Bis zu achtmal am Tag gehen Menschen im Durchschnitt auf die Toilette, meistens jedoch nicht zu Hause, sondern im Büro, in Restaurants oder in Raststätten. Öffentliche Toiletten sind neben Tiefgaragen die wohl unbeliebtesten Räume, in die wir uns notgedrungen begeben müssen. Wir empfinden sie meist als abstoßend und manchmal unheimlich. Das liegt auch daran, dass Ausscheidungsprozesse in unserer Kultur höchst tabuisiert und intimisiert sind. Das Geschäft verrichtet man lieber zu Hause in gewohnter Umgebung,…
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und intimisiert sind. Das Geschäft verrichtet man lieber zu Hause in gewohnter Umgebung, allein und ohne Zeitdruck. Doch in einem Alltag, der sich größtenteils außerhalb unserer Wohnräume abspielt, sind wir immer wieder mit der unangenehmen Situation konfrontiert, mit anderen auf eine freie Toilette warten zu müssen.
Das betrifft vor allem Frauen. Männer in öffentlichen Toiletten sehen sich zwar mit dem Stress konfrontiert, ihren Penis zu entblößen und während des Wasserlassens neben anderen stehen zu müssen, diese Situation bewältigen sie aber meist schnell und ohne lange Schlangen. In Ländern mit Sitztoiletten führt eine verbreitete Angst vor der Ansteckung mit Keimen insbesondere bei Frauen dazu, dass sie sich auf öffentlichen Toiletten nicht niedersetzen, sondern sportliche Positionen wie zum Beispiel „die Abfahrtshocke“ einnehmen oder dicke Lagen Klopapier auf der Sitzbrille platzieren, um nicht mit dieser in direkten Kontakt zu geraten. Das erfordert Zeit.
Dies, die kulturell unterschiedliche Verwendungsweise von WCs selbst, die in westlichen Kulturen anders als etwa in Japan zu einem eher vernachlässigten (Wohn-)Bereich gehören, sowie die nachträgliche Toilette, die dem Ort seinen Namen gab – Händewaschen, Auffrischen und Zurechtmachen –, führen mitunter zu einer erheblichen Schlange. Diese Wartesituation unterscheidet sich maßgeblich von anderen Warteschlangenszenarien, beispielsweise beim Bäcker oder am Bahnschalter.
Ein intimer Akt im halböffentlichen Fokus
Hier wie dort entwickeln Menschen ab einer gewissen Dauer des Anstehens eine Genervtheit, die in weiterer Folge auch zu Wut- oder Angstgefühlen führen kann. Entscheidend bei der öffentlichen Toilette ist jedoch, dass die anstehenden Personen genau wissen, was am Ziel vor sich geht, obwohl dies im Gegensatz zum Kauf einer Brezel höchst intim ist. Der Toilettengang ist ein privater Akt, der hier gezwungenermaßen halböffentlich vollzogen wird, bei dem wir uns zudem teilweise entblößen müssen, was je nach Größe und empfundener (Un-)Sauberkeit der Kabine sowie der eigenen Kleidung eine zusätzliche Herausforderung bedeuten kann.
Es drängt also in der Kloschlange, und zwar bei allen. Wir wissen nicht, wie lange es dauern wird, trotzdem versuchen wir, diese Situation für uns so normal wie möglich zu gestalten. Handlungssicherheit gewinnen wir, indem wir versuchen, uns an statistischen Größen und Durchschnittswerten zu orientieren, die unser Handeln regulativ strukturieren. In der Schlange angekommen, versuchen wir etwa die Geschwindigkeit einzuschätzen, mit der wir dort vorankommen, um daraus den Zeitraum abzuleiten, den wir noch warten müssen.
Wir fragen uns unwillkürlich: Wie viele Menschen stehen vor mir? Wie lange dauert ein Toilettengang ungefähr? Und lohnt sich dann das Warten überhaupt? Was als normal gilt, kann erst im Nachhinein beurteilt werden – aber über alle Kloschlangenerfahrungen hinweg bilden wir irgendwann ein Gefühl dafür aus, was eine angemessene Wartezeit ausmacht, die uns bleiben oder gehen lässt.
