Psychotherapie: Ist die Versorgung gut genug?

Wer einen Psychotherapieplatz sucht, muss lange warten. Lösen mehr Therapeutinnen das Problem? Enno Maaß und Matthias Liebner im Streitgespräch

Eine Theapeutin sitzt mit ihrem Patient vor einer Bücherwand, neben ihr ein Beistelltisch mit einer brennenden Kerze
Nach ewiger Wartezeit endlich einen Therapieplatz bekommen: Was kann getan werden, um Patient und Therapeutin schneller zusammenzuführen? © Maskot/Getty Images

Herr Dr. Liebner, Herr Dr. Maaß, viele psychisch Erkrankte warten monatelang auf einen Psychotherapieplatz. Trotzdem will Gesundheitsminister Karl Lauterbach die Zahl der Psychotherapeutinnen und -therapeuten mit Kassenzulassung nicht erhöhen. Seine Sorge: Die Versorgung würde nicht besser, leicht Erkrankte würden einfach länger behandelt. Was haben Sie gedacht, als Sie das gehört haben?

Liebner: Es ist mutig, dass Herr Lauterbach das so sagt. Ich hätte es wahrscheinlich nicht so formuliert, denn ich kann…

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ist mutig, dass Herr Lauterbach das so sagt. Ich hätte es wahrscheinlich nicht so formuliert, denn ich kann mir nicht vorstellen, so die Mithilfe der Psychotherapeutinnen und -therapeuten zu gewinnen – auf die ich als Gesundheitsminister ja aber angewiesen bin, wenn ich die Versorgung sicherstellen will.

Vielleicht haben Sie gedacht: „Richtig so! Endlich sagt mal einer, dass die leichten Fälle die Praxen verstopfen und wir in Wahrheit gar nicht mehr Therapeutinnen und Therapeuten brauchen.“

Liebner: Ich denke, Herr Lauterbach sagt das ja nicht einfach so. Das bildet sicherlich irgendeine Art der Realität ab, die sich nur niemand zuschreiben will. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Therapeut sagt: „Herr Lauterbach hat recht, ich behandle nur die Leichtgestörten“, weil es immer eine Mischung an Krankheitsbildern ist, die man behandelt. Und dann ist ja auch nicht die Patientin an sich schwierig, sondern das, was man als Behandler als schwierig empfindet aufgrund der eigenen Ausbildung oder Berufserfahrung. Ich könnte gar nicht sagen, was ein „leichter“ und was ist ein „schwerer Fall“ ist.

Herr Maaß, wie geht es Ihnen: Regt Sie das persönlich auf, wenn Sie so etwas hören – keine Ausweitung der Kassensitze, die Psychotherapeutinnen und -therapeuten machen sich’s leicht?

Maaß: Die Argumentation ist ja nicht neu: Vor allem bei den Krankenkassen lautet die Antwort schon lange reflexartig: „Ihr seid schon so viele Therapeuten, mehr gibt’s nicht.“ Der Punkt ist: Psychische Erkrankungen gewinnen in der öffentlichen Wahrnehmung immer mehr an Bedeutung. Das liegt zum einen daran, dass genauer hingeguckt wird. Zum anderen wachsen die Fehltage und Frühberentungen aufgrund psychischer Erkrankungen, und die Entstigmatisierung und die psychologischen Kenntnisse nehmen zu. Das heißt also: Vermutlich sind nicht mehr Menschen krank als früher, aber die Erkrankungen fallen mehr auf.

Und dann wird der Ruf nach mehr Kassensitzen laut.

