Gleich passiert’s!

Niemand wartet gern. Aber es ist nicht nötig, die Leere des Wartens mit einer Tätigkeit zu füllen, erklärt der Soziologe Andreas Göttlich im Interview.

Die Illustration zeigt drei Personen, die auf einer Wartebank sitzen, während einer von ihnen einen sehr langen roten Schal strickt
Manchmal dauert das Warten so lange, dass der gestrickte Schal durchaus einige Meter aufweisen könnte. © Julia Schwarz

Herr Göttlich, worauf mussten Sie zuletzt warten?

Wie jeder von uns warte auch ich täglich unzählige Male –zuletzt darauf, dass mein in die Jahre gekommener Laptop Word öffnet, damit ich ein Manuskript beenden kann. Von kleinen Alltagsepisoden abgesehen, stecke ich zudem wie wir alle in größeren Wartezusammenhängen. So warte auch ich auf das Ende der Corona­pandemie. Wenn man sich einmal die Menge der kleinen und großen Wartezeiten vergegenwärtigt, die wir alle durchleben, wirkt es gar nicht so absurd, was der französische Psychologe Pierre Janet schätzte: Drei Viertel des Lebens bestünden aus Warten.

Wann wird Zeit zur Wartezeit?

Grundlegend immer dann, wenn wir uns an einem zukünftigen Ereignis ausrichten, das wir nicht selbsttätig herbeiführen können und das im Rahmen eines Handlungsplans ­Bedeutung für uns hat. Darin liegt der Unterschied zum Erwarten. Wir wünschen, dass ein Ereignis eintritt, es ist uns nicht gleichgültig. Das gilt sowohl für freudige Ereignisse als auch für solche, die uns unangenehm sind und die wir schnell hinter uns bringen möchten. Das Streben nach einem in der Zukunft liegenden Ereignis, das wir nicht beeinflussen können, kann ein Gefühl von Ohnmacht aufkommen lassen. Und die damit verbundene Wartezeit erleben wir als Hindernis.

Wie beeinflussen räumliche Umstände unsere Gefühle, wenn wir auf etwas warten?

Prinzipiell ist die Warteerfahrung von der Situation abhängig. Die räumlichen Gegebenheiten sind dabei ein wichtiger Faktor. In der Flughafenarchitektur zum Beispiel versucht man, Warteräume großzügig zu gestalten, mit hohen Decken, viel Lichteinfall durch groß angelegte Fensterfronten, um das Gefühl der Bedrückung zu vermeiden, für das wir beim Warten besonders anfällig sind.

Warteräume sind zumeist öffentliche Orte, an denen sich fremde Menschen begegnen. Es sind Orte, die Kontaktmöglichkeiten oder -zwänge vorgeben. Wir alle kennen die Situation im Wartezimmer von Arztpraxen, wo man es tunlichst vermeidet, Mitwartende anzustarren, gleichzeitig nicht von anderen angestarrt werden möchte und das mit kurzen Blicken kontrolliert. Der Widerspruch von Nicht-schauen-Sollen und Doch-schauen-Müssen ist durch die übliche Anordnung der Sitzgelegenheiten vorgegeben. Das kann zu Unbehagen und Stress führen, bis dahin, dass manche Menschen öffentliche Wartesituationen meiden.

Welche Rolle spielen Ängste, wenn man zu lange wartet?

Hier muss man unterscheiden, ob die Aussicht auf das erwartete Ereignis selbst angstbehaftet ist oder aber ob es sich um die Furcht handelt, etwas zu versäumen. Im ersten Fall bleibt die Angst die Zeit über bestehen, wenn wir länger warten, als zunächst angenommen und erhofft. Im zweiten Fall wird die Angst erst ausgelöst, wenn das verlängerte Warten unseren Zeitplan durcheinanderbringt und wir fürchten, deshalb anderswo zu spät zu kommen.

Müssen wir länger warten, als wir wollen, können Gefühle wie Wut oder Zorn aufkommen. Daneben kann das aber auch zu einer Neubewertung des Warteziels führen, da sich die Frage stellt, ob sich die zusätzliche Zeitinvestition lohnt. Lautet die Antwort nein, müssten wir das Warten eigentlich aufgeben. Doch so konsequent handeln wir nicht immer. Stattdessen reden wir uns dann ein, das Erwartete sei den erhöhten Aufwand wert.

Warum finden die meisten Deutschen Warten lästig, während es bei Japanern offenbar anders ist?

Wie Menschen warten, ist kulturell geprägt. Ich vermute, dass die Unterschiede zu Japan daher rühren, dass beide Länder historisch zwar vergleichbare Industrialisierungsschübe erlebt haben, es in Japan aber nie eine Individualisierung wie im Westen gab. Folglich traten Eigenzeit und Fremdzeit nicht so in Gegensatz wie bei uns.

