Irgendwann morgens fällt Sarah im Kindergarten hin. Ihr Knie blutet, aber ihre Hose bedeckt die Schramme. Ihre Erzieherin hat nicht gesehen, was passiert ist, aber sie spürt, dass etwas nicht in Ordnung ist, und fragt: „Bist du okay?“ Sarah wendet sich ab, senkt den Kopf, zieht die Schultern hoch und heftet den Blick auf den Boden. Sie sieht abweisend aus, fast trotzig und sagt kein Wort. Aber als ihre Mutter sie abholt, wirft sie sich weinend in ihre Arme und bittet um ein Pflaster.
Sarah war damals vier…
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ein Pflaster.
Sarah war damals vier Jahre alt, und diese war eine von vielen Situationen, in denen sie Hilfe gebraucht hätte, sich aber nicht mitteilen konnte. Sie leidet an selektivem Mutismus, einer komplexen Angststörung, die es ihr schwer bis unmöglich macht, in der Öffentlichkeit zu sprechen, während sie zu Hause eine lustige Quasselstrippe ist. Kinder mit selektivem Mutismus sprechen üblicherweise daheim ganz normal mit vertrauten Menschen wie Eltern und Geschwistern, verstummen aber regelmäßig in Situationen, in denen Sprechen erwartet wird – zum Beispiel auf Familienfeiern und Kindergeburtstagen, beim Arzt, beim Einkaufen, auf dem Spielplatz und ganz oft im Kindergarten und in der Schule.
Bis zu 2 Prozent aller Grundschüler betroffen
Ihr Schweigen liegt nicht an einer Störung in der Sprachentwicklung, obwohl jedes zweite betroffene Kind auch mit einer solchen Problematik zu kämpfen hat. Laut dem amerikanischen Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM-5) ist selektiver Mutismus eine Angststörung, genauer: eine spezifische Phobie. Diese führt mit der Zeit zu einem Vermeidungsverhalten: Wer die Höhe fürchtet, steigt nicht auf Türme, wer Spinnen scheut, geht nicht in den Keller, wer Angst vor dem Sprechen hat, schweigt. 75 Prozent der Betroffenen leiden zudem noch an weiteren Angstproblematiken wie Trennungsängsten oder Zwangsstörungen.
Studien aus den USA und Israel legen nahe, dass zwischen 0,7 und 2 Prozent der Kinder im Grundschulalter unter selektivem Mutismus leiden – also mindestens 7 von 1000 Kindern. Zum Vergleich: Störungen aus dem autistischen Spektrum kommen mit 1,1 bis 2,6 Prozent etwas häufiger vor. Aber wer schweigt, stört nicht, und so werden selektiv mutistische Kinder meist nur als extrem schüchtern wahrgenommen.
Das hat zur Folge, dass sie oft erst im Alter von fünf bis acht Jahren diagnostiziert werden, obwohl die Störung bereits zwischen drei und fünf Jahren beginnt. Vier von zehn Kindern bekommen keine spezifische Therapie, im schlimmsten Fall werden sie als autistisch fehldiagnostiziert. Häufig wird darauf gewartet, dass sich das Schweigen auswächst, was jedoch selten – und nur unter emotionalen Qualen – geschieht.
Ohne Behandlung steigt das Depressionsrisiko
„Schüchterne Kinder tauen nach einer Anwärmphase auf. Kinder mit selektivem Mutismus können jahrelang schweigen. Spricht ein Kind vier Wochen nach Kindergarten- oder Schulbeginn nicht, ist das ein Alarmsignal“, differenziert Steven Kurtz. Er hat das Selective Mutism Program am Child Mind Institute in New York aufgebaut, arbeitet aber mittlerweile in privater Praxis. Das Child Mind Institute ist eine gemeinnützige Organisation, die darauf spezialisiert ist, Kindern mit psychischen Problemen zu helfen. Steven Kurtz hat in den vergangenen 15 Jahren 500 Kinder mit selektivem Mutismus gesehen und 90 Prozent davon geholfen. „Selektiver Mutismus kann gut mithilfe von Verhaltenstherapie und eventuell medikamentöser Unterstützung überwunden werden. Unbehandelt ist die Gefahr groß, dass weitere Angststörungen oder auch Depressionen dazukommen“, sagt er.