Maaß: Therapeutinnen und Therapeuten sagen: „Ich kann nur eine begrenzte Zahl von Menschen behandeln. Wenn ihr Krankenkassen mehr Behandlungskapazitäten haben wollt, dann müsst ihr mehr Flexibilität ermöglichen oder schlicht die Angebotsseite erhöhen.“ Die Krankenkassen aber sagen: „Wir können nicht mehr Geld ins System pumpen, die Behandelnden müssen die Effizienz steigern.“

Dieses Dilemma soll die Politik lösen, mit der Konsequenz, dass Herr Lauterbach sich hinstellt und suggeriert: Wenn man nur noch die schweren Fälle behandeln würde, wäre das Problem gelöst. Das ist natürlich eine irrige Annahme. Zum einen müsste man, wie Herr Liebner angedeutet hat, erst einmal festlegen, welche Kriterien für „leichte Fälle“ gelten. Und zum anderen darf man sich dann auch nicht davor drücken zu sagen, dass man manchen Menschen keine psychotherapeutische Versorgung mehr zukommen lassen möchte.

Herr Liebner, in einem Ihrer Aufsätze ­haben Sie geschrieben, es würden auch ­„Befindlichkeiten“ therapiert. Was verstehen Sie darunter?

Liebner: Herr Maaß hat es schon gesagt: Es sind nicht mehr Menschen krank als früher, sondern wir haben eine steigende diagnostische Prävalenz, das heißt: Es werden mehr Diagnosen vergeben. Oft liest man, das sei die Aufhellung des Dunkelfelds, also dass heute psychische Störungen besser diagnostiziert werden können. Früher lag die Schlafstörung am Alter, heute ist sie ein Symptom einer Depression. Eine andere Erklärung ist aber, dass es eine gestiegene Bereitschaft gibt, Befindlichkeitsstörungen in Krankheiten umzucodieren, die dann als behandlungsbedürftig eingestuft werden. Das bedeutet auch eine Pathologisierung: Normale psychische Reaktionen sind plötzlich eine seelische Störung von Krankheitswert.

Spielen Sie auf neue Diagnosen wie die „anhaltende Trauerstörung“ an?

Liebner: Normative Krisen, Kränkungserleben und Trennungen sind ja oft der Auslöser, dass Patienten eine Psychotherapie nachfragen. Dann ist zu differenzieren: Ist das eine normale psychische Reaktion, dass Zukunftsängste oder Selbstzweifel auftreten? Oder passiert das auf dem Boden schon länger schwelender psychischer Konflikte, die jetzt einen Auslöser gefunden haben?

Es gibt eine gewachsene Sensibilität für seelische Störungen, aber auch eine gesunkene Bereitschaft, sich mit Unvollkommenheiten abzufinden. Patientinnen und Patienten kommen mit Fragen nach Selbstfindung, Identitätsarbeit oder Selbstoptimierung. Ich will das nicht verurteilen, aber wir müssen uns auf diese veränderten Bedürfnisse einstellen und sind dafür nicht ausgebildet.

Aber ist die Zahl der psychisch Erkrankten wirklich nicht ­gestiegen? Die Weltgesundheitsorganisation hat neulich ­höhere Zahlen genannt.

Liebner: Natürlich sind durch Corona die Belastungen gestiegen, aber Belastungen an sich begründen ja nicht eine seelische Störung. Manche Erkrankungen wären auch ohne Pandemie ausgebrochen, nur etwas später. Letztendlich ist aber trotzdem die Frage, wie wir mit diesen Therapiesuchenden umgehen. Irgendwann finden sie immer eine Therapeutin oder einen Therapeuten, der sie behandelt, auch wenn sie nicht behandlungsbedürftig sind.

Es gibt also gar keine Versorgungslücke, sondern Personen, die nicht behandlungs­bedürftig sind, besetzen Plätze?

Maaß: Man muss mit den Begriffen aufpassen. Manche Menschen sind psychisch erkrankt, aber nicht unmittelbar behandlungsbedürftig. Das darf man aber nicht mit „Befindlichkeiten“ verwechseln, von denen Sie sprechen, Herr Liebner. Man muss zu Beginn der Therapie feststellen, wie jemand aufgestellt ist: Wenn eine Person zum Beispiel ihren Alltag gut bewältigt, emotional kompetent ist und ein sicheres soziales Netz hat, kann sie erkrankt sein, aber unter Umständen erst mal keine äußere Hilfe benötigen.

