Wer auf dem Stuhl Platz nimmt, ist an der Reihe. Er sagt, wie es ihm geht. Sie gibt Auskunft darüber, ob sie schlafen kann und ob sie die Medikamente verträgt. Ob er etwas von der Gruppentherapie mitnimmt und ob sie ihre Aufgaben gemacht hat.
Wer auf dem Stuhl sitzt, wippt vielleicht mit dem Fuß, weil die Unruhe sich noch nicht von den Beruhigungsmedikamenten hat vertreiben lassen. Vielleicht kann er sich nicht auf die Ärztin konzentrieren, die eben eine Frage gestellt hat, vielleicht knetet sie ihre Finger.
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nicht auf die Ärztin konzentrieren, die eben eine Frage gestellt hat, vielleicht knetet sie ihre Finger.
Wer auf dem Stuhl sitzt, fällt vielleicht in sich zusammen und vergräbt sein Gesicht in den Händen. Er spricht vielleicht mit matter Stimme, kaum zu verstehen gegen das Brummen des Standventilators. Vielleicht meidet sie den Blickkontakt.
Jede Patientin und jeder Patient hat nur wenige Minuten bei dieser Visite am Montagmorgen auf Station 12. Die Tür öffnet sich, er oder sie steckt den Kopf durch die Tür, schaut sich um, setzt sich auf den freien Stuhl. Eine nach dem anderen, achtundzwanzigmal.
"Ab mittags werde ich unruhig."
„Kommen Sie rein! Wie geht’s denn?“, fragt Oberärztin Manuela Nunnemann routiniert. Die Psychiaterin sitzt in einem der Therapieräume, neben ihr die beiden Stationsärztinnen, der Sozialpädagoge, die Psychologin, ein Pfleger und zwei Praktikantinnen. Das Stationsteam hat in einem großen Stuhlkreis rechts und links neben dem Patientenstuhl Platz genommen. Die Wände des Besprechungsraums sind in der Farbe von Vanillepudding gestrichen, der Lamellenvorhang im gleichen Gelb ist halb geschlossen.
Nunnemann, 49 Jahre alt, eine gradlinig auftretende Frau mit kurzem Haar, trägt Birkenstock-Sandalen und ein hellgraues T-Shirt, an ihrer dunklen Hose klemmt ein Stationstelefon, das zwischendurch vibriert. Sie blättert durch die Akten, die sich in roten Mappen vor ihr auf dem Tisch stapeln.
„Gar nicht gut.“ – „Ich schlafe etwas besser durch das Diazepam, aber die Ängste kommen immer noch hochgekrochen.“ – „Morgens geht’s, aber ab mittags werde ich unruhig.“
Nunnemann fragt nach, nickt, passt ohne zu zögern die Dosierung von Antidepressiva, Beruhigungsmedikamenten oder Neuroleptika an. „Steht schon ein Entlassungstermin fest?“, fragt sie. „Na dann eine erfolgreiche Woche! Der oder die Nächste!“
Die Tabufragen zuerst
Die Oberärztin hält die Visite kurz, das sagt sie auch den Patientinnen und Patienten. Für tiefergehende Gespräche verweist sie auf die Therapieangebote. Denn Station 12, eine offene Station mit Spezialisierung auf depressive Erkrankungen und akute Krisen, ist mit 28 Betten die größte Station am Alexianer St.-Joseph-Krankenhaus in Berlin-Weißensee, einer Fachklinik für Neurologie, Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik.
Das Krankenhaus hat eine lange Geschichte, 1893 wurde es als „Heilanstalt für gemüts- und nervenkranke Herren“ eröffnet. Die Station 12 kam 2016 dazu. Zwischen den von wildem Wein überwucherten Backsteinmauern der Klinikgebäude wirkt der moderne Bungalow wie ein nachträglich gesetzter Legostein: ein flacher, rot-weiß-gestrichener Neubau.