Die Angst vor dem Sprechen hat viele Facetten: Manche Kinder sind so ängstlich, dass sie gar nicht oder nur mit Gesten kommunizieren – sie nicken, schütteln den Kopf, zucken mit den Schultern, deuten. Andere pusten, äußern einzelne Laute, ahmen Tiergeräusche nach oder sprechen Babysprache. Dritte flüstern, sagen Wörter oder ganze Sätze, aber nur zu ausgewählten Personen. Manche sprechen mit Kindern und nicht mit Erwachsenen, aber es kann auch gerade umgekehrt sein.
Keines dieser Kinder schweigt vorsätzlich. Sie alle wollen reden. Erwachsene denken trotzdem oft, die Kinder seien trotzig oder wollten sie provozieren, denn die zugrunde liegende Angst ist ihnen nicht ins Gesicht geschrieben. Stattdessen sieht es maskenhaft aus, wie leer gewischt von Gefühlen. Nicht bei allen, aber bei vielen reagiert der Körper panisch: Das Herz rast, die Hände sind schweißnass, der Hautwiderstand ist erhöht, alle Muskeln sind angespannt und bereit zur Flucht.
Genetische Veranlagung und verpasste Chancen zur Überwindung der Angst
Selektiver Mutismus ist kein Zeichen dafür, dass daheim etwas schiefläuft, und verdeckt auch kein Trauma, darin sind sich Fachleute einig. Ein traumatisiertes Kind verstummt eher völlig statt nur in bestimmten Situationen. Es sind alltägliche Dinge wie der Kindergartenstart, der Schulbeginn, ein Umzug, Mehrsprachigkeit oder das Leben in einer fremden Kultur, welche die Angststörung auslösen können. So sind mehrsprachige Kinder wie Sarah, die als Deutsche in den USA aufwächst, dreimal häufiger betroffen. Und gerade bei diesen Kindern wird das Schweigen leicht missverstanden: Lernt ein Kind eine zweite Sprache, durchläuft es eine stille Phase, die bis zu einem Jahr dauern kann.
„Kinder mit selektivem Mutismus haben meist ein gehemmtes Naturell. Bei etwa 75 Prozent hat mindestens ein Elternteil als Kind mit sozialen Angststörungen gekämpft“, sagt Steven Kurtz. Zu der genetischen Disposition kommt, dass Erwachsene das Schweigen oft lange unbewusst stützen, indem sie für die Kinder antworten. Ein Beispiel: „Wie heißt du denn?“, fragt die Frau an der Supermarktkasse.
Sarah schweigt. Die Frau legt nach: „Na, bist du wohl schüchtern?“ Schweigen. Sie versucht es mit einem Scherz: „Hast du etwa deine Zunge verschluckt?“ Schweigen. Die Situation ist für alle drei unangenehm, und Sarahs Mutter sagt: „Sie heißt Sarah.“ Drei kleine Worte. Alle fühlen sich besser. Ihre Mutter ist erleichtert und Sarahs Angst verschwindet, aber sie hat gelernt: Ich muss meine Angst nicht überwinden. Jemand wird mich retten. Jemand wird für mich reden.
Gruppentherapie durchbricht den Teufelskreis
Jedes Mal, wenn ein Kind nicht sprechen kann, schleift sich das schweigende Verhalten tiefer ein, darum ist es wichtig, diesen Teufelskreis so früh wie möglich zu durchbrechen.
Je schneller und intensiver ein Kind Hilfe bekommt, desto höher sind die Heilungschancen. Tatsächlich startet die Therapie aber meist zu spät und dauert zu lang. Kurtz hat darum eine Intensivgruppentherapie für drei- bis achtjährige Kinder entwickelt, die Brave Buddies („Mutige Freunde“). Das ambulante Programm läuft in New York zweimal im Jahr für fünf Tage und viermal für einen Einzeltag.
In den vergangenen fünf Jahren absolvierten insgesamt 121 Kinder den Wochenkurs, und Steven Kurtz schätzt, das 12,5 Prozent von ihnen anschließend diagnosefrei waren. Bei zwei Dritteln besserten sich die Symptome signifikant, 12,5 Prozent kamen mehrmals, so wie Sarah.
