Herr Dr. Schade, Polizeibeamte und Rettungskräfte klagen vermehrt, dass die Sitten im Straßenverkehr rauer geworden seien und Autofahrer ungeduldiger und aggressiver würden. Stimmt das?
Das wird tatsächlich in jüngster Zeit immer wieder kolportiert, es gibt Medienberichte, Befragungen von Verkehrsteilnehmern, Aussagen der Polizei und der Rettungskräfte. Viele sprechen vom Verkehrsklima, das rauer geworden sei. Meiner Meinung nach gibt es dafür keine Belege. Die empirische Basis ist zu dünn. Zunächst einmal…
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sei. Meiner Meinung nach gibt es dafür keine Belege. Die empirische Basis ist zu dünn. Zunächst einmal ist unklar, welche konkreten Indikatoren wir verwenden sollten: die Anzahl der Verkehrstoten, der Unfälle, Einträge ins Verkehrszentralregister, Strafanzeigen? Darüber herrscht keine Klarheit. Und was messen diese Zahlen wirklich? Die Zahl der tödlichen Verkehrsunfälle sinkt seit langem – aus all diesen Zahlen lässt sich nicht schließen, dass die Moral im Verkehr zurückgeht.
Für eine schlechtere Verkehrsmoral gibt es also keine Hinweise – aber warum fotografieren Menschen Unfälle und stellen diese Bilder ins Netz, anstatt zu helfen?
Vorweg möchte ich sagen, dass ich den Ausdruck „Gaffer“ für unpassend halte. Es ist erst einmal schlicht Neugier. Schon immer haben Menschen gern zugesehen, wenn irgendetwas passiert ist. Und seit Menschen ihr Leben online mit anderen teilen wollen, stellen sie eben Fotos ins Internet. Das geht leicht und schnell, jeder hat ein Smartphone dabei. Aber da es nicht alle machen, steckt wohl mehr dahinter. Meiner Meinung nach ist es der Wunsch nach Aufmerksamkeit. Zeuge eines Unfalls zu sein ist ungewöhnlich und aufregend, ein „krasses“ Erlebnis. Davon anderen zu berichten heißt, auf dem umkämpften „Markt der Aufmerksamkeit“ wahrgenommen zu werden. Noch etwas kommt hinzu: Wir alle neigen zur Nachahmung. Das Verhalten im Stau ist ein gutes Beispiel: Kaum fährt einer auf den Standstreifen, um – unerlaubt – an den anderen vorbei schnell zur nächsten Ausfahrt zu gelangen, machen es andere auch. Wer anfängt zu fotografieren, regt auch andere dazu an. Und ein wenig Medienkritik muss an dieser Stelle sein: Wenn die lokalen Medien ausrücken, um Fotos von Unfallorten zu machen, fühlen sich natürlich auch andere berufen.
Und warum helfen manche nicht?
Sie fühlen sich nicht verantwortlich, sind unsicher oder haben das Gefühl, es nicht zu können. Dann rechtfertigen sie ihr Nichteingreifen vor sich selbst damit, dass sie ansonsten womöglich Fehler machen und Schaden anrichten könnten.
Sie haben einmal den Straßenverkehr als Miniatur unserer alltäglichen Lebensumwelt bezeichnet. Was genau meinen Sie damit?
Dieser Gedanke stammt von dem österreichischen Verkehrspsychologen Dieter Klebelsberg, Verfasser eines der ganz wenigen Lehrbücher zu diesem Teilgebiet der Psychologie. Er sieht den Straßenverkehr als maßstabsgerechte Verkleinerung der Gesamtsituation unserer Gesellschaft – der Verkehr spiegelt vieles, was in uns vorgeht und was wir auch sonst tun: Verarbeitung von Frustrationen, Konflikte austragen oder Stress aushalten, Regeln missachten. Aber wir kooperieren auch und sind rücksichtsvoll. Und viele fahren einfach gerne. Aktuelle Umfragen zeigen: Autofahren macht den meisten immer noch Spaß, auch wenn in den Medien und angesichts der Skandale wie „Dieselgate“ manchmal der Eindruck entsteht, wir befänden uns schon in einer Nach-Auto-Zeit.
