik und ihr Ringen um Autonomie und Authentizität eröffnet. Dies hat unmittelbare Auswirkungen auf ihre Beziehung, die sich verbessert hat: Beide schaffen es, „mehr bei sich zu bleiben“. Insgesamt gelingt es Lena deutlich besser, sich selbst zu vertreten und sich gegenüber den Ansprüchen anderer abzugrenzen. Auch Lenas Selbstwertgefühl hat sich verbessert, nicht zuletzt da sie die für sie so wichtige Wiederholungsprüfung mit sehr gutem Ergebnis bestanden hat.
Michael Sperth ist Psychologischer Psychotherapeut und berät seit 2007 Klienten und Klientinnen der Psychosozialen Beratung für Studierende in Heidelberg. Das dortige integrative Beratungskonzept wurde von Professor Dr. Rainer Matthias Holm-Hadulla konzipiert und vom Autor im Rahmen seiner Dissertation auf Effektivität überprüft