Als sie das erste Mal bei den Brave Buddies mitmachte, war sie so ängstlich, dass sie nur wenige Worte über die Lippen brachte. Trotzdem sagte sie beim Abholen zuallererst: „Mama, ich habe brave talking gemacht, und es hat sich gut angefühlt.“ Etwas in ihr war angestoßen worden, und am folgenden Tag antwortete sie nach zweieinhalb Jahren des Schweigens ihrer Erzieherin im Kindergarten das erste Mal. „Worin habt ihr euch in der letzten Zeit geändert?“, hatte diese gefragt. „Ich mache jetzt mutiges Sprechen und habe neue Freunde“, sagte Sarah.
Brave Buddies simuliert einen typischen amerikanischen Grundschultag mit Morgenkreis, Präsentationen, Frage-und-Antwort-Situationen, Mittagessen, Spielzeiten, Aktivitäten und Ausflügen. Alles zielt darauf, ohne Druck möglichst viele Situationen zu kreieren, in denen die bis zu 24 Kinder sich trauen zu sprechen. Allen Kindern steht ein eigener Psychologe oder Psychologiestudent zur Seite, der einschätzt, wie weit das Kind ist, es motiviert und ihm hilft, täglich fünf Stunden in Erfolgserlebnissen zu baden. Das macht selbstbewusst, und diese Dynamik überträgt sich in den Alltag.
Kinder das Spiel leiten lassen
Sarah erlebte bei den Brave Buddies das erste Mal, wie es sich anfühlt, in einer Gruppe sprechen zu können. Um so weit zu kommen, wurde sie schrittweise an die anderen Kinder und deren Betreuer gewöhnt: Zuerst spielte sie mit ihrer Mutter, dann kam die Psychologiestudentin Julia dazu. Als Sarah sich mit Julia wohlfühlte und ein paar Worte gesagt hatte, ging die Mutter fort. Julia und Sarah spielten erst allein, später kam ein anderes Kind dazu. Langsam rückten die drei an die Gruppe heran – stets nur so viel, dass die Worte weiter flossen. Erst spielten sie bei geschlossener Tür, dann bei offener, dann im Flur, am Rand des Zimmers, in dem alle anderen spielten, bis sie schließlich inmitten des Trubels waren.
Alle Betreuer schult Steven Kurtz in solchen Strategien, außerdem bringt er ihnen auch eine von ihm modifizierte Version der Eltern-Kind-Interaktionstherapie bei (Parent Child Interaction Therapy, PCIT). PCIT ist ein verhaltenstherapeutisches Programm, das ursprünglich entwickelt wurde, um sozial auffälligen Kindern zu helfen. Eine Regel ist dabei, Kinder nicht mit Fragen zu löchern, sondern sie das Spiel leiten zu lassen und erst einmal in Ruhe nonverbal Kontakt aufzunehmen. Das ist für selektiv mutistische Kinder besonders wichtig, weil sie die Welt sehr rasch unterteilen in Menschen, mit denen sie sprechen können, und solche, mit denen es nicht geht. Hat sich das Schweigen mit Leuten etabliert, ist es sehr schwer, es zu überwinden. Wohlbekannte Personen, Orte und Aktivitäten sind oft wie kontaminiert, während neue Menschen und Situationen noch nicht mit einer Geschichte des Nichtsprechens verknüpft sind.
„Um nicht in der falschen Schublade zu landen, ist es das Allerwichtigste, erst einmal überhaupt keine Fragen zu stellen“, sagt Steven Kurtz. Wer nicht fragt, erwartet keine Antwort. Das nimmt den Druck zu sprechen, was die Angst signifikant senkt. Doch diese Zurückhaltung fällt den meisten Menschen schwer. Der Psychologe hat in Videoaufzeichnungen gezählt, dass Erwachsene einem schweigenden Kind in fünf Minuten bis zu 24 Fragen stellen.
Wiederholen und loben
Und wie kommunizieren wir, ohne zu fragen? „Wir lassen uns ganz von den Ideen des Kindes leiten, wir beschreiben, was es tut, loben es dafür, imitieren, was es macht, und zeigen unsere Begeisterung“, beschreibt er die Regeln des Spieltrainings, eines weiteren Grundbausteins der PCIT. Statt: „Kochst du Kaffee? Lass uns Kaffeekränzchen spielen“, würde man sagen: „Du stellst den Kessel auf den Herd. Du nimmst die gelbe Tasse. Toll, wie behutsam du sie hältst.“ Es können schon 15 bis 20 Minuten Spieltraining genügen, damit ein Kind sich entspannt und von sich aus Kontakt aufnimmt – mit einer offeneren Körpersprache, einem Lächeln, mit Tiergeräuschen oder einzelnen Lauten, einem Flüstern oder sogar seiner regulären Stimme. Beginnt das Kind zu verbalisieren, helfen ihm spezielle Kommunikationsregeln, mehr zu sprechen (siehe Kasten 7 Regeln für mutiges Sprechen).
