Sie haben 2010 am Berliner St.-Hedwig-Krankenhaus das „Weddinger Modell“ eingeführt. Was wollten Sie ändern?
Als eine Versorgungsklinik in einem städtischen Brennpunkt hatten wir mit Überbelegung, Ineffizienz und Unzufriedenheit bei den Patienten, den Angehörigen, aber auch bei uns selbst zu kämpfen. Deswegen haben wir uns gefragt: Wie sinnvoll sind die Strukturen, in denen wir arbeiten? Und welche Haltung brauchen wir? Zunächst erkennen wir im Weddinger Modell die Patientin als Expertin für ihre Erkrankung…
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brauchen wir? Zunächst erkennen wir im Weddinger Modell die Patientin als Expertin für ihre Erkrankung an. Zweitens betrachten wir sie immer in ihrem Lebenskontext, auch wenn sie auf Station ist. Und drittens haben wir ein multiprofessionelles Team: Jede Berufsgruppe wird in ihrer Bedeutung für die Behandlung angeglichen, je nach Bedürfnis. Da kann der Sozialarbeiter auch mal wichtiger sein als die Ärztin.
Wie binden Sie die Patienten ein?
Wir wollen die bestehenden Strukturen transparenter und partizipativer gestalten: Wir besprechen zum Beispiel die Patientin nicht vor oder nach der Visite, sondern wir setzen uns mit ihr zusammen, so dass sie unsere Einschätzung hört. Wir fragen sie, was eigentlich ihre Wünsche und Ziele sind. Wir blicken gemeinsam auf das, was passiert, und zwar in jedem Behandlungselement. Man kann das relativ einfach umsetzen, ohne mehr Zeit zu investieren oder mehr dokumentieren zu müssen. Und die Patientinnen nehmen das dankbar an. Da sind Leute, die über 20, 30 Jahre im psychiatrischen System sind und die sagen: „Nach meinen eigenen Zielen habt ihr mich noch nie gefragt.“
Der Patient als Experte – geht der Trend in diese Richtung?
Ich glaube schon, dass die Deutungsmacht zum Patienten hingeht. Wir haben auch eine neue Berufsgruppe in der Psychiatrie, die Genesungsbegleiterinnen, also Personen mit einer eigenen Krisen- und Psychiatrieerfahrung, die Teil der Teams werden. Die user-driven perspective ist auf dem Vormarsch: Erreichen wir die Menschen und können die Menschen von uns profitieren?
Gehört zu einer individualisierten Behandlung auch Einzeltherapie?
Individuelle Behandlung bedeutet nicht, dass wir alles erfüllen können, was gewünscht wird. Personalmangel und Ressourcenknappheit haben wir in der Psychiatrie überall. Ich finde es wichtig, dass psychotherapeutische Einzelgespräche angeboten werden. Aber man kann nicht per se sagen, es brauche bei jedem Patienten mit einer depressiven Episode 50 Minuten Einzeltherapie.
Wir müssen das flexibler halten: Manche profitieren von Gruppentherapie, andere von Ergotherapie oder von zweimal 25 Minuten Einzeltherapie. Das multiprofessionelle Team ist da von großer Bedeutung, denn es bietet unterschiedlichste Varianten von Therapie an und schafft so Raum, den Patienten mit großem Bedarf an Einzeltherapie ein Angebot zu machen.
Wann ist eine stationäre Behandlung sinnvoll?
Man kann nicht generell sagen, dieses oder jenes Setting ist besser: Manche Patienten sind einfach auf die Station angewiesen, weil sie sich zum Beispiel in psychosozialen Notlagen befinden. Das ist je nach Person unterschiedlich und hängt bei den meisten Patienten auch von der Krankheitsphase ab: Es gibt Momente, da ist stationär richtig, dann wieder teilstationär oder aufsuchend. Das ist Individualisierung: Ich biete das Behandlungssetting an, das der Mensch braucht.
Wollen Sie mehr zum Thema erfahren? Lesen Sie außerdem die Eindrücke einer einwöchigen Reportagearbeit in einer Akutpsychiatrie, die den Ablauf einer Krisenintervention begleitet in Die Welt hier in der Akutpsychiatrie.
Dr. Lieselotte Mahler ist ärztliche Direktorin und Chefärztin der Abteilung für Psychiatrie und Psycho-therapie in den Kliniken im Theodor-Wenzel-Werk in Berlin.