Das andere ist: Studien zeigen, dass 49 Prozent derer, die in Deutschland in ambulante psychotherapeutische Behandlung kommen, vier oder mehr Diagnosen allein aus dem psychischen Spektrum haben, zum Beispiel Angst- und Zwangserkrankungen oder chronische depressive Störungen. Bei weiteren 37 Prozent sind es zwei oder drei. Dazu kommen oft noch somatische Diagnosen wie Diabetes mellitus. Viele sind also schwer erkrankt. Natürlich steht am Anfang dennoch die Frage, ob jemand behandlungsbedürftig ist oder nicht. Aber es ist auch klar, dass Personen mit Symptomen, die vielleicht zu dem Zeitpunkt noch nicht behandlungsbedürftig sind, ein erhöhtes Risiko haben, behandlungsbedürftig zu werden. Von dem Auftreten psychischer Krankheitssymptome bis zu dem Entschluss, eine psychotherapeutische Behandlung zu beginnen, vergehen oft mehrere Jahre. Wir haben also sowieso schon relativ viele Menschen, die erkrankt sind, aber erst spät, vielleicht zu spät in Behandlung kommen.

In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, wer prüfen soll, ob jemand behandlungsbedürftig ist. Herr Liebner, Sie plädieren für Diagnosen durch eine zentrale Instanz.

Liebner: Ich spreche da aus meiner Erfahrung beim Medizinischen Dienst. Die Krankenkasse legt mir auffällige Diagnosen vor: acht Monate Arbeitsunfähigkeit nur aufgrund einer Anpassungsstörung? Aufgrund solcher Fälle sind meine Zweifel am jetzigen System gewachsen, zumal Untersuchungen zeigen: Bei ein und derselben Patientin kommen nur drei von zehn Psychiatern zu einem übereinstimmenden Befund. Eine andere Schwierigkeit: Wenn ich will, dass der Gutachter positiv über einen Antrag auf Psychotherapie entscheidet, muss ich den Bericht auf bestimmte Art schreiben und entsprechende Diagnosen vergeben. Ähnliches passiert auch bei der Aufnahme in Kliniken. Das verleitet mich zu fragen: Muss die behandelnde Therapeutin wirklich auch die Diagnose stellen? Wäre es nicht überlegenswert, das zu trennen, für mehr Objektivität und Verlässlichkeit?

Aber würde eine zentrale Stelle, in der eine Person die Diagnosen stellt, wirklich zu mehr Objektivität und Verlässlichkeit führen? Sie haben gerade gesagt, von zehn Behandelnden würden nur drei zum selben Befund kommen.

Liebner: Da haben Sie recht, das ist ein ungelöstes Problem.

Etwas spitz könnte man also sagen: Die ­Diagnose ist sowieso wurscht. Man schreibt auf, was man abrechnen kann?

Maaß: Ich halte das für pure Polemik, wenn die erhöhte Nachfrage nach Psychotherapie – die wohlgemerkt von außen auf die Praxen zukommt – zum Problem vermeintlich ungenauer Diagnostik erklärt wird. Aber ich wollte noch zum Vorherigen sagen: Man sollte intensiver überlegen, präventive Angebote zu schaffen für Menschen mit Symptomen, die aber noch nicht behandlungsbedürftig sind, oder für andere Risikogruppen. Präventive Angebote dürfen Psychotherapeutinnen bislang nicht erbringen, denn dafür sind die Krankenkassen zuständig. Diese bieten zum Beispiel Trainings für Stressbewältigung an. Das Angebot müsste aber dringend ausgebaut werden.

Irgendwie leuchtet mir das alles noch nicht ein: Menschen sind jahrelang erkrankt, bis sie überhaupt eine Therapie in Erwägung ziehen, und warten dann noch monatelang auf einen Platz. Alle, die so etwas auf sich nehmen, haben doch vermutlich einen großen Leidensdruck. Wieso sollte man die nicht regulär behandeln?