Ein vielleicht etwas plakatives Beispiel: Der Familienvater, der sich morgens ins Auto setzt und dann – während er ein Klavierkonzert hört – zur Arbeit fährt, der fühlt sich nicht gestresst, sondern erlebt dies als entspannend und als Pause von der turbulenten Familie. Selbst die nervigen Staus werden zur Normalität und quasi eingeplant, viele gewöhnen sich daran. Natürlich gibt es wie im richtigen Leben speziellen Stress: Ist etwa eine Mutter oder ein Vater mit Kleinkindern im Berufsverkehr unterwegs und werden sie es voraussichtlich nicht rechtzeitig zum Kinderarzt oder in die Schule schaffen, dann kann es leichter zu Konflikten kommen, und die Wahrscheinlichkeit steigt, dass ein unbeabsichtigter Fehler passiert.
Dies alles gilt im Übrigen auch für den öffentlichen Verkehr. Einige fahren gern Bahn, weil sie arbeiten und lesen können. Aber im Ruhrgebiet morgens um 7.30 Uhr in einer stickigen, überfüllten S-Bahn zu sitzen, häufige Verspätungen oder mehrmals umsteigen müssen, auch das ist nicht jedermanns Sache.
Warum gefällt uns das Autofahren?
Das Auto ist das größte Machterweiterungsinstrument, das wir haben. Mit wenig Aufwand steuern und bewegen wir ein großes und schweres Gerät – wann sonst haben wir die Möglichkeit dazu?
Und was ist das Faszinierende am Schnellfahren?
Darauf antworte ich immer, dass Schnelligkeit in unserer leistungsorientierten Gesellschaft grundsätzlich als etwas Positives gilt. Wer als Erster da ist, ist immer auch ein bisschen besser, schon Kinder wissen das. Schnell zum Ziel zu kommen ist ein Erfolg.
Worin sehen Sie das größte Übel im Straßenverkehr?
Wer sich im Straßenverkehr an Regeln hält, wird oft bestraft. Wenn Sie einen ausreichenden Abstand zum vorausfahrenden Auto halten, schert jemand vor Ihnen rein; wenn Sie so schnell fahren wie vorgeschrieben, fährt häufig ein anderer zu dicht auf, betätigt die Lichthupe, das reicht bis hin zu gefährlichen Überholmanövern auf Landstraßen. Selbst wenn Sie Fehler anderer tolerieren, kann das wieder andere aufregen. Wer dagegen selbst drängelt, jemanden schneidet oder bei Gelb gerade noch über die Ampel rast, gilt als erfolgreich und muss keine negativen Reaktionen befürchten.
Besonders für Fahranfänger ist das eine schlechte Lernsituation: Nebendran sitzt der Fahrlehrer und pocht auf die Regeln, während die Autofahrer drum herum genervt wirken und sich hinter ihm Schlangen bilden mit ungeduldig gestikulierenden Fahrern. Fahranfänger fühlen sich so schnell als Hemmnis im Verkehr, dabei wollen sie einfach nur im Strom schwimmen. Generell gilt: Wenn jeder sich an alle Regeln hielte, ließe sich die Anzahl der Verkehrstoten weiter verringern.
Im Zusammenhang mit dem Missachten von Regeln haben Sie auf das Phänomen minor social deviance aufmerksam gemacht. Was ist darunter zu verstehen?
Darunter verstehen Psychologen eine allgemeine Neigung, Regeln bewusst nicht einzuhalten oder – drastischer ausgedrückt – Normen absichtlich zu verletzen, nicht nur im Straßenverkehr, auch darüber hinaus. Das hat nichts mit Fehlern zu tun – etwa mit dem Übersehen eines Schildes –, die unbeabsichtigt sind und etwa im Stress passieren können. Das heißt, diese Fahrer fahren 130, obwohl sie das 100-Schild genau gesehen haben. Untersuchungen haben gezeigt: Es gibt Menschen, die haben eine höhere Wahrscheinlichkeit, solche Normverstöße zu begehen oder Regeln bewusst zu missachten. Überwiegend sind es Männer. Die Ursachen sind komplex – so kann es sein, dass jemand von klein auf nicht gelernt hat, Regeln einzuhalten, und deshalb sein Leben lang Probleme mit Autoritäten hat.
