Rasen und Rasten

Auf ​Autobahnen können wir schnell weit fahren – und uns selbst dabei nahekommen. Stefan Gössling über die Psychologie der Autobahn​

Autobahnstraßen, die sich kreuzen, die zum schnell fahren und auch zum Rasten genutzt werden
Die größten deutschen Straßen sind ein Raum ständigen Widerspruchs. © DEEPOL by plainpicture/ Depiction AB

Wir betreten den Raum der Autobahn an der Auffahrt. Die Straße wird zur Startbahn, der Wagen beschleunigt, sanft werden wir in den Sitz gedrückt. Und schon fahren wir im schnellsten Raum, den die Welt in Bodenhöhe zu bieten hat: Nur in Deutschland gibt es kein generelles Tempolimit. Anders als andere Straßen, auf denen wir uns auch anders bewegen, als Fußgänger oder Radfahrer etwa, können wir die Autobahn nur aus der motorisierten Kapsel heraus erleben, aus dem Raum im Raum. Darum ist die Autobahn auch…

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Kapsel heraus erleben, aus dem Raum im Raum. Darum ist die Autobahn auch immer ein Spannungsfeld zwischen Schutz und Exponiertheit, Weglaufen und Zu-sich-Finden, Abwechslung und Monotonie, Gemeinsamkeit und Alleinsein.

Mit den Bedingungen jeder Fahrt bekommen Reisen neue Eigenschaften, ist der Fahrer anderen Emotionen ausgesetzt. Die lange Urlaubsreise mit Kleinkindern bei 35 Grad Celsius ist grundsätzlich anders als eine einsame nächtliche Autobahnfahrt im Winter. Obwohl viele Fahrer die Autobahn mit Freiheit assoziieren, ist sie immer gleich­zeitig auch ein Gefängnis, ein Paradox von Möglichkeit und Notwendigkeit: Selbst spontane Fluchten bleiben eingerahmt von Regeln, Gesetzen und phy­sikalischen Grenzen.

Wir verbinden die Autobahn mit der Überwindung größerer Distanzen. Bei gut 100 Kilometer pro Stunde lässt sich in acht Stunden durch ganz Deutschland fahren. Kilometer pro Stunde – der Tacho ist eigentlich ein Raummessgerät, das Auto eine Zeitmaschine für die Passage. Am Ende der Reise warten Ziele, Freunde, die Familie, ein Sehnsuchtsort.

Nicht selten ein Angstraum

Wenn wir allein reisen, kann der Mikrokosmos des Autos zum Kontemplationsraum werden, in dem wir uns mit uns selbst auseinandersetzen. Im Zeitalter der sozialen Medien leben wir vor allem im Jetzt. Die Autobahn erlaubt nur sehr begrenzte Möglichkeiten der Interaktion, daher sind wir fast gezwungen, die Gedanken kreisen zu lassen. Im transitären, monodirektionalen Raum entsteht Platz im Kopf für Familie und Freunde, für Vergangenheit und Zukunft. Es gibt keine „tote Zeit“, weil es die Fahrt ermöglicht, zu reflektieren, zu planen, kreativ zu sein.

Nicht selten ist die Autobahn auch ein Angstraum. Hier entwickeln sich große Geschwindigkeitsdifferenzen, der Lkw fährt 80 Kilometer pro Stunde, der Sportwagen über 200. Das enge Auffahren bei hohen Geschwindigkeiten verunsichert. Jeder kennt den Adrenalinkick, den ein Fahrzeug verursacht, das plötzlich mit Lichthupe im Rückspiegel heranrauscht. Die Autobahn ohne Tempolimit zieht auch eine bestimmte Sorte von Fahrern an, aggressive Persönlichkeitstypen, potenziert durch Motorisierung und Masse. Rennwagenfahrer sprechen nicht ohne Grund vom „Cockpit“ ihres Autos: Instrumente und Anzeigen suggerieren die totale Kontrolle. Das führt zu überhöhter Geschwindigkeit und nicht selten zum tödlichen Unfall.