Maaß: Wissenschaftlich unstrittig ist, dass diejenigen, die in Deutschland psychotherapeutisch behandelt werden, deutlich erkrankt sind. Man kann fragen: Ist jede Diagnose haargenau richtig? Aber selbst wenn es Unschärfen geben soll­te: Es liegt Behandlungsbedürftigkeit vor.

Also würde eine zentrale Diagnostik keinen Vorteil bringen?

Maaß: Ich halte das für eine Geld- und Zeitverschwendung. Zusätzliche Diagnosen bringen gar nichts. Und es bringt vor allem nichts, sie unabhängig von den Behandelnden zu stellen, weil man sich als Therapeutin oder Therapeut ja gemeinsam mit der Patientin auf einen Behandlungsweg einigt. Deswegen ist es auch gar nicht so verwunderlich, dass unterschiedliche Behandler zu etwas unterschiedlichen Befunden kommen können. Wenn man sich aber die Effektivität von Psychotherapie anguckt, ist die Wirksamkeit sehr gut, und zwar bei den meisten psychischen Erkrankungen. Es kommt darauf an, dass individualisiert behandelt wird und die Beziehung zwischen Patient und Therapeutin passt.

Für Sie, Herr Liebner, muss das doch furchtbar sein: Sie bekommen Fälle auf den Tisch, die Diagnosen scheinen willkürlich, aber Sie sollen beurteilen, ob jemand arbeitsfähig ist oder nicht. Wie soll das funktionieren?

Liebner: Beim Medizinischen Dienst ist meine Aufgabe, der Krankenversicherung zu erklären, ob eine Arbeitsunfähigkeit sozialmedizinisch begründet ist. Nicht die Diagnose begründet also eine Arbeitsunfähigkeit, sondern welche Funktionsbeeinträchtigungen jemand hat.

Dass die Diagnose nicht die Arbeitsunfähigkeit begründet, ist wahrscheinlich manchen nicht klar. Ein wichtiger Punkt. Aber noch mal zu denjenigen, die einen Therapieplatz suchen: Sie sagen, die Zahl der Kassensitze müsse nicht erhöht werden, sondern man bräuchte andere Angebote.

Liebner: Wir haben eine „angebotsinduzierte Nachfrage“: Auf Seiten wie therapie.de kann man sehen, dass Behandelnde, die gerade eine Praxis eröffnet und keine Kassenzulassung haben, freie Plätze anbieten. Die Kasse soll die Kosten trotzdem bezahlen – das sogenannte Kostenerstattungsverfahren. Die Begründung: Anderweitig sei keine Versorgung möglich. Später liest man von denselben Therapeutinnen, sie hätten eine mehrmonatige Warteliste. Das zeigt: Mehr Therapeuten lösen das Problem nicht.

Und mehr Therapeuten brauchen auch mehr Patienten, um ihre wirtschaftliche Existenz zu sichern. Das sehe ich als Gefahr. Eigentlich hat die Politik schon Angebote gemacht, um die Versorgung zu verbessern, zum Beispiel wird die Gruppentherapie durch eine bessere Vergütung gefördert und man muss dafür keine Anträge mehr schreiben. Wenn Therapeuten mehr Gruppen anbieten würden, könnten wir viele Probleme lösen.

Kann man wirklich alle – auch schwer Erkrankte – in einer Gruppe behandeln?

Liebner: Gruppenpsychotherapie ist gut erforscht. Sie ist genauso wirksam wie Einzeltherapie. Sie ist effizient, weil man in derselben Zeit mehr Erkrankte behandeln kann, und effektiv, behandelt also die Störungen, die sie zu behandeln vorgibt. Wenn man die Gruppentherapie konsequent nutzt, würde das viel Druck aus dem System nehmen. Da muss sich auch an der Haltung der Therapeuten etwas ändern. Meine Erfahrung ist, dass sich 80, 90 Prozent der Patienten für die Gruppe entscheiden, wenn man sie entsprechend darauf vorbereitet.