Man darf aber nicht übersehen, dass es auch innerhalb von Nationalgesellschaften typische Unterschiede beim Warten gibt. Sozialer Status und Alter spielen eine Rolle, auch die Differenz von Stadt und Land. Menschen aus weniger privilegierten Schichten zum Beispiel sind öfter zum Warten gezwungen und entwickeln häufig eine Form von fatalistischer Geduld, wohingegen Menschen in zum Beispiel politischen oder wirtschaftlichen Sonderstellungen es als Affront empfinden, wenn man sie warten lässt, und sie reagieren entsprechend.

Von welchen Eigenschaften hängt es ab, ob jemand gut oder schlecht warten kann?

Warten kennt sehr unterschiedliche Formen und Situationen und deshalb lässt sich das nicht so einfach generell beantworten. Nehmen wir zum Beispiel die bekannten Marshmallow-Experimente, in denen die Wartefähigkeit von Kindern getestet wurde. Hier besteht das Warteziel in einer verlockenden Süßigkeit, in dem Fall zwei Marshmallows geschenkt zu bekommen statt bloß eines als Belohnung für dasjenige Kind, das seine Begierde zu unterdrücken weiß. Dem sogenannten deferred gratification pattern, dem Belohnungsaufschub, der Affektkontrolle verlangt und hier unter Laborbedingungen künstlich hervorgerufen wird, begegnen wir häufig im Alltagsleben.

Walter Mischel, der das Experiment ersann, fand heraus, dass jene Kinder, die den Marshmallow-Test bestanden hatten, im späteren Leben meistens erfolgreicher waren als jene, die nicht zu warten vermochten. Zahlreiche Wartesituationen erfordern die Fähigkeit, den Dingen ihre Zeit zu lassen und den eigenen Wunsch nach schneller Verrichtung und Erfüllung hintanzustellen. Das kann auf intellektueller Ebene geschehen – durch gedankliche Einsicht –, es kann aber auch auf einer fatalistischen Grundhaltung basieren, auf einer Einstellung, die wir ansonsten eher geringschätzen.

Woher kommt das Gefühl, beim Warten Zeit zu verlieren?

Der Philosoph Odo Marquard hat den Menschen grundsätzlich als Zeitmangelwesen beschrieben, weil wir uns unserer Endlichkeit bewusst sind. Diese Ausgangsbedingung wird in der Moderne noch verschärft. Im Beruf gilt es, mit dem gestiegenen Tempo der technologischen und kulturellen Erneuerung Schritt zu halten, um nicht abgehängt zu werden. Und in der Freizeit hat man so viele Gestaltungsmöglichkeiten, dass man stets das Gefühl hat, noch dieses oder jenes tun zu können. Wartezeit gilt da als vertane Zeit, die einen nicht voranbringt und keinen Erlebniswert hat.

Wer Warteprozesse beeinflussen kann, hat offenbar mehr ­Einfluss und nutzt diesen aus. Ist das so?

Andere auf sich warten zu lassen kann der Manifestierung von Macht dienen. Man demonstriert die Höherwertigkeit der eigenen Zeit und damit des eigenen Status. Auf diese Weise klärt man gewissermaßen die Fronten. Doch das geht nur so lange gut, wie das Gegenüber die unterstellte Höherwertigkeit anerkennt und sich daran hält. Wie jede Machtprobe trägt auch das Wartenlassen das Risiko des Scheiterns in sich.

In unserer an egalitären Standards orientierten Gesellschaft kommt demonstratives Wartenlassen im Alltag eher selten vor. Doch oft genug sind sich die Beteiligten über die Motive des Gegenübers nicht im Klaren: Lässt man mich gerade absichtlich warten? Glaubt der andere, ich ließe ihn vorsätzlich warten? Hier kann es zu Fehldeutungen kommen, die den Austausch miteinander erschweren.

In vielen Alltagssituationen wie an einer Bushaltestelle warten zwar alle auf dasselbe, aber ein Gruppengefühl entsteht dabei nicht. Warum ist das so?

Zum einen liegt es daran, dass viele Wartesituationen öffentlich sind. Da ist jeder bemüht, sein „Territorium des Selbst“, so der Fachausdruck, zu schützen und das des anderen nicht zu verletzen. Zum anderen stehen Wartende manchmal in Konkurrenz zueinander. Ein Beispiel: Wer früher im Flugzeug ist, hat mehr Platz fürs Handgepäck. Und oft sind die Mitwartenden der Grund dafür, dass wir selbst warten. Denn alle, die in der Schlange vor mir stehen, verlängern meine eigene Wartezeit. Das Konkurrenzverhältnis kann in eine Form des geteilten Leids umschlagen, wenn die vorweggenommene Wartedauer erheblich überschritten wird. Das gemeinsame Schicksal wird dann nicht selten zum Anlass für Konversation.