Das Fahrverhalten anderer nervt und zwingt zur Anpassung und vorausschauenden Planung. Schaffe ich es noch, den Lkw zu überholen? Bleibe ich im zähfließenden Verkehr in der rechten oder linken Spur? Lasse ich Platz zum vorausfahrenden Fahrzeug – oder schert dann wieder einer vor mir ein? Auf der Autobahn lernen wir Physik in Form von maximaler Beschleunigung und Mindestbremsweg. Wir lernen Psychologie: anonymisiertes Sozialverhalten in Wettbewerbssituationen, andere Verkehrsteilnehmer sehen wir schließlich immer nur im Spiegel ihrer Autos. Und die Kommunikation von Risiken durch staatliche Werbeplakate – „tipp, tipp, tot“.

Wir sind wieder unterwegs!

Die Autobahn ist ein Raum im Fluss – bis zum Tankstopp. Wir halten Ausschau nach den Piktogrammen der Zapfsäule, unsere Raumwahrnehmung verändert sich, verlangsamt sich, fokussiert. Erst Tanken, dann die Pinkelpause, vielleicht Essen in der Filiale einer Fastfoodkette. Bestandteile des Autobahnrituals. Beim Stopp erleben wir Orte, die man nach dem französischen Sozialanthropologen Marc Augé als „Nicht-Orte“ beschreiben könnte. Orte im Übergang, zu denen man keine Beziehung aufbauen kann, weil sie iden­tisch und identitätslos sind, ohne Geschichte, anonym, flüchtig. Filialisierte Funktionsräume, die man aufsucht, weil man es muss.

An der Raststätte mischen sich die Gerüche von Fettgebratenem, Benzin und Urin. Weiße Flecken kennzeichnen den Weg zur wilden Toilette im Wald. Zäune machen aus dem Raum einen Platz. Der Blick schweift über Parkplatzasphalt auf die vorbeizischenden Wagen der Autobahn. Die Bewegung der anderen verstärkt das Gefühl der eigenen Unbeweglichkeit und den Wunsch, der Raststätte schnell wieder zu entfliehen. Fast erleichternd ist die Beschleunigung auf der Ausfahrt. Wir sind wieder unterwegs!

Die Autobahn mäandriert durch Landschaften, ein Strom aus Fahrzeugen, nachts getrennt in zwei Würmer aus roten und weißen Lichtern, mal vier, mal sechs, mal acht Spuren breit. Wir sehen Wälder und Felder, Städte und Industriegebiete. Die Autobahn teilt, sie zerreißt das Land. Ihr permanenter Zustand ist Bewegung. Wer eine Panne hat, für den strecken sich Zeit und Raum, werden zäh und klebrig. Aus dem fahrenden Auto wirft man mitleidige Blicke auf die Gestrandeten. Anhalten und helfen verboten, auf der Autobahn gibt es keinen Platz für Empathie. Man schaut wieder nach vorn, dem Horizont entgegen. Das Ziel der Reise bleibt, solange wir uns auf der Autobahn befinden, immer in der Zukunft.

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Quellen

Marc Augé: Nicht-Orte. C.H. Beck, München 2019

James J. Flink: The Automobile Age. MIT Press, Cambridge 1988

Stefan Gössling: The Psychology of the Car. Elsevier, Amsterdam 2017

Peter Wollen, Joe Kerr (Hg.): Autopia. Cars and Culture. Reaktion Books, London 2002

Tom Vanderbilt: Traffic. Why We Drive the Way We Do (and What It Says About Us). Alfred A. Knopf, New York 2008

Stefan Gössling ist Professor am Institut für Service-Management der Universität Lund und an der School of Business and Economics der Linnaeus-Universität in Kalmar. In Freiburg hat er das Mobilitätsforschungszentrum T3 gegründet. Seine Forschungsschwerpunkte sind Verkehr und Mobilität

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 8/2021: Sich wieder nah sein