Als die Brave Buddies loszogen, um Eis essen zu gehen, übte Julia auf dem Weg zur Eisdiele zum Beispiel unentwegt das Bestellritual mit Sarah: „Möchtest du eine Kugel Schokoladeneis oder Vanilleeis?“ „Vanille.“ „Vanille, das hast du toll gesagt. Magst du es in der Waffel oder im Becher haben?“ „In der Waffel.“ „In der Waffel, danke, dass du mir das sagst. Willst du Streusel darauf haben oder etwas anderes?“ „Streusel.“ „Klasse, dass du sagst, dass du Streusel haben willst, das hast du alles sehr mutig gesagt.“ Als sie schließlich in der Eisdiele standen, hatte Sarah so oft geübt, dass sie ihr Eis selbst bestellen konnte.
„Ich musste mich daran gewöhnen, alles, was Sarah sagt, zu wiederholen und sie dafür explizit als mutig zu loben“, sagt ihre Mutter. Sarah bekam auch erst einmal einen Schreck, wenn sie so deutlich auf ihr Sprechen hingewiesen wurde. Die Wiederholung und das Lob senden aber drei wichtige Botschaften: „Ich höre dich sprechen – du hast es gerade geschafft, deine Angst zu überwinden, du bist mutig, und ich finde das gut.“ Das hilft langfristig, eine höhere Stresstoleranz zu entwickeln und sich als jemand zu definieren, der spricht.
„Mama, ich bin jetzt ein Kind, das spricht!“
Während die Kinder in ihrer Gruppe Aufgaben wie das Eisbestellen bewältigen, lernen die Eltern in einer Fortbildung die Techniken, die die Betreuer anwenden. Denn auch wenn ein guter Therapeut und ein Programm wie die Brave Buddies wunderbar sind, so ist doch das Engagement der Eltern und Lehrer entscheidend. Mit einer Therapiestunde hier und da ist es nicht getan, weil die Chancen, das Schweigen zu überwinden, in vielen kleinen Alltagssituationen liegen: in der Schule Fragen beantworten und stellen, selbst ein Brötchen beim Bäcker kaufen, mit neuen Freunden spielen, Verwandte besuchen, im Restaurant bestellen, beim Einkaufen nach dem Preis und auf der Straße nach dem Weg fragen. Um all diese Situationen nach und nach meistern zu können, braucht es einen Erwachsenen, der mit dem Kind übt und dabei erkennt, zu welchem kleinen Schritt es jeweils in der Lage ist: Vielleicht kann es sein Eis noch nicht selbst bestellen, aber es ist so weit, dem Vater vor dem Eisverkäufer zuzuflüstern, was es haben möchte. Beim nächsten Mal wird es vielleicht in seiner normalen Stimme mit seinem Vater sprechen können, aber nur mit drei Metern Abstand zum Eisverkäufer.
Übt ein Kind das Sprechen in solcherlei Situationen oft, überlernt es allmählich das schweigende Verhalten. Bis ein Kind so weit ist, braucht es zwischen drei Monate und zwei Jahren intensive Arbeit mit dem Kind und viel Geduld: Nach Steven Kurtz’ Erfahrung muss ein Kind fünf- bis siebenmal ein Eis bestellt haben, bis es sich dabei langsam sicher fühlt. In der Schule spricht Sarah heute zu 99 Prozent. Sie ist trotzdem nicht geheilt, es gibt immer noch Situationen, in denen die Angst vor dem Sprechen sie überwältigt, zum Beispiel wenn sie vor der Klasse etwas vortragen soll. Aber sie ist auf einem guten Weg.
