Arbeit als Erzieher: „Die Kinder beißen uns, treten uns, schreien uns an“

Erzieherinnen und Erzieher leisten viel, sind unterbesetzt, betreuen anstrengende Kinder – und fühlen sich damit alleingelassen. Ein Erfahrungsbericht.

Kindergartenkinder haben ihre Münder weit auf und schreien
Erzieherinnen und Erzieher müssen mitunter Kinder mit Entwicklungsauffälligkeiten betreuen – und fühlen sich damit nicht selten alleingelassen. © Robert Niedring/Getty Images

Ich bin Erzieher geworden, weil ich dachte, der Beruf sei familienfreundlich – Arbeitszeiten nur bis nachmittags, unbefristeter Vertrag –, aber jetzt fehlt mir oft die Kraft für meine Frau und meinen Sohn. Abends schlafe ich auf dem Sofa ein. Mein Hausarzt hat schon oft zu mir gesagt: „Wenn ich Sie mal eine Woche aus dem Verkehr ziehen muss, sagen Sie Bescheid.“

Ich arbeite in einem großen städtischen Kindergarten in einer Stadt im Rheinland. Unsere Einrichtung liegt in einem Brennpunkt, viele Kinder sind entwicklungsverzögert, haben soziale oder kognitive Defizite. Sie finden schwer ins Spiel, können sich nicht ausdrücken, streiten häufig. Manche rasten regelmäßig aus. Viel Zeit verbringe ich damit, ihnen soziales Verhalten zu vermitteln. Nicht die Bauklötze über die Rübe hauen! Nicht die Sandburg kaputtmachen! Der andere hat dir dein Spielzeug weggenommen? Aha. Kann der überhaupt wissen, dass es deines war? Steht dein Name drauf? Das kostet wahnsinnig viel Kraft.

Verantwortlichkeiten sind nicht geklärt

Im Kindergarten musst du immer präsent sein. Jede Minute. Wenn wenig Personal da ist, haben die Kinder Angst, zu kurz zu kommen, und drehen erst richtig auf. Meine Arbeitszeit beginnt um 7.15 Uhr morgens und endet nachmittags um 15.45 Uhr, eine halbe Stunde habe ich Mittagspause. Mittwochs arbeite ich von sieben bis halb fünf.

Wenn ein Kind schon morgens um zehn randaliert, könnte ich eigentlich direkt danach nach Hause gehen. Mache ich natürlich nicht. Aber ich bin dann durch, erschöpft, emotional und körperlich. Ich kann mich nicht mehr konzentrieren, mir nichts mehr merken, vergesse Absprachen. Um drei Uhr nachmittags ist sowieso die Luft raus. Dann sortiere ich meist nur noch die Hausschuhe in der Garderobe.

Vieles wäre leichter, wenn uns unsere Leitung unterstützen würde und wir klare Vorgaben hätten. Aber das Gegenteil ist der Fall. Entscheidungen werden aufgeschoben, Aufgaben nicht verteilt. Wir arbeiten in einem multiprofessionellen Team mit Erzieherinnen und Erziehern, heilpädagogischen und Integrationskräften, und es ist zum Beispiel nicht klar, was die Erzieher tun sollen und was die Integrationsassistentinnen.

Am schlimmsten sind die unausgesprochenen Konflikte

An die letzte Teamsitzung kann ich mich nicht einmal erinnern. Unsere Chefin kommuniziert hauptsächlich per WhatsApp mit uns, auch außerhalb unserer Arbeitszeiten. Manchmal sendet sie fast 20 Nachrichten pro Tag an unsere Privathandys. Neulich schrieb sie uns morgens gegen halb sieben eine Anweisung für den Tag. So etwas kann nicht funktionieren. Wir müssen uns doch absprechen und vorbereiten können. Manchmal komme ich mit einer Frage zu ihr ins Büro, und anstatt zu antworten, motzt sie mich an, weil sie Pause hat. Aber woher soll ich das wissen, wenn sie kein Schild aufhängt und nicht im Pausenraum ist?

Das führt dazu, dass jeder vor sich hinwurschtelt. Unser Team ist recht stabil. Wir versuchen, uns zu unterstützen, aber im Haus knallt es regelmäßig. Zum Beispiel wenn ein Therapeut ein Bilderbuchkino aufbaut, ohne sich mit den anderen Kräften abzusprechen. Noch schlimmer sind die unausgesprochenen Konflikte. Es wird viel hintenrum geredet. Im Kindergarten arbeiten überwiegend Frauen und die sind nicht immer nett zueinander. Oft habe ich schon Kolleginnen heulen sehen. Solche Streitereien strengen zusätzlich an, dabei verlangen uns die Kinder schon genug ab.

Manche Kinder gehören nicht in den Kindergarten, sondern müssten psychologisch betreut werden. Einer hat versucht, hüfthohe Regale umzuschmeißen, ein anderer ist bei einem Ausflug einfach abgehauen. Solches Verhalten können wir nicht auffangen.

