Mann und sensibel

Ein Gespräch mit dem Psychotherapeuten Tom Falkenstein über eine besondere Empfindsamkeit, die mit dem Ideal von Männlichkeit kollidiert

Herr Falkenstein, haben Sie aus dem Hemd, das Sie gerade tragen, das Etikett herausgeschnitten?

Ich habe es nicht herausgeschnitten, aber ich habe mir bewusst ein Hemd aus Baumwolle ausgesucht.

Ich frage das deswegen, weil ich bei Ihnen gelesen habe, dass das für Menschen mit Hochsensibilität von Vorteil sein kann.

Das ist ein Beispiel eines Klienten aus meinem Buch, der die Etiketten immer nach außen dreht, weil er das Etikett nicht gerne auf der Haut spürt.

Ein anderes Beispiel: Wie wäre es für Sie gewesen, wenn wir dieses Interview in, sagen wir, einem überfüllten Starbucks geführt hätten?

Ja, ich habe lange darüber nachgedacht, wo wir uns treffen. Ein Café wäre auch machbar gewesen, aber das hätte es für mich sehr viel anstrengender gemacht. Ich kann mich in einer ruhigen Umgebung besser konzentrieren und unterhalten.

Sensibilität der Haut und Unbehagen in lauter Umgebung sind zwei Beispiele für sensorische Empfindlichkeit, die eines der Merkmale der Hochsensibilität ist. Wie kommt es zu dieser Empfindlichkeit?

Was hochsensible Menschen auszeichnet, ist ein sensibleres Nervensystem. Dadurch werden Reize tiefer verarbeitet. Das bezieht sich etwa auf laute Geräusche, grelles Licht oder eine wuselige Umgebung, auf die ich als hochsensibler Mensch stärker reagiere.

Sensibilität hat umgangssprachlich mehrere Bedeutungen. Sie kann für besondere Empfindsamkeit stehen, aber auch für Fingerspitzengefühl im Umgang mit anderen. Was ist also genau mit Hochsensibilität gemeint?

Die Temperamentsforschung der vergangenen 50 Jahre hat gezeigt, dass sich Menschen bereits im Säuglingsalter darin unterscheiden, wie stark sie auf Reize in ihrer Umgebung reagieren. Elaine Aron, die das Konzept der Hochsensibilität zuerst beschrieben hat, nennt vier Indikatoren für Hochsensibilität: eine tiefe Informationsverarbeitung, eine damit einhergehende Tendenz zur Übererregung, emotionale Intensität, die positive wie negative Gefühle und eine hohe Fähigkeit zur Empathie miteinschließt. Und die eingangs erwähnte sensorische Empfindlichkeit.

Ich habe einige der dazu veröffentlichten Fragebögen selbst beantwortet. Dort wird etwa danach gefragt, ob man sich durch laute Geräusche gestört fühlt, ob man sich durch die Stimmung anderer beeinflussen lässt oder ob man sich bemüht, Fehler zu vermeiden. Je nach Tagesform habe ich mal fast alles und dann wieder fast nichts mit „Ja“ beantwortet. Diese Tests stützen sich ausschließlich auf Selbsteinschätzungen. Wie kann man feststellen, ob jemand wirklich hochsensibel ist?

Oft kommen Leute zu mir in die Beratung, die von dem Konzept gehört haben und nun glauben, dass sie hochsensibel sind. Wir gehen allerdings davon aus, dass Hochsensibilität eine Temperamentseigenschaft ist und eine neurophysiologische Grundlage hat. Deshalb müssen die vier genannten Indikatoren der Hochsensibilität von Kindheit an beobachtbar sein und sich durch das Leben ziehen.

Wir müssen das von sensiblen Phasen unterscheiden, die etwa aufgrund der Tagesform, depressiven Phasen oder ängstlichen Lebensabschnitten auftreten. Dann kann man, etwa gemeinsam mit einem Therapeuten, der sich damit auskennt, schauen, ob es diese Sensibilität und die anderen genannten Kriterien seit der Kindheit gibt. Ist es etwas, dass sich durchs Leben zieht? Oder tritt es nur in dem Moment auf, in dem ich vielleicht depressiv bin, ohne es selbst zu bemerken?

Sie lassen das Konzept in Ihrem Buch – bei allen damit verbundenen Nachteilen – sehr attraktiv aussehen. Hochsensible Menschen sind demnach einfühlsam, sind nicht so profitorientiert wie andere, sie haben – so lese ich – sehr intensiven Sex. Ist es da ein Wunder, dass sich viele Menschen gern darin wiederfinden würden?

Ich fände es schwierig, wenn man Hochsensibilität zu etwas erhebt, das dem eigenen Narzissmus dient, nach dem Motto: „Weil ich so sensibel bin, bin ich so besonders. Für mich gelten andere Regeln.“ Hochsensibilität ist eine neutrale Temperamentseigenschaft. Daraus sollte kein exklusiver Club oder Lifestyle gemacht werden. Es ist aber wichtig, zu betonen, dass hochsensible Menschen von positiven Erfahrungen besonders profitieren.

