Lücke in der Zeit

Timo Reuter schreibt gegen Ungeduld und Beschleunigung an und plädiert dafür, die Kunst des Wartens wieder zu erlernen.

„Wer warten muss, ist auf Entzug“, schreibt Timo Reuter. Warten demütigt, nervt, frustriert, macht aggressiv. Zwei Arbeitswochen, etwa 70 Stunden verliert der Durchschnittsmensch pro Jahr im Stau. Zwölf Jahre hat er in der DDR auf einen Trabi gewartet, in der ja notgedrungen vieles auf sich warten ließ. Wie schwer das Warten einer Gesellschaft fällt, in der Zeit zu Geld gemacht wird, und wie wir der Hektik des Alltags entkommen können, davon handelt dieses kluge Buch.

Schon das frühe Judentum habe gewartet – auf den Messias –, erzählt der Autor, ein Journalist, bei seinem Spaziergang durch die Kulturgeschichte des Wartens. Ab dem 6. Jahrhundert hatten Ordensbrüder eine Zeitvorstellung, denn sie mussten strenge Gebetszeiten einhalten. Aber erst im Laufe des 14. Jahrhunderts erhielten die ersten europäischen Städte Uhren. Jemanden warten zu lassen, das war schon immer das Vorrecht der Mächtigen. Weltbekannt ist der Bußgang nach Canossa, mit dem König Heinrich IV. von Dezember 1076 bis Januar 1077 Papst Gregor VII. milde zu stimmen suchte. Henrich IV. soll drei Tage lang kniend um Einlass gefleht haben.

Heute, so Reuter, hätten die Menschen das Gefühl, dass ihnen die Zeit davonlaufe. So werde Warten zur Qual: „Wer wartet, leidet.“ Deutsche nehmen Wartezeiten „als größtes Ärgernis im Alltag“ wahr, zitiert der Autor aus einer Studie. Doch wie lange ein Mensch warten muss, das sei auch von seinem sozialen Status abhängig. Denn wer Warteprozesse beeinflussen kann, besitzt soziale Macht. So muss beispielsweise der Privatversicherte nicht so lange warten wie der Kassenpatient.

Wartezeiten seien auch eine Frage der Erwartung und der Wahrnehmung. Die Länge der Wartezeiten werde häufig überschätzt. Wer zwischen den Warteschlangen wählen könne, habe oft das Gefühl, die falsche erwischt zu haben. Erst zu Beginn des 19.Jahrhunderts hätten sich Warteschlangen etabliert, in einer Zeit, in der Gleichheit wichtiger wurde: „Schlangestehen wurde zur egalitären Praxis.“ Heute wird es oftmals als ein Zeichen für Ineffizienz und „Ausdruck planwirtschaftlichen Versagens in einer sozialistischen Wartegemeinschaft gedeutet“.

Wer in einer Schlange steht, „kann außer sich geraten, er kann aber auch soziales Verhalten lernen“. Der Autor zitiert den Psychologen Leon Mann, der Warteschlangen für ein „embryonales Sozialsystem“ hält, aus dem sich eine Menge über die Eltern dieses Säuglings, also über die Gesellschaft lernen lasse. Manns Beobachtungen in Warteschlangen vor Fußballstadien zeigen: Wo Menschen mehr Zeit miteinander verbringen, sind sie besser gerüstet, Drängler abzuwehren.

Gibt es gelingendes Warten inmitten von Raserei? Der Autor ist optimistisch: Wer richtig zu warten versteht, der könne sich ein Stück vom guten Leben erobern. Es gelte, die Kraft der Langsamkeit zu entdecken und Kreativität freizusetzen, die aus der Langeweile erwachse. Freiräume schaffen, Geduld und Achtsamkeit üben, das seien Schritte hin zu gelingendem Warten. Am Schluss vermittelt das Buch eine subversive Botschaft: Widersteht dem Rausch der Beschleunigung! Das gute Leben ist zeit-los.

Timo Reuter: Warten. Eine verlernte Kunst. Westend, Frankfurt a.M. 2019, 239 S., € 18,–

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 5/2020: Männer und ihre Mütter
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