Vor Überforderung beinahe die Kontrolle verloren

Einmal bin ich vor mir selbst erschrocken. Ich musste dringend auf die Toilette, konnte aber nicht gehen, weil die Kolleginnen woanders beschäftigt waren. Ich war allein mit 30 Kindern in der Bauecke, als drei von ihnen ausgetickt sind. Ein Junge hat versucht, sich auf einen anderen zu werfen. Es war so ein kleiner Buddha, bestimmt 30 Kilo oder schwerer. Noch bevor ich reagieren konnte, kam meine Chefin um die Ecke und wollte wissen, was los ist. Ich habe ihr geantwortet: Alle Kinder sind hier; wo die Kolleginnen sind, weiß ich nicht. Wir haben dann beschlossen, alle zum Spielen nach draußen zu schicken, und ihnen die Jacken angezogen.

Danach bin ich erst einmal auf die Toilette gegangen. Auch um mich zu beruhigen. Das ist der einzige Ort im Kindergarten, an dem man einen Moment seine Ruhe hat. Meine Hände haben gezittert. So etwas habe ich noch nie erlebt. Es war nichts passiert. Ich habe den Jungen nicht geschlagen, nicht geschrien. Aber ich hätte es tun können, wenn meine Chefin nicht gekommen wäre. Ich hatte mich nicht mehr unter Kontrolle. Das war ein schlimmes Gefühl. Gern hätte ich mit meiner Chefin darüber gesprochen, aber sie interessiert sich nicht dafür, wie es uns geht.

Allein gelassen mit Gefühlen und Grenzsituationen

Die Kinder beißen uns, treten uns, schreien uns an, und die Chefin meint, da könne sie uns nicht helfen, das müssten wir aushalten. Einmal hat mir ein Kind die Brille aus dem Gesicht geschlagen. Als ich ihr das erzählt habe, hat sie nur gesagt: „Gott sei Dank ist die Brille nicht kaputt, sonst hätte ich ohne Ende Schreibkram.“ Statt Mitgefühl zu zeigen! Statt zu fragen: Wie geht es dir? Ich bin doch auch ein Mensch mit Gefühlen. Das macht doch etwas mit mir, wenn mir ein Kind ins Gesicht schlägt.

Ich weiß von einem Fall in unserer Gegend, da ist einer Erzieherin gekündigt worden, weil sie aggressiv geworden ist. Das könnte bei uns auch passieren. Wir müssen so viel leisten, sind oft knapp besetzt, betreuen schwierige Kinder, und in Grenzsituationen lässt man uns allein. Wenn die Leitung mich nicht schützt, bin ich aufgeschmissen. Das Schlimmste sind nicht die Kinder, sondern dieses Gefühl: Wenn etwas passiert, stehe ich allein da.

Lesen Sie hier mehr aus unserer Rubrik „Das halbe Leben“ rund um das Berufsleben:

Überforderte Vorgesetzte in der Kita

Frau Anders, ein Erzieher leidet unter fehlenden Vorgaben der Kitaleitung und fühlt sich nicht genug unterstützt. Was ist in der Kita los?

Ich sehe in der Situation ein typisches Beispiel dafür, dass offenbar wegen Fachkräftemangel und Krankheitsrate keine Zeit ist, Grundlegendes zu klären, wobei nur diese Absprachen effizientes Arbeiten ermöglichen. Wenn Zuständigkeiten und Abläufe nicht geklärt sind, kommt es viel öfter zu Missmut, Missverständnissen und Konflikten.

Wie beurteilen Sie die Situation der Chefin?

Mir scheint, die Chefin ist wegen der großen Überforderung im Panik- und im Abgrenzmodus und kann die Meta­ebene nicht mehr einnehmen. Vielleicht bekommt sie selbst Druck oder hat keinen Rückhalt vom Träger der Kindertagesstätte. Wenn sie aus Zeitmangel per WhatsApp Anweisungen verschickt, sind das Schnellschüsse, damit macht sie sich Feinde. Das Problem: Starke Überforderung führt dazu, dass man wegschauen will und kein offenes Ohr mehr für andere haben kann. Aber genau dieses offene Ohr bräuchten die Mitarbeitenden in der Situation, um den Rückhalt zu spüren.

Wie könnte die Lage verbessert werden?

In regelmäßigen Teamsitzungen und Supervisionen müssten die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die Möglichkeit haben, Probleme anzusprechen und Abläufe und Verantwortlichkeiten zu klären. Notfallpläne für Personalnotstand und Situationen, in denen Kinder andere gefährden, sind wichtig. Wenn man sich auf diese Weise mit dem Thema auseinandersetzt, treten Notfälle viel seltener ein.

Interview: Susanne Ackermann

Michaela Anders ist Sozialpädagogin und Personalentwicklerin, war neun Jahre Leitung und Trägervertreterin für Kindertagesstätten und berät diese nun als Trainerin und Speakerin.

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 4/2023: Schüchtern glücklich sein
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