Was hast du? Was nimmst du? Die Tabufragen stellen sich die Patientinnen und Patienten hier zuerst. Die Antworten auf Station 12 sind vielfältig: Trotz ihres Schwerpunkts ist sie gleichzeitig Entlastungsstation für die geschlossenen Akutstationen, zum Beispiel für die Station 2 mit dem Behandlungsschwerpunkt Psychose. Hier wird also nicht nur aufgenommen, wer an einer Depression, sondern auch wer an einer Schizophrenie, bipolaren affektiven Störung, Psychose oder Sucht leidet. Oder an mehreren dieser Erkrankungen auf einmal.
Ein junger Mann setzt sich auf den Stuhl, er ist tätowiert, trägt Shorts und Schlappen. „Sie sind angespannt. Können Sie verbalisieren, warum?“, fragt Psychologin Tina Waiblinger-Grigull. Der Patient schüttelt den Kopf. „Nicht hier.“ Nunnemann steigt ein. „Haben Sie Selbsttötungsgedanken?“ – „Zweimal kam das jetzt vor.“ – „Was für welche?“ Wieder schweigt der Patient. „Das ist mir unangenehm.“ Nunnemann lenkt ein. „Das verstehe ich. Aber Sie müssen darüber reden – und ich habe die Verantwortung für Sie.“ – „Ich hab mich im Griff“, entgegnet der junge Mann nur. „Wofür leben Sie noch?“, fragt Nunnemann stattdessen. „Für die Kinder.“
Es gibt keinen typischen Patienten auf Station 12
Er geht hinaus und wieder geht die Tür auf, diesmal setzt sich eine ältere Frau langsam auf den Patientenstuhl, lächelt. „Sie hatten Erscheinungen heute Nacht?“, fragt Nunnemann. „Sagen wir mal so: Mir sind Sachen bewusstgeworden“, gibt die Frau zurück. Dann, etwas später sagt sie: „Ich habe eine Frage, aber lachen Sie mich bitte nicht aus: Habe ich Medizin studiert?“ – „Ich glaube nicht“, antwortet Nunnemann. „Dass Sie sich solche Gedanken machen, könnte ein Anzeichen für eine Psychose sein. Das kann einen sehr beunruhigen.“ Sie ordnet an, Risperidon hochzudosieren, ein Neuroleptikum.
Es gibt keinen typischen Patienten auf Station 12. Die Diagnosen unterscheiden sich ebenso wie der Grund für die stationäre Behandlung und der Schweregrad ihrer Erkrankung. Es sind Männer und Frauen, Akademikerinnen und Arbeiter, mit oder ohne Job, Studenten und Rentnerinnen.
Die meisten kommen direkt von der geschlossenen Akutstation, um im offenen Setting weiterbehandelt zu werden. Einige werden von der Notaufnahme geschickt. Ein kleinerer Teil – etwa jeder Fünfte – kommt über die Warteliste, also auf eigenen Behandlungswunsch oder Empfehlung einer ambulanten Psychiaterin oder Therapeutin. Im Durchschnitt bleiben die Patientinnen und Patienten 25 Tage, einige brechen bereits nach wenigen Tagen ab, andere bleiben sechs Wochen. Einige sind bereits das zweite oder dritte Mal da.
Was sie verbindet, ist der Leidensdruck, der zwischen den Zeilen ihrer Patientenakten steht: von Hoffnungs- und Perspektivlosigkeit über passive Todeswünsche, bei denen die Gedanken um das Sterben kreisen, ohne dass man Handlungsdruck empfindet, bis hin zu Suizidgedanken oder konkreten Suizidplänen. Lebensüberdruss in all seinen Schattierungen. Um trotzdem auf einer offen geführten Station behandelt zu werden, müssen die Patientinnen und Patienten stabil und absprachefähig sein. Ersteres heißt, sie dürfen keine Gefahr (mehr) für sich oder andere darstellen. Letzteres heißt, sie müssen sich an die Stationsregeln halten können.
