Als Marina Zak im November 2014 in das kalkweiße Zimmer im Erdgeschoss des Centrums für Muskuloskeletale Chirurgie der Charité humpelt, ist die Erinnerung an die letzte Operation sofort wieder da. Nach der Narkose plagten die Bankkauffrau damals Tag und Nacht Albträume. Sie wurde verfolgt und umzingelt, erschossen und gedemütigt. Sie hielt es nicht allein zu Hause aus. Ihre Mutter musste zu ihr kommen. Eine Woche ging das so. Dann ließ die Wirkung der Medikamente allmählich nach.
Dieses Mal soll Zak eine…
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die Wirkung der Medikamente allmählich nach.
Dieses Mal soll Zak eine neue Hüfte bekommen. Hinterher könnte es abermals ein böses Erwachen geben, befürchtet sie. Und dann ist da noch die Panik, es könnte während des Eingriffs etwas schiefgehen. Im Fernsehen hat sie das oft genug gesehen: liegengebliebenes OP-Besteck im Körper, eine Blutung, die sich nicht mehr stoppen ließ, aufgelöste Ärzte. Und es muss ja nicht einmal am Chirurgen liegen, vielleicht spielt ihr Körper einfach verrückt. „Da rattert es im Kopf, und man hat einfach nur Angst“, erzählt sie. „Das Warten auf die OP ist das Allerschlimmste. Man sieht ein, dass es notwendig ist. Aber diese Ohnmacht!“
Es geht vielen Patienten wie Marina Zak. Sie warten im Krankenhaus auf eine Operation – seien es „nur“ die Mandeln oder aber ein Bypass, die Entfernung eines Tumors oder gar eine Transplantation. Die wenigsten der jährlich 14,9 Millionen Operationen hierzulande sind so dringend, dass sie sofort geschehen. Die Patienten liegen stunden-, manchmal tagelang im Krankenbett und fiebern jenem Eingriff entgegen, der ihnen hoffentlich Erleichterung verschaffen wird. Diese Zeit ist eine seelische Belastungsprobe sondergleichen, weiß German Quernheim. Der Pflegewissenschaftler hat in seiner Promotion untersucht, wie Patienten die Wartezeit erleben und was in ihnen vorgeht, wenn sich ihr OP-Termin verzögert oder verschoben wird (Warten und Durchhalten, Hans Huber 2013).
„Im Krankenhaus wird Zeit anders erlebt aufgrund der Isolation, des Schmerzes und des Zurückgeworfenseins auf sich selbst“, erklärt auch der Soziologe Rainer Paris von der Hochschule Magdeburg. Sie kann sich endlos dehnen und zur grausigen Achterbahnfahrt der Angst werden. „Eine Besonderheit des Wartens im Klinikum ist der ungewisse Ausgang. Man weiß nicht, wie die OP verläuft und wann man genau operiert wird. Man hat diese Einrichtung zum Helfen autorisiert, ist aber nun auf das Können und die Fürsorge des Personals angewiesen.“
Diese Ohnmacht kann einigen Patienten zur Qual werden. Ein Befragter schilderte gegenüber Quernheim: „Das Warten war schrecklich. Ich musste mich ja fügen und war völlig ausgeliefert.“ Wer unter Schmerzen leidet, dem wird die Zeit im Krankenhausbett besonders unerträglich. Die Wahrnehmung verengt sich zu einem schmalen dunklen Tunnel, dessen einziger Ausgang die Erlösung durch die OP ist. Ängstliche und Depressive hadern besonders stark mit sich, beobachtete Quernheim.
Der ungewisse Ausgang und die Abhängigkeit vom Klinikpersonal machen auch Marina Zak zu schaffen, besonders als sie am späten Nachmittag in ihrem Bett liegt und die Zeit zäh wie Schmierfett wird. „Zuvor hatte ich keine Zeit zum Nachdenken: Unterlagen abgeben, Blut abnehmen, röntgen, Narkose besprechen. Aber danach stieg meine Nervosität“, erzählt sie. Wie in einem Hamsterrad kreisen ihre Gedanken um die bevorstehende OP. Sie hofft, dass der Arzt erfahren ist und ausgeschlafen hat und dass das Personal ja keine Medikamente vertauscht. Zak versucht sich abzulenken und eine Mütze mit einem komplizierten Muster zu stricken, bei dem man in jeder Reihe zu- und abnehmen muss. Aber die Maschen rutschen ihr von der Nadel, und ihre Gedanken verhaken sich immerzu an dem bevorstehenden Eingriff. Hoffentlich ist es bald vorbei, denkt sie.