Als sie vier Jahre alt war, hatte sie nur mit drei Menschen auf der Welt unbeschwert gesprochen: ihrer Mutter, ihrem Vater und ihrem Bruder. Zehn Monate später, nach drei Einzeltagen und einer Woche Brave Buddies sowie unzähligen Alltagssituationen, in denen sie „mutiges Sprechen“ geübt hat, ist die Liste derer, mit denen Sarah redet, auf 78 Menschen gewachsen – Kellner, Verkäufer und Taxifahrer nicht mitgerechnet. Vor kurzem rannte sie auf dem Weg zur Schule los, lachte, sah zurück und rief: „Mama, ich bin jetzt ein Kind, das spricht!“
7 Regeln für mutiges Sprechen
1 Erst mal nichts fragen, um den Druck zum Sprechen zu nehmen.
2 Beschreiben und loben, was das Kind tut, solange es schweigt: Statt „Du willst bestimmt mit den Autos spielen“ sagen: „Du nimmst die Autos. Ich mag, wie du die Autos so ordentlich nebeneinander stellst.“
3 Auswahlfragen stellen: „Möchtest du mit dem roten oder dem blauen Auto spielen?“ Die Antwort liegt in der Frage, das macht das Sprechen leichter.
4 Offene Fragen stellen, wenn Auswahlfragen klappen: „Was möchtest du als Nächstes spielen?“
5 Fünf Sekunden warten: Kinder mit selektivem Mutismus antworten oft zeitverzögert.
6 Das Gesagte wiederholen und als mutig loben. „Ich möchte mit den Autos spielen.“ – „Toll, dass du mir sagst, dass du mit den Autos spielen willst. Das hast du sehr mutig gesagt.“
7 Niemals Ja/Nein-Fragen stellen: Sie lassen sich mit Kopfschütteln oder Nicken beantworten. Das Kind kann so das Sprechen vermeiden.
Medikamente oder Therapie?
Die Standardbehandlung von selektivem Mutismus ist die Verhaltenstherapie. Sprechen Kinder nur langsam oder gar nicht darauf an, ist es möglich, sie unterstützend mit angstlösend wirkenden Antidepressiva aus der Gruppe der Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) zu behandeln. In den USA ist dies üblicher als in Deutschland, SSRI sind allerdings in beiden Ländern nicht für die Behandlung von selektivem Mutismus zugelassen. Ärzte können sie aber auf eigene Verantwortung verschreiben. Es wird mit einer sehr niedrigen Dosis begonnen, die dann langsam erhöht wird. Spricht ein Kind neun bis zwölf Monate erfolgreich, wird das Medikament wieder ausgeschlichen.
Ansprechpartner
In Deutschland wird selektiver Mutismus ambulant oder stationär behandelt, häufig von Sprachtherapeuten, oft mit der kooperativen Mutismustherapie (KoMut) oder der systematischen Mutismustherapie (SYMUT).
Das Kölner Institut für Sprachtherapie arbeitet mit SYMUT eher verhaltenstherapeutisch (www.boris-hartmann.de). In Expositionen übt das Kind, in Situationen zu sprechen, in denen es sonst schweigt. Ein Verzeichnis von Therapeuten, die mit SYMUT arbeiten, gibt es unter www.mutismus.de.
Die kooperative Mutismustherapie setzt auf einen spielerischen Zugang, bei dem das Sprechen zunächst nicht im Vordergrund steht. So wird zum Beispiel durch Rollenspiele und mit Handpuppen langsam Kontakt aufgebaut. Der Verein StillLeben bietet online eine Therapeutenliste an: www.selektiver-mutismus.de.
Stationäre Behandlung: Die Glantalklinik Meisenheim (www.glantal-klinik-meisenheim.de) und das Sprachheilzentrum Werscherberg (www.klinik-werscher berg.de) behandeln stationär für die Dauer von sechs bis 18 Monaten. Meisenheim hat eine Klinikschule, Werscherberg arbeitet mit örtlichen Schulen. Es gibt in fast allen Bundesländern weitere Sprachheilzentren und Kliniken.
Die Kosten für die stationäre Therapie bestreiten Krankenkassen gemeinsam mit der zuständigen Kreis- und Stadtverwaltung sowie aus Sozialhilfemitteln. Ambulante Therapie wird auf Rezept des Kinderarztes von den meisten Krankenkassen bezahlt.
Literatur
Boris Hartmann, Michael Lange: Mutismus im Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalter. Für Angehörige, Betroffene sowie therapeutische und pädagogische Berufe. Schulz-Kirchner, Idstein 2013 (6. Auflage)