Was kann Warten erträglicher oder angenehmer machen?

Mit dieser Frage hat sich die Unternehmensforschung intensiv beschäftigt, weil Warteerfahrungen eng mit der Kundenzufriedenheit zusammenhängen und so mittelbar das Geschäftsergebnis beeinflussen. Das hat zu einer Reihe einschlägiger Regeln geführt, wie Unternehmen das Warten ihrer Kunden gestalten sollten. Von zentraler Bedeutung sind dabei zwei Erkenntnisse. Erstens: Objektive Dauer und subjektives Empfinden des Wartens hängen nur bedingt miteinander zusammen. Zweitens: Die aktuelle Warteerfahrung und spätere Erinnerung können deutlich voneinander abweichen. So braucht man nicht unbedingt die tatsächliche Wartezeit zu verkürzen, sondern es genügt, ihre Wahrnehmung „aufzuhübschen“.

Wenn ich beispielsweise eine Viertelstunde auf den verspäteten Zug warten muss, macht es einen Unterschied, ob mir vorher genau diese Wartezeit von fünfzehn Minuten oder eine halbe Stunde Verspätung angekündigt wurde. Wenn im letzten Fall, der zeitlich längeren Ankündigung, der Zug eigentlich „planmäßig“ nach einer Viertelstunde eintrifft, entwickelt sich aus einer an sich negativen Erfahrung eine positive Überraschung und die gesamte Warteerfahrung fällt rückblickend angenehmer aus.

Was heißt das?

Das heißt, dass unsere Zufriedenheit beim Warten nicht allein von uns selbst abhängt. Die Kniffe, die wir als Wartende selbst anwenden können, kennen wir alle: Wir sollten vermeiden, uns einen zu engen Zeitplan zu setzen, um den Druck zu minimieren, und wir sollten Utensilien für Nebenbeschäftigungen mitnehmen, um die „leere Zeit“ zu füllen.

Vom philosophischen Standpunkt aus lässt sich indes ­fragen, ob es immer richtig ist, das Warten angenehm zu gestalten. Martin Heidegger etwa war der Ansicht, dass die aus dem Warten resultierende Langeweile eine Grundstimmung zu wecken vermag, die dem Menschen sein Menschsein näherbringt, da sie zur Reflexion über das Dasein anregt. Das mag im Hinblick auf die meisten Alltagssituationen unrealistisch klingen, vielleicht lohnt es sich aber, Wartezeit probeweise einfach mal in ihrer vermeintlichen Leere zu belassen.

Was würde passieren, wenn man mal eine Wartezeit sozusagen leer lässt, sich nicht ablenkt, sie nicht positiv umdeutet, auch keine Selbstberuhigung versucht, sondern sie einfach als das belässt, was sie ist, eine Zeit des Zwischenraums?

Wartezeit als „leere Zeit“ zu akzeptieren bedeutet, sich aus dem pragmatischen Kontext, also dem erforderlichen praktischen, nützlichen Handeln unserer Alltagspläne auszuklinken, die uns ja von einem Termin zum anderen treiben. Das kann zu dem führen, was Adorno den sabbatischen Blick nannte: Die Dinge der Umgebung werden nicht mehr im Hinblick auf ihren praktischen Verwendungszweck, sondern auf ihren ästhetischen Wert hin betrachtet. Man entdeckt Schönes, wo man bislang nur Zweckhaftes sah. So kann Warten zum Zeitfenster für eine veränderte Wirklichkeitswahrnehmung werden. Das Zurückstellen pragmatischer Alltagsmotive eröffnet auch die Möglichkeit, diese zu hinterfragen: Weshalb nehme ich dieses Warten gerade überhaupt auf mich? Ist es das wert? Unreflektierte Wertsetzungen können so unter Umständen zurechtgerückt werden.

In welchen Bereichen kann es auch gut sein, bewusst einen „Warteraum“ zu schaffen?

Ein anschauliches Beispiel bietet die Praxis des Sichentschuldigens: Wer sich für eine schwerwiegende Verfehlung zu schnell entschuldigt, weckt beim Gegenüber den Verdacht, die Entschuldigung beruhe weniger auf Einsicht, die ja Zeit voraussetzt, denn vielmehr auf dem bloßen Wunsch, die ­Wogen zu glätten. Ebenso kann es oft von Vorteil sein, negative Emotionen wie Zorn vergehen zu lassen, bevor man reagiert.

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Andreas Göttlich ist Soziologe an der Universität Konstanz und leitet seit 2019 das von der Fritz-Thyssen-Stiftung finanzierte Projekt „Warten. Eine Grundlagentheorie“, dessen Ziel die Erarbeitung einer allgemeinen Theorie des Wartens ist

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 10/2021: Zeit finden
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