Maaß: Das sehe ich genauso. Etwa 30 Prozent der Behandelnden haben die Qualifikation und Abrechnungsgenehmigung für diese Therapieform, aber nur etwa zwei bis vier Prozent aller Psychotherapieangebote sind Gruppenangebote. Das ist massiv zu wenig. Aus meiner Praxiserfahrung ist allerdings nicht jede Person von Beginn an gruppentherapiefähig. Gerade bei sozialen Ängsten kann es anfangs zu schwierig sein – aber das soll gar keine Gegenrede sein.

Grundsätzlich muss die Gruppentherapie ausgeweitet werden und sie ist im Prinzip auch für jegliche Erkrankung geeignet. Leider wächst die Zahl der Therapieangebote aber noch sehr langsam, was auch mit gewachsenen Strukturen zusammenhängt: Zum Beispiel haben viele Praxen keine geeigneten Räume und in der Coronapandemie waren Versammlungen zeitweise nicht erlaubt. Deshalb bleibt die Frage: Will man im Moment einfach abwarten oder muss eine Zwischenlösung her?

Teilweise gibt es ja auch „Sonderzulassungen“ und „Ermächtigungen“ für Therapeuten – die Versorgung wird also für einen bestimmten Zeitraum oder für bestimmte Diagnosen hochgefahren, auch wenn die Bedarfsplanung keine zusätzlichen Kassensitze vorsieht.

Maaß: Gerade im ländlichen Bereich passiert das in Teilen. Dort sieht man aber auch: Je geringer die Therapeutendichte, desto höher die Nachfrage. Das ist auch ein Beleg dafür, dass die Nachfrage nach Therapie eben nicht angebotsinduziert ist.

Liebner: Im ländlichen Bereich mag das so sein, aber mal ein Gegenbeispiel aus der Stadt: In Würzburg gibt es die meisten Kinder mit ADHS-Diagnose. Das liegt nicht daran, dass dort irgendetwas im Trinkwasser ist, sondern dass es dort die höchste Dichte an Kinder- und Jugendpsychiatern gibt. Wer als Ärztin oder Psychotherapeut arbeitet, muss Diagnosen vergeben. Und egal wie viele Therapeutinnen es geben wird: Wir werden nie alle Bedürfnisse erfüllen können. Wir können nur versuchen, den Druck etwas abzumildern.

Maaß: Zufriedenheit wäre ein vermessener Ansatz. Es geht mir darum zu sagen: Die Menschen, die in den Praxen anfragen, leiden oft massiv, und deshalb brauchen wir schon ein paar mehr Sitze, vor allem in ländlichen, strukturschwachen Regionen. Bei der Bedarfsplanung herrscht gefühlt ein wenig Basarstimmung: Es werden Gutachten erstellt, die am Ende nur ausgiebig berücksichtigt werden, wenn die Kostenkalkulationen stimmen und keine Umverteilungen stattfinden.

Man kann im Prinzip weiter so haushalten, aber dann muss man eben auch zugeben: „Wir lassen in Deutschland die psychisch Erkrankten bewusst warten.“ Es kann gute Gründe dafür geben – wir stecken das Geld lieber in die Gerätemedizin und gucken uns Bilder auf dem MRT an. Was ich sagen will: Es geht nicht darum, Zufriedenheit herzustellen, sondern zu überlegen, ob man der gewachsenen Nachfrage nachkommen will und wie schnell.

Liebner: Wichtig wären auch mehr Flexibilität und Effizienz in Bezug auf die Behandlungsdauer. In meiner Ausbildung zum Psychoanalytiker gab es keinen Anreiz, kurz zu behandeln. Von einer Patientin mit Prokrastination habe ich gelernt: Eine Aufgabe benötigt so viel Zeit, wie zu ihrer Erledigung zur Verfügung steht. Mit kürzeren Behandlungen könnten Ressourcen frei werden.

Maaß: Das ist Stimmungsmache ohne Zahlenhintergrund! 77 Prozent aller ambulanten Psychotherapien sind bereits Kurzzeittherapien, das bedeutet: maximal 24 Sitzungen lang. Das sind die Abrechnungsdaten. Man kann also wirklich nicht sagen, dass wir zu lange und nicht effizient genug behandeln.