Dann wird es zwei, dann drei, dann vier Uhr – und nichts passiert
Typische Gedanken und typisch auch der Versuch, sich abzulenken, weiß Quernheim. Etliche Patienten malen sich die Komplikationen aus, von denen sie gehört oder gelesen haben, und steigern sich umso fieberhafter in den Katastrophenfilm ihres Kopfkinos hinein, je mehr Raum zum Grübeln sie haben.
Anders als Marina Zak wissen die meisten Patienten im Vorfeld auch nicht, wann sie operiert werden. Sie kommen oft am Vorabend oder frühmorgens ins Krankenhaus und rechnen damit, am Vormittag, spätestens aber am Nachmittag an der Reihe zu sein. Fragen sie beim Personal nach, geben Schwestern und Pfleger oft nur vage Antworten oder weichen aus. Denn da die meisten Kliniken Notfälle betreuen, verschiebt sich der Zeitplan oft. Die Bettlägrigen kann diese unkalkulierbare Situation belasten: „Das ist erdrückend. Mittags heißt es, Sie kommen heute noch dran. … Sie haben Hunger. … Dann wird es zwei Uhr, dann wird es drei Uhr, dann wird es sechs Uhr, und dann wird es sieben Uhr, und dann ist immer noch nichts passiert“, klagt ein Patient gegenüber Quernheim sein Leid.
Es ist eine Situation des Durchhaltens, sagt er. „Je länger diese Phase dauert, desto schlimmer wird sie für die Patienten.“ Und je dürftiger die Informationen des Personals, desto ausgelieferter fühlen sie sich. Wenn die Patienten im Unklaren bleiben, warum und worauf sie warten, ist das für viele besonders schwer zu ertragen, bekräftigt Psychologin Anneliese Westermann-Binnewies, die sich in ihrer Dissertation mit dem Phänomen von „Zeit und Macht im Krankenhaus“ befasst hat. Sie ließ 50 Patienten in den Notaufnahmen verschiedener deutscher Krankenhäuser befragen. Etliche fühlten sich dort ungerecht behandelt. „Die lassen uns hier warten“, schimpften sie. Eltern, die in Zeitnot waren, weil daheim Kinder auf sie warteten, reagierten besonders schnell gereizt.
Erstaunlicherweise gibt es auch jene Patienten, die die Liegezeit entspannt erleben. Reiner Schäfer trennen nur wenige Türen von Marina Zak im Centrum für Muskuloskeletale Chirurgie der Charité. Auch er bekommt eine künstliche Hüfte. Jedoch sagt er von sich: „Ich bin ein Optimist und weiß, wie ich mich bei Laune halte. Ich habe zu keinem Zeitpunkt Angst gehabt.“ Dabei spielt auch eine Rolle: Er hat sich bewusst für die Charité als mehrfach ausgezeichnetes Klinikum entschieden, obwohl von seinem Wohnort in Schleswig-Holstein weit entfernt. Dadurch ist sein Vertrauen in das Krankenhaus und das Personal von Anfang an groß. Am Vortag der OP hört Schäfer das Hörbuch Hummeldumm über eine Reisegruppe auf Safari in Namibia, der allerlei Verrücktheiten widerfahren. Die heitere Geschichte lenkt ihn ab.
Doch auch ein fröhliches Gemüt kann im Krankenhaus an die Grenzen seiner Unbeschwertheit gelangen, warnt Quernheim. Grundsätzlich bleiben zwar die Gelassenen auch mit fortschreitender Wartezeit meist immer noch relativ ruhig, wohingegen die Anspannung bei den Nervösen von Stunde zu Stunde wächst. Doch es gibt auch die „Switcher“, wie sie der Pflegewissenschaftler nennt. Ihre Stimmung kippt im Krankenbett, sobald allzu heftige Widrigkeiten eintreten.
„Wenn Versprechen nicht eingehalten werden, ist das für die Betroffenen besonders schlimm“, nennt Quernheim einen häufigen Grund. Sollte die OP beispielsweise am Abend stattfinden, wird aber dann auf unbestimmte Zeit und ohne Erklärung verschoben, nimmt das viele Kranke sehr mit. Es können aber auch kleine Auslöser sein, die die Stimmung verderben – etwa patzige Antworten vom Personal oder Ärzte und Pfleger, die das Klagen und Fragen ganz ignorieren und am Bett vorbeihasten. Vor allem, wenn die Betroffenen umfassende Informationen und eine schnelle OP erwarten, kann ihnen diese Realität zusetzen. Die Stimmung sinkt dann rasch auf einen Tiefpunkt, gerade wenn es keine Ablenkung gibt, etwa wenn Besuch von Angehörigen ausbleibt.