Diskretion, kein Blickkontakt
„Normal“, also impliziten und expliziten (Verhaltens-)Regeln folgend, die in einer bestimmten Gesellschaft vorherrschen, ist in westlichen Gesellschaften beispielsweise, dass man sich nicht unterhält, während man in der Kloschlange steht. In anderen Gegenden der Welt geht man gemeinsam zur Toilette und sitzt dort sogar nebeneinander. Hierzulande versuchen die Wartenden Diskretion zu wahren, indem sie auf ihr Smartphone schauen oder in die Luft und direkten Blickkontakt mit anderen vermeiden, so wie wir es beispielsweise auch in einem Aufzug tun.
Ziel ist hier wie dort, die gemeinsame Wartezeit zu überbrücken, um dann wieder getrennter Wege gehen zu können. Indem wir uns höchstens einen flüchtigen Blick zuwerfen, dann aber wieder im Handy versinken, an die Wand starren oder zum Waschbecken eilen, stellen wir eine Ordnung her, von der wir annehmen, dass alle anderen sie auch als „normal“ verstehen und es entsprechend genauso machen.
Sollte beim Warten auf die Toilette doch ein (Klo-)Gespräch unter Fremden entstehen, so ist dieses zumeist an den profanen Dingen des Lebens wie dem Wetter orientiert. Erschwerend wirkt dabei auch die teils unangenehme Geräusch- und Geruchskulisse, gibt es in öffentlichen Toiletten doch meist nur einen Sichtschutz. In seltenen Fällen jedoch ist es gerade diese Anonymität und Unwirtlichkeit der Umgebung, die mancher als Vorteil sieht, beispielsweise um illegale Substanzen auszutauschen und einzunehmen, ein unerwartet philosophisches Gespräch zu führen oder eine längerfristig angelegte Kommunikation über Graffitis und Schriftzeichen zu beginnen.
In den allermeisten Fällen jedoch soll es für uns auf öffentlichen Toiletten so schnell wie möglich zugehen, besteht ihre einzige Funktion doch darin, Körperausscheidungen sofort, laut- und geruchlos verschwinden zu lassen. Auf Druck zu pinkeln oder mehr, während andere (unfreiwillig) daran teilhaben, ist ein stressauslösendes, mit Scham behaftetes Unterfangen, vor, während und nach dem wir uns nicht direkt mit den noch Wartenden konfrontieren möchten. Wir warten lieber gemeinsam allein – und gehen genauso wieder hinaus.
Margarita Wolf ist Soziologin. Sie lehrt an der Universität Wien und forscht im Rahmen eines DOC-Stipendiums der Österreichischen Akademie der Wissenschaften zur Nachnutzung ehemaliger Konzentrationslager als Wohnorte. Sie beschäftigt vor allem die Frage, wie Menschen versuchen, Normalität herzustellen.
Quellen:
Karin Fischer: Laute Wände an stillen Orten. Klo-Graffiti als Kommunikationsphänomen. Deutscher Wissenschaftsverlag, Baden-Baden 2019
Harold Garfinkel: Studies in Ethnomethodology. Polity Press, Cambridge 1984
Jürgen Link: Normale Krisen? Normalismus und die Krise der Gegenwart (mit einem Blick auf Thilo Sarrazin). Konstanz University Press, Konstanz 2013
Bettina Möllring: Toiletten und Urinale für Frauen und Männer. Die Gestaltung von Sanitärobjekten und ihre Verwendung in öffentlichen und privaten Bereichen. Dissertation, Fakultät Bildende Kunst der Universität der Künste Berlin 2003
Margarita Wolf: Die Kloschlange. In: Raimund Haindorfer u. a. (Hg.): Soziologische Momente im Alltag. Von der Sauna bis zur Kirchenbank. New Academic Press: Wien/Hamburg 2019
Jihong Yu u. a.: Visualization of female public toilet information service design and research based on queuing and waiting psychology. IOP Conference Series: Materials Science and Engineering 631, 2019, 1-8. DOI: 10.1088/1757-899X/631/5/052009