Hochsensible Kinder, von denen man früher vielleicht gesagt hätte, dass sie schwierig sind, profitieren überdurchschnittlich von einer guten Beziehung zu ihren Eltern. Die haben dann später etwa bessere Noten und sind sozial kompetenter. Ich wollte beide Seiten beleuchten: die Herausforderungen und die Bereicherungen, also die Frage, wie man einen Nutzen daraus ziehen kann, sehr empfindsam zu sein.

Ist das für Sie auch ein persönlicher Entwicklungsprozess gewesen, in dem Sie versucht haben, sich die positive Seite Ihrer Hochsensibilität selbst klarzumachen?

Ich glaube, dass ich darüber vorher nie nachgedacht hatte. Sensibilität wird in unserer Gesellschaft oft negativ gesehen. Man gilt als Mimose, als überempfindlich. Erst als ich anfing, über Hochsensibilität zu lesen, wurde mir klar, dass das auch etwas Positives sein kann.

Was hat sich dadurch in Ihrem Leben verändert?

Es hilft dabei, eigene Reaktionen besser zu verstehen. Außerdem erscheint es mir wichtig für die Selbstfürsorge und die Lebensplanung. Das hat ja auch angenehme Aspekte.

Arbeiten Sie jetzt weniger?

Nun, ich überlege mir, wie viele Patienten ich am Tag sehe, wie viele Pausen ich zwischen den Sitzungen mache. Ich frage mich beispielsweise auch, ob ich mitten im Getümmel wohne oder dort, wo es etwas ruhiger ist.

Das Konzept der Hochsensibilität ist ja bereits an anderen Stellen beschrieben worden. Wie kamen Sie auf die Idee, ein eigenes Buch zu schreiben, das sich speziell mit Männern beschäftigt?

Ich habe mehrere Jahre in London gelebt und gearbeitet. Damals hatte ich viele junge Männer in Behandlung, die alle in ihren Sitzungen beklagten, seit ihrer Kindheit „zu sensibel“ zu sein, und deshalb mit ihrer Männlichkeit haderten. Ihnen fiel es sehr schwer, Männlichkeit und Sensibilität in sich als etwas Positives zu vereinen.

Ich habe nach etwas gesucht, das diesen jungen Männern helfen konnte, die eigene Sensibilität weniger negativ zu bewerten. Dabei stieß ich auf Bücher zur Hochsensibilität, ein Konzept, das ich bis dahin gar nicht kannte. Diese Bücher schienen sich jedoch in erster Linie an Frauen zu richten. Das wollte ich ändern. Obwohl ich mir natürlich wünsche, dass auch Frauen mein Buch lesen werden.

Welche besonderen Schwierigkeiten haben denn hochsensible Männer, auch im Unterschied zu Frauen?

Ich möchte nicht zu sehr verallgemeinern, aber ich glaube, dass Sensibilität kein Teil des männlichen Ideals ist, mit dem wir aufwachsen. Selbst gut situierte, gut ausgebildete, im kosmopolitischen London aufgewachsene Männer sahen ihre hohe Empfindsamkeit nicht als positiven Teil ihrer Persönlichkeit. Sensibilität wird eher bei Frauen als bei Männern akzeptiert. Diese Jungen hatten das Gefühl, anders zu sein, erlebten früh Ausgrenzung, weil sie emotionaler waren als andere.

In diesem Zusammenhang sprechen Sie in Ihrem Buch von einer „Männlichkeitskrise“. Was meinen Sie damit?

Männer begehen häufiger Suizid als Frauen, leiden häufiger an Suchterkrankungen, erkranken öfter an Krebs, sterben früher. Sie geraten häufiger mit dem Gesetz in Konflikt. Ich glaube, dass es Männern häufig nicht gutgeht und dass wir als Männer uns oftmals mit unserer Gesundheit und Rolle nicht auseinandersetzen.

Wie könnte dann das Konzept der hochsensiblen Männer dazu beitragen, diese Krise zu lösen?

Indem hochsensible Männer authentisch mit ihrer Veranlagung umgehen und dadurch Sensibilität und Emotionalität bei Männern enttabuisieren. Sie stellen ganz automatisch das sehr rigide Männerbild der Gesellschaft infrage. Wenn ein hochsensibler Mann einem nicht hochsensiblen mit Akzeptanz begegnet und dem vermittelt, dass es in Ordnung ist, aufgeregt oder emotional zu sein, dann kann das sehr viel bewirken.

Ist das Konzept der Hochsensibilität dazu wirklich notwendig? Könnten Sie nicht dasselbe erreichen, wenn Sie sagen, alle Männer sollten mehr Rücksicht auf ihre sensiblen Seiten nehmen?

Ja, ich glaube