Krise behandeln, um Krankheit zu vermeiden
„Aufgenommen wird, wer eine psychische Krise hat“, sagt Oberärztin Manuela Nunnemann. „Das kann eine schon bestehende oder neu auftretende psychiatrische Erkrankung sein – oder einfach eine krisenhafte Zuspitzung des Lebens, auch ohne dass eine Erkrankung vorliegt.“ Eine Trennung zum Beispiel oder Kündigung könne eine vorübergehende Anpassungsstörung auslösen, wenn die betreffende Person wenig Resilienz, also Widerstandsfähigkeit hat. In diesem Fall könne die stationäre Behandlung verhindern, dass sich diese Störung zu einer Depression, Abhängigkeit oder anderen psychischen Erkrankung entwickle.
Krise behandeln, um Krankheit zu vermeiden. Auch dafür gibt es psychiatrische Stationen wie diese hier.
Blicke springen im Raum hin und her
Bei der Visite am Montagmorgen kommt als Nächstes eine junge Frau durch die Tür des Besprechungsraums gerauscht, in der Hand trägt sie ein Päckchen Zigaretten, auf dem Kopf eine Cap. Ihr Gesicht ist blass, ihr Blick springt im Raum hin und her. „Wie geht’s denn?“, fragt Nunnemann. Die junge Frau schweigt. Denkt nach. „Gute Frage“, sagt sie dann und lacht. „Nächste Frage“, sagt Nunnemann. „Wie vertragen Sie das Elvanse?“ – „Ganz gut. Also mein Freund sagt, ich bin ruhiger geworden. Aber ich hab Tremor“ – sie hebt ihre zitternden Hände zum Beweis – „und ich schwitze sehr stark.“ – „Nicht ungewöhnlich bei dem Wetter“, sagt Nunnemann. „Aber schön, dass die Amphetamine anschlagen. Dann kriegen Sie morgen 40/30.“ Eine Dosierungsanordnung: morgens 40 mg, mittags noch einmal 30 mg.
Die junge Frau heißt in dieser Geschichte Mona Schuster. Ihr richtiger Name muss, ebenso wie bestimmte Details zu ihrer Geschichte, aus Gründen des Patientenschutzes verborgen bleiben. Sie ist um die dreißig Jahre alt, leidet seit ihrer frühen Jugend an Depressionen. Die Liste der Antidepressiva, die sie schon eingenommen hat, ist lang: Escitalopram, Venlafaxin, Fluoxetin, Mirtazapin, Trazodon. Und das sind nur die ersten, die ihr spontan einfallen.
Zweimal war sie schon in Behandlung in einer Tagesklinik, also einem Behandlungsangebot, das Patientinnen und Patienten tagsüber wahrnehmen, während sie weiterhin zu Hause schlafen. Einmal war es eine Klinik mit Schwerpunkt auf posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS), an denen Schuster zusätzlich leidet, seit sie in ihrer Kindheit sexuellen Missbrauch erfahren hat.
Vollzeitbehandlung mit 180-Grad-Wende
Sie ist gewohnt, dass alle drei bis vier Monate eine schwere depressive Episode kommt, in der sie sich zurückzieht und für niemanden mehr erreichbar ist. Aber in letzter Zeit häuften sich diese Phasen. Seit über einem halben Jahr ist sie krankgeschrieben. Eigentlich wollte sie noch ein drittes Mal in eine Tagesklinik, sie war sogar schon angemeldet. Aber dann kam sie gar nicht mehr hoch. „Ich hab mir nicht zugetraut, dass ich da überhaupt aufschlage“, sagt sie.
Also stationäre Behandlung in Vollzeit – die gleich mit einer 180-Grad-Wende begann.
Das Ärztinnenteam diagnostizierte bei Schuster zusätzlich ADHS, also eine Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung. Das Team geht davon aus, dass die Depression, an der die Patientin schon so lange leidet, eine Folge ihrer ADHS ist. Denn bei dieser Erkrankung sind Affektivität, Impulsivität und Konzentration der Betroffenen gestört, was zu einer sogenannten Dysexekutive führt, wie Oberärztin Nunnemann erklärt: Den Betroffenen falle es schwerer, Pläne zu machen und umzusetzen, und das wirke sich auf ihr Empfinden von Selbstwirksamkeit aus. „Die Patientinnen haben nicht mehr das Gefühl, ihr Leben selbst reguliert zu bekommen. Da kann sich auf lange Sicht eine Depression einstellen.“
"Ich bin froh, dass ich von Zuhause weg bin."