Aber: Wenn solche Fahrer nie erwischt werden, lernen sie im Laufe der Zeit etwas: Jedes zu schnelle Fahren, das nicht geahndet wird, erleben sie als Belohnung und Anreiz, es wieder zu tun. Negative Konsequenzen fehlen, und das fühlt sich gut an. So entsteht das, was der „notorische Raser“ genannt wird.
Gibt es noch andere Persönlichkeitstypen, die im Verkehr negativ auffallen?
Ja, es ist zum Beispiel nachgewiesen, dass manche Menschen sich schneller ärgern als andere, und das tun sie auch beim Autofahren. Sie neigen also ebenfalls zu riskantem Fahren. Psychologen kennen außerdem sensation seeking oder risk taking: Wer so „tickt“, also abenteuerlustiger und neugieriger ist als andere, sucht beim Autofahren intuitiv wie in anderen Lebensbereichen auch das für ihn optimale Erregungsniveau und erreicht es dann bei sehr schnellem Fahren.
Wenn es sich um Persönlichkeitsmerkmale handelt – wie kann man regelmissachtende Fahrer zu rücksichtsvollerem Fahren erziehen?
Das deutsche System der Eignungsdiagnostik, sprich die medizinisch-psychologische Untersuchung (siehe Kasten), die am Individuum ansetzt, gilt als international anerkannt und erfolgreich. Damit wird dem Einzelnen die Chance gegeben, sich zu verändern und zu beweisen, dass er Auto fahren kann. Doch die Voraussetzung dafür, dass jemand an dieser Diagnostik überhaupt teilnimmt, ist, dass das Fehlverhalten frühzeitig entdeckt wird. Sprich, dass der Verkehr ausreichend überwacht wird. Und hier zeigt sich seit einiger Zeit, dass offenbar dafür immer weniger Geld zur Verfügung steht – das ist ein Schritt in die falsche Richtung. Es muss mehr kontrolliert werden anstatt weniger.
Zugleich spielt aber aus psychologischer Sicht auch die Situation im Straßenverkehr eine wichtige Rolle, genauer gesagt: die Straßen selbst, die den Fahrern immer wieder vermitteln, wo sie gerade sind. Hier wird derzeit in der Forschung das Konzept der „selbsterklärenden Straße“ diskutiert, beispielsweise werden neue Kategorien von Straßen entwickelt. Diese zeigen dem Fahrer durch passende Markierungen und Farben genau an, wo er ist, was er oder sie erwarten kann, etwa ob es Gegenverkehr gibt oder Überholverbot besteht. Diese Erwartungen sind wichtig, und Autofahrer lesen sie quasi direkt aus der Straße ab, mehr als aus Schildern, die leichter zu übersehen sind. Hier haben wir meiner Meinung nach in Deutschland noch Nachholbedarf.
Medizinisch-psychologische Untersuchung (MPU)
Bei der MPU geht es um die Eignung zum Autofahren aus medizinischer und psychologischer Sicht. Die Führerscheinstellen können diese Untersuchung bei verschiedenen Vorkomnissen anordnen, die zum Entzug des Führerscheines geführt haben, etwa Alkohol- oder Drogenproblemen. Auch verkehrsrechtliche Auffälligkeiten gehören dazu: Wenn ein Autofahrer beim Kraftfahrtbundesamt in Flensburg 8 Punkte angesammelt hat, wird der Führerschein entzogen. Die im Volksmund „Idiotentest“ genannte Untersuchung ist jeweils Voraussetzung für eine neue Erteilung des Führerscheins.
Diplompsychologe Dr. Jens Schade ist Leiter des Wahrnehmungslabors des Lehrstuhls Verkehrspsychologie der Technischen Universität Dresden. Er forscht u. a. zu psychologischen Fragen der Mobilität und des Verkehrsverhaltens, tinyurl.com/PH-Jens-Schade