Ich würde gerne noch auf den Vorwurf zu sprechen kommen, manche Erkrankten erhielten aufgrund ihrer Diagnose keinen Platz, zum Beispiel bei Schizophrenie oder schweren Persönlichkeitsstörungen. Behandelnde befassten sich lieber mit Störungen, bei denen man schnell gute Erfolge erzielen kann.

Liebner: Ich kann nur über meine individuelle Erfahrung sprechen. Ich arbeite gerne mit Patienten, die komplexe Persönlichkeitsstörungen haben.

Maaß: Insgesamt zeigt die Statistik: Es werden alle Diagnosen ungefähr in dem Verhältnis ihres Vorkommens behandelt. Richtig ist, dass Therapeuten durch die starren Strukturen manchmal behindert werden, wenn zum Beispiel chronisch Erkrankte über Jahre versorgt werden müssen. In der Verhaltenstherapie hat man zum Beispiel maximal 80 Sitzungen zur Verfügung.

Was ist mit sogenannten „Drehtürpatienten“, also solchen, die immer wieder kommen?

Maaß: Auch die können durch die bestehenden Vorgaben durchs Raster fallen. Mit anderen Worten: Wir brauchen flexiblere, längerfristige Behandlungsmöglichkeiten für chronisch psychisch Erkrankte.

Dr. Enno Maaß arbeitet als Psychologischer Psychotherapeut (Verhaltenstherapie) für Kinder, Jugendliche und Erwachsene in eigener Praxis in Wittmund. Daneben engagiert er sich in dem ­Bundesvorstand der Deutschen Psychotherapeuten-Vereinigung (DPtV).

Dr. Matthias Liebner, Facharzt für psychosomatische Medizin und Psychotherapie (Psychoanalyse, Sozialmedizin), ist als Gutachter beim Medizinischen Dienst Berlin-Brandenburg, als ärztlicher Psychotherapeut in der ambulanten Versorgung sowie als Dozent tätig.

Der Streit um die Kassensitze

Wie viele Kassensitze es für Psychotherapeutinnen und -therapeuten gibt, geht auf Berechnungen von 1999 zurück. Das damalige Verhältnis von Behandelnden zur Einwohnerzahl wurde zum Versorgungsmaßstab. Seither sind Kassensitze dazugekommen, aber zum Beispiel in den Kreisen Hof, Bayreuth und Bamberg gab es 2022 nur zwischen 10 und 11 psychologische Psychotherapeutinnen und -therapeuten je 100000 Einwohner, in München und Frankfurt dagegen knapp 100. Viele arbeiten in Teilzeit. Fast ein Drittel der Bevölkerung erkrankt im Leben mindestens einmal psychisch.

Quellen

Ulrike Böker, Gebhard Hentschel: Hohe Krankheitslast, bedarfsgerechte Versorgung. Deutsches Ärzteblatt PP, 03/2023, 103–107

Bundesministerium für Gesundheit: Seelische Gesundheit, Bonn 2015

Andrea Christoffer u.a.: Barrieren bei GruppenpsychotherapeutInnen gegenüber derambulanten Gruppenpsychotherapie zu Lasten der GKV. Ergebnisbericht Innovationsauschuss, Münster 2022

Cornelia Rabe-Menssen u.a.: Report Psychotherapie 2021. Deutsche Psychotherapeuten Vereinigung: Report Psychotherapie, Berlin 2021

Gemeinsamer Bundesausschuss: Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschussesüber die Durchführung der Psychotherapie. Bundesanzeiger 58, 2021

Kassenärztliche Bundesvereinigung: Statistische Informationenaus dem Bundesarztregister, Bundesgebiet insgesamt. Stand: 31.12.2022

Statistisches Bundesamt: Bevölkerung nach Nationalität und Geschlecht 1970 bis 2022 in Deutschland. Stand: 20.06.2023

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 10/2023: Raus aus der Erschöpfung