Die Grunderkrankung, so ihre Diagnose, ist also ADHS, nicht Depression. Die Antidepressiva haben die Ärztinnen deswegen abgesetzt, stattdessen bekommt Schuster jetzt Elvanse, ein Amphetamin, das bei ADHS-Erkrankten statt aufputschend beruhigend wirkt, wodurch sie sich besser regulieren können. Die PTBS steht bei dieser Behandlung nicht im Vordergrund. Dafür, so Nunnemann, müsse die Patientin erst in einem stabilen psychischen Zustand sein.
Seit drei Wochen ist sie jetzt hier, teilt sich ein Dreibettzimmer mit zwei anderen Frauen. Um sieben Uhr Wecken, um 8 Uhr Morgensport, dann abwechselnd Gruppen-, Ergo- und Bewegungstherapie, Entspannung, intuitives Bogenschießen oder Psychoedukation. An manchen Tagen endet das Programm zum Mittagessen, an anderen geht es bis nachmittags, danach ist bis 20 Uhr Ausgang. Am Wochenende können sie nach Absprache von 8 bis 20 Uhr das Klinikgelände verlassen.
„Ich finde es gut, dass ich von zu Hause weg bin und Abstand bekomme“, sagt Schuster. „Ich frage mich echt, warum ich das so lange aufgeschoben habe.“
Kopf und Körper passen nicht zusammen
Es ist Mittag, 13.15 Uhr, Gruppentherapie. Zurück in dem vanillefarbenen Raum. Mona Schuster und sechs Mitpatientinnen und -patienten sitzen in einem Stuhlkreis. „Brrr“, sagt ein Mann Anfang dreißig und schüttelt sich, als er in den Raum kommt. „Ist dir kalt?“, fragt ein anderer. „Nee, mein Kopf und Körper passen heute nicht zusammen“, sagt er. „Mein Kopf will entspannen und meine Beine wollen Fahrrad fahren.“ Tina Waiblinger-Grigull setzt sich zwischen sie in den Stuhlkreis. Die 35-jährige Psychologin trägt Brille und schwarze Boots, sie schlägt ihre Beine übereinander. „Was sehen Sie?“, fragt sie.
Die Gruppe steht auf und beugt sich über ein bemaltes Blatt Papier, das auf einem Tisch in ihrer Mitte liegt. Mona Schuster hat es mitgebracht: Grellbunte Farbtupfer sind darüber verteilt wie Explosionen, nur unterbrochen von mehreren Spuren schwarzer Farbe, die von einem Rand des Bildes zum anderen laufen.
„Es sieht bunt aus, fröhlich“, sagt einer. „Darüber dann das Schwarze wie Fäden oder wie ein Gitter.“ – „Es sieht aus wie eine Stadt“, sagt ein anderer. „Eine verpestete Stadt.“
„Was, denken Sie, ist das für ein Verstand, den Sie da sehen?“, fragt die Psychologin.
„Ein lebendiger Verstand“, antwortet ein Patient. „Einer, der tausend Gefühle und Gedanken hat“, sagt eine andere. „Ein kreativer Verstand, der die Freiheit liebt“, sagt ein dritter. „Aber das Schwarz legt sich wie ein Schatten darüber.“
Die Oliventherapie
In der Ergotherapie, bei der die Patientinnen und Patienten kreative und handwerkliche Übungen machen, mussten sie letzte Woche etwas basteln oder malen, das ihren Verstand darstellt. Auf dem Tisch in der Mitte der Runde liegen abwechselnd Bilder und Collagen oder stehen Tonskulpturen, die an Unterwassermonster erinnern oder an Rückgrate, aus denen Äste in alle Richtungen wachsen.
Der letzte Patient, der an der Reihe ist, hat sich etwas anderes überlegt: Er schüttet aus einem Einmachglas eine Olive und eine Pfütze Öl auf den Tisch. Dann beginnt er, mit einer Gabel auf die Olive einzustechen. Sie entwischt ihm immer wieder, das Öl spritzt. Mechanisch fährt er fort, die übrigen lachen und überlegen dann laut: Ein schwer zu greifender Verstand? Ein überraschender? Vielleicht auch ein umständlicher?