Und wenn der Arzt jetzt übermüdet ist und einen Fehler macht?
Die Switcher verfallen jedoch in unterschiedliche Gefühlslagen, beschreibt Quernheim. Die einen resignieren und geben auf. „Ich bin ja sehr redselig …, aber ich wurde dann immer stiller“, erzählte ihm eine Patientin. Lethargisch starren sie Löcher in die weiße Wand oder brechen seelisch in sich zusammen. Sie verlieren ihre Kraft, die Contenance zu wahren. Andere Patienten hoffen indes, je mehr der Tag voranschreitet, dass sie erst am kommenden Tag operiert werden. Sie befürchten, dass das Personal nun übermüdet ist und sie deshalb Opfer eines Arztfehlers werden könnten. Dass größere Krankenhäuser ihre OP-Säle in mehreren Schichten bis 23 Uhr betreiben, ist ihnen nicht bekannt. Einige Patienten reagieren aber auch aggressiv auf die unerträgliche Situation. Sie werden ausfällig gegenüber Pflegern und Schwestern oder drücken pausenlos den Alarmknopf. „Ich wurde richtig pampig“, berichtet ein Patient von seinem Wendepunkt. „Ich bin eigentlich ein ruhiger Vertreter, aber was zu viel ist, ist zu viel.“
Vor allem Verzögerungen einer OP schlagen fast allen Patienten aufs Gemüt. Auch eine Studie der Pflegewissenschaftlerin Deborah Walker mit 429 Patientinnen, die auf eine Entfernung der Gebärmutter warteten, belegt dies: Verschob sich der Eingriff, machten sich die Frauen mehr Sorgen, schliefen schlechter und waren häufiger wütend und frustriert.
Einen neuen Höhepunkt erreicht das Warten, wenn Patienten kurz vor dem Eingriff stehen und bereits im OP-Hemd im Bett liegen. Das Gewand ist kurz und am Rücken offen, sodass die so Gekleideten sich quasi nackt fühlen und nun nicht mehr spazieren gehen oder auf dem Gang herumlaufen können. Einige frösteln. Die erzwungene Immobilität verschärft die Situation des Wartens.
Zusätzlich durften 24 der 25 von Quernheim befragten Patienten vom Vorabend des Eingriffs an nichts mehr essen und trinken. Ohne Flüssigkeit fühlen sich viele bald unwohl und leiden, wenn den Bettnachbarn volle Tabletts gebracht werden. Ein Extremfall: Eine Patientin liegt hungrig und durstig bis abends um 18 Uhr und erfährt dann, dass sie erst am kommenden Tag an der Reihe ist. Zu Abend gibt es nur ein Glas Tee und eine Scheibe Brot. Dann am nächsten Tag dasselbe Spiel. Am dritten Tag fleht sie nachmittags die Schwester an: „Ich verdurste, ich vertrockne.“ Die Helferin schließt sie an einen Tropf an. Um halb vier beginnt dann die Operation. Wenn sie nicht nachgefragt hätte, hätte ihr wohl niemand geholfen. Dieses Ausgeliefertsein und Vergessenwerden kann Angst und Resignation befeuern.
Marina Zak ist ebenfalls nüchtern, als sie auf ihre OP wartet. Kein Problem, sie soll gleich morgens eine der Ersten sein, hat man ihr gesagt. Vor der OP müssen die Ärzte noch einen Bluttest machen. Aber ihr Blut gerinnt aus unerklärlichen Gründen nicht. Das bedeutet: Sie würde verbluten. Die OP wird abgesagt. Zak hat in diesem Moment das Gefühl, der Boden würde ihr unter den Füßen weggezogen. Monatelang hat sie dieser Operation entgegengefiebert, auf die neue Hüfte gehofft und vor Schmerzen nachts kaum geschlafen. Nur auf dem Rücken, halb im Bett sitzend, konnte sie zu Hause für ein paar Stunden wegdämmern. Wenn sie jetzt nicht operiert wird, wird diese Odyssee nie ein Ende nehmen, glaubt sie. Trotz Beruhigungsmitteln spürt sie, wie in ihr Panik aufsteigt.
Auch für den so heiteren Herrn Schäfer sind die Minuten unmittelbar vor der Operation anstrengend. Man hat ihn im OP-Hemd in den Vorraum des Operationssaals geschoben. Es zieht. Es könnte jetzt jeden Augenblick losgehen, denkt er. Geduld ist nicht gerade seine Stärke. Er hört, wie das Personal den Saal reinigt, die Apparate hin und her rückt und Schläuche anschließt. Er starrt an die Decke mit weißen Lochkacheln. Viele Tausend Löcher. Da könnte ein schönes Landschaftsbild hängen, findet er. Als er vor Jahren in einem anderen Klinikum am Knie operiert wurde, gab man ihm klassische Musik zur Beruhigung. Mozart oder Beethoven – das würde ihn jetzt entspannen. Stattdessen hört er nur gedämpfte Stimmen und gurgelnde Geräusche aus dem OP-Raum. „Jetzt denk bloß an etwas Schönes“, ermahnt er sich. Nach einer Stunde öffnet sich die OP-Schleuse.
Der Soziologe Paris schätzt das Ausharren im Vorraum des OP als besonders kritischen Moment ein, vor allem vor einem schweren Eingriff und wenn es mit dem Vertrauen in die Akteure ohnehin nicht weit her ist. „Kleine Gesten wie das Zurückgeschobenwerden ins Zimmer können dann traumatisieren, besonders wenn sie ohne Begründung bleiben und die Ungewissheit dadurch ins Uferlose gesteigert wird.“
Komplikationen sind häufiger, Wunden heilen schlechter
Verzögerungen vor einem Eingriff haben auch medizinische Konsequenzen. „In klinischen Studien konnte vielfach gezeigt werden, dass psychischer Stress, Ängste und Depressivität die Heilung nach der OP negativ beeinflussen“, hält der Psychologe Bernhard Strauß vom Universitätsklinikum Jena fest. Komplikationen sind häufiger, die Wunden heilen schlechter, und die Patienten sind nach dem Eingriff häufiger depressiv. Senioren mit Hüftfraktur lagen einer kalifornischen Studie zufolge sogar für jeden Tag, den sie vorher auf die OP gewartet hatten, nach dem Eingriff zwei Tage im Klinikbett.
Zum Glück muss Marina Zak nach der abgesagten OP nicht mehr lange durchhalten. Der Arzt bemerkt ihre Fassungslosigkeit und hat Mitleid. Er macht einen zweiten Gerinnungstest. Dieser verläuft normal. Aufregung und Angst haben ihre Werte beim ersten Mal vermutlich durcheinandergeworfen. Als sie wenige Tage später aus ihrem Klinikzimmer heraustritt, lacht Zak wieder. Sie schwingt sich auf Krücken und einem Bein den Flur entlang. „Jetzt bin ich gut drauf“, sagt sie. „Das ist so wunderbar, das Gefühl, wieder ein zweites Bein zu haben.“
Damit das Warten erträglicher wird
Was ich als Patient tun kann:
- Patienten sollten sich vor ihrem Klinikaufenthalt Gedanken machen, was sie ablenken und aufheitern würde. Das können Bücher, Musik, Filme und Hörspiele sein. Erfahrungsgemäß können sich Bettlägrige auf leichte Unterhaltung eher einlassen als auf anspruchsvolle Lektüre, die viel Konzentration verlangt.
- Positiv wirken sich auch Besuche von Angehörigen und Freunden aus. Da oft nicht genau bekannt ist, wann die Operation stattfindet, ist es ratsam, dass die Besucher auch am Tag der OP vorbeikommen, damit der Betroffene in dieser besonders angespannten Situation nicht allein ist. Und auch das kann helfen: Spaziergänge an der frischen Luft bringen die Wartenden auf andere Gedanken.
- Wenn das Klinikpersonal nur vage Auskünfte zum Zeitpunkt des Eingriffs gibt, sollte man mehrmals freundlich, aber bestimmt nachfragen. Manchmal bekommt man so doch wichtige Informationen. Und wer Hunger oder Durst hat, sollte sich mit seinen Bedürfnissen unbedingt an das Personal wenden.
Was ich als Pfleger oder Ärztin tun kann:
- Das medizinische Personal sollte die Wartenden möglichst umfassend informieren und ihnen Verzögerungen mitteilen und erklären. Wenn ein Notfall vorgezogen werden muss, hilft es den übrigen Wartenden meist, den Grund des Aufschubs zu kennen und zu verstehen.
- Pfleger und Krankenschwestern sollten sich nach den Bedürfnissen ihrer Schützlinge erkundigen und ihnen das Warten durch Zuwendung so angenehm wie möglich machen. Aufgeregte und nervöse Patienten können medikamentös beruhigt werden. Im besten Fall sollten sie besonders rasch operiert werden, da ihnen die Liegezeit mehr als anderen zusetzt.
- Das Nüchternheitsgebot sollte auf das erforderliche Maß von wenigen Stunden vor dem Eingriff beschränkt werden, um die Kranken nicht zusätzlichem Stress auszusetzen, fordert der Pflegewissenschaftler German Quernheim.