Ziel: Hoffnung für die Zukunft
Zwei von den vier Gruppen auf Station 12 durchlaufen ein Programm namens ACT, die sogenannte Akzeptanz- und Commitmenttherapie, ein verhaltenstherapeutischer Ansatz der dritten Welle. Im Kern des Modells steht das Ziel, psychische Flexibilität zu entwickeln. Die Patientinnen und Patienten haben dreimal die Woche Gruppentherapie, bei der sie lernen, wie sie trotz ihrer Symptome ihr Leben selbständig gestalten und wie sie sich dafür Ziele und Werte setzen, an denen sie sich entlanghangeln können.
Nicht alle machen ACT – entweder weil sie nicht möchten oder weil es ihnen ihre Erkrankung unmöglich macht, an einer Gesprächstherapie teilzunehmen. Für Erstere gibt es eine Gruppe, die sich zu offenen Gesprächsrunden trifft, für Letztere soziales Kompetenztraining und metakognitives Training, bei dem sie lernen, Denk- und Verhaltensmuster zu reflektieren. Keines der Angebote ist depressionsspezifisch.
Nunnemann hat ACT etabliert, nachdem sie die Station 2020 als Oberärztin übernahm. Ihrer Erfahrung nach kann das Programm Menschen stabilisieren, die in einer akuten Krise stecken – unabhängig von der Diagnose. „Unser Ziel ist nicht die hundertprozentige Genesung“, sagt sie. „Wir versuchen die Patienten so weit ins Leben zurückzuholen, dass sie Pläne machen für die Zukunft und wieder ein bisschen Hoffnung haben.“
"Jeder Tag hier, ist ein verschwendeter Tag draußen."
Im Rahmen der stationären Behandlung ist das ACT-Programm auf viereinhalb Wochen verkürzt. Ein klarer Zeitrahmen, der den Aufenthalt von vornherein befristet. Nunnemann hält das für sinnvoll: „Die Station ist ein Raum, um Konflikten aus dem Weg zu gehen. Und dieses Vermeidungsverhalten verstärkt sich nur durch die Hospitalisierung.“ Sie versuchten stattdessen, die Patientinnen und Patienten so schnell wie möglich wieder ihrem Umfeld auszusetzen. „Jeder Tag hier drin ist ein verschwendeter Tag draußen“, sagt Nunnemann gern.
Es gibt noch einen anderen Grund, der dafür spricht, die stationäre Behandlung zeitlich zu begrenzen: Das Alexianer St.-Joseph-Krankenhaus ist Versorgungskrankenhaus für den Großbezirk Pankow mit mehr als 400.000 Einwohnern und zur Aufnahme verpflichtet. Die Akutstationen sind häufig überbelegt. Auf der Warteliste für die Behandlung auf der Station 12 stehen permanent zwischen 25 und 45 Personen, sie warten bis zu vier Monate auf die stationäre Behandlung – solange ihre Situation es ihnen erlaubt. Wer nicht warten kann, geht zur Notfallaufnahme ins Krankenhaus und wird sofort behandelt.
Atemübungen, Morgensport, Tischtennis
Für das Team auf Station 12 bedeutet das regelmäßig einen Jonglageakt. „Wir haben hier Patienten mit einem ganz unterschiedlichen Maß an Bedrängnis und Alternativlosigkeit“, sagt die Psychologin Tina Waiblinger-Grigull. „Es ist schwierig, da allen gerecht zu werden.“
Nicht immer hält sie einen stationären Aufenthalt für unbedingt notwendig. Das Programm, das die Patientinnen und Patienten auf Station 12 durchlaufen, sei das gleiche wie bei einer Tagesklinik – nur mit Übernachtung und Verpflegung. Sie plädiert deswegen dafür, mehr Menschen tagesklinisch zu behandeln, um dem Belegungsdruck beizukommen.
Die Oberärztin Nunnemann sieht das anders. Nicht nur hält sie es für sinnvoll, Menschen in einem frühen Stadium ihrer Erkrankung stationär zu behandeln, um Schlimmeres zu vermeiden. Sie sieht die Station außerdem als Ersatz für diejenigen, die kein privates Umfeld haben, das sie versorgen kann. „Wir beobachten, dass soziale Netzwerke immer weniger Tragfähigkeit haben“, sagt sie. Die Grenzen, wann man die Klinik in Anspruch nehme, seien aufgeweicht: „Früher ist man zur Familie oder zu Freunden gegangen. Heute geht man in die Psychiatrie.“
Mona Schuster hat ein privates Umfeld, das sie stützt – aber sie ist trotzdem froh über die Tagesstruktur, die die Station ihr bietet. „Das ist das Beste an der Klinik“, sagt sie. „Dass es feste Zeiten gibt, zu denen ich etwas nur für mich mache. Zu Hause sind immer die anderen wichtiger.“
Das gilt für viele hier. Seien es die Atemübungen, der Morgensport oder einfach nur das Tischtennisspielen mit den anderen: In der Klinik, weit weg von Alltag und Routine, merken sie, was ihnen guttut – und was nicht. Plötzlich ist da eine Struktur, ja eine ganze Institution, die darauf abzielt, dass es einem besser geht. Die einem erlaubt, dass man zumindest für eine Weile nicht funktioniert.
"Wir machen hier nur die Operation"
„Hier legen sie ihre funktionale Fassade ab“, erklärt Psychologin Waiblinger-Grigull. „Viele wirken dann nach den ersten Tagen auf Station erst einmal schlechter als am Anfang, weil sie niemandem mehr etwas vormachen müssen.“ Gleichzeitig merkten die Patientinnen und Patienten, dass nicht nur sie das Problem seien und dass sie sich in einer anderen Umgebung stabiler fühlten. „Das ist das Gute an der Station.“
Und das Schlechte?
„Das Schlechte ist: Sie sind unter einer Käseglocke. Und die Welt da draußen wird weggeschoben, bis es einem ‚wieder richtig gutgeht‘. Und dann erst kann man sich seinen Problemen stellen, der Beziehungskrise oder der Jobsuche.“ Die hundertprozentige Genesung – die Patientinnen und Patienten brächten sie bei der Aufnahme oft als Erwartung mit. „Wir machen hier nur die Operation, wie in jeder anderen Klinik auch“, sagt Waiblinger-Grigull. „Der Heilungsprozess beginnt zu Hause – und es dauert Wochen, bis der Patient davon etwas spürt.“
Aber auch ohne Heilung zu erwarten, sind manche Patientinnen und Patienten enttäuscht von dem stationären Aufenthalt. Sie rechnen damit, in der Klinik eine auf sie zugeschnittene Behandlung angeboten zu bekommen – vor allem diejenigen, die über die Warteliste kommen.
„Ich bin vor einem halben Jahr schon aus dem Gröbsten raus gewesen“, sagt zum Beispiel der Patient, der bei der Gruppentherapie nach der Olive gestochen hat, ein Mann um die 40 mit der Diagnose Bipolar Typ 2. „Dann komm ich hierher, bin abgeschirmt und versorgt und will meine Probleme gründlich angehen.“ Doch statt der tiefenpsychologischen Behandlung, die er sich wünscht, stehen ihm nur 25 Minuten Einzelgespräch pro Woche zu.
Hilfe ist interdisziplinär
Donnerstagmorgen, 10.30 Uhr: Das Stationsteam trifft sich zur multiprofessionellen Besprechung. Oberärztin, Psychologin, Stationsärzte, Sozialpädagoge, Ergo- und Tanztherapeuten sowie Pflege beraten gemeinsam über jede und jeden der 28 Patientinnen und Patienten. Interdisziplinäre Teamarbeit ist ein innovativer Ansatz in der Psychiatrie, den auch das Konzept „Weddinger Modell“ vorsieht.
Es ist ein Vorteil des stationären Settings, dass hier nicht nur die Krankheit selbst betrachtet wird, sondern auch das Umfeld: Braucht die Patientin einen Termin beim Jobcenter, Hilfe bei der Wohnungssuche oder Familien- und Einzelfallhilfe? Kann eine Selbsthilfegruppe nach der Klinik helfen oder muss der Sozialpsychiatrische Dienst eingeschaltet werden?
Medikamente zeigen, ob die Diagnose zutrifft
„Herrn Müritz wollten wir ja eigentlich morgen entlassen.“ – „Also ich könnte noch eine Woche mit ihm gebrauchen“, sagt Sozialpädagoge Markus Dirlenbach. „Wir müssen noch seine Krankenversicherung regeln und er hat morgen erst den Termin beim Jobcenter.“ Er zeigt ein Bild, das der Patient in der Ergotherapie zum Thema „Werte und Ziele“ gemalt hat: Es zeigt ein Haus, eine Familie mit Hund im Garten, die Kinder schaukeln. „Der hat nicht viel Glück im Leben gehabt.“ Nunnemann stimmt ihm zu: „Nee, um den müssen wir uns noch ein bisschen kümmern.“
„Herr Hussmann war heute sehr neurotisch“, sagt Waiblinger-Grigull über den nächsten Patienten. „Profitiert er von Elvanse?“, fragt Nunnemann. Schweigen. „Dann setzen wir es ab.“ Sie klappt die Akte zu. „Das hätte schon anschlagen müssen, wenn er ADHS hat.“
Die Entscheidung für oder gegen ein Medikament fällt schnell. „Die Diagnose verschafft uns erst einmal Zugang zu den Medikamenten“, sagt Waiblinger-Grigull. „Und die Medikamente zeigen dann manchmal erst, ob die Diagnose zutrifft oder nicht.“ Häufig kommen Patientinnen und Patienten auf die Station, die bereits eine ganze Reihe an Antidepressiva ausprobiert haben, ohne Erfolg. Andere erhalten hier eine neue Diagnose, so wie Mona Schuster. Dann muss die medikamentöse Therapie angepasst werden.
„Eine Diagnose bildet nicht den Menschen als Ganzes ab“, sagt Nunnemann. „Sie ist eine Arbeitsgrundlage für uns als Behandler.“
Was kommt nach Station 12?
Am Freitagmorgen steht die Oberärztin an der Eingangstür der Station. Im Flur sitzen in einem langgezogenen Stuhlkreis Patientinnen und Patienten, dazwischen das Stationsteam. Jeden Freitag um 8.40 Uhr ist Patientenforum: Regeln werden erklärt, Wünsche geäußert. Wer entlassen wird, verabschiedet sich, wer neu aufgenommen wurde, stellt sich vor. Ein junger Mann setzt zum Sprechen an. „Ich fühle mich stabiler als vor ein paar Wochen“, sagt er. „Ich gehe heute nach Hause und ich freu mich drauf.“
Schusters Entlassungstermin ist in zwei Wochen. Sie denkt jetzt schon darüber nach, wie es sich anfühlen wird, wieder zu Hause zu sein. Die Vorstellung beunruhigt sie. Ob sie tatsächlich noch einmal ambulante Reha macht, wie die Krankenkasse ihr vorgeschlagen hat? Ob sie in ihren alten Job zurückkehrt? Ob sie einen Therapeuten findet?
Was nach Station 12 kommt, sie weiß es noch nicht.
Wollen Sie mehr zum Thema erfahren? Lesen Sie ein Interview mit Dr. Liselotte Mahler, der Entwicklerin des Weddinger Modells, in Weddinger Modell: „Die Deutungsmacht geht zum Patienten hin“.
Wie diese Reportage zustande kam
Um über eine Woche hinweg genaue Eindrücke vom Alltag einer psychiatrischen Station sammeln zu können, mussten Autorin und Fotograf im Vorfeld der Recherche eine Erklärung unterzeichnen, in der sie garantierten, keine Informationen preiszugeben oder Fotos zu verwenden, die eine eindeutige Identifikation der Patientinnen und Patienten zuließen. Zusätzlich stimmte die Klinik dem Besuch nur unter der Bedingung zu, dass die zur Veröffentlichung bestimmten Fotos vorgelegt würden und der Text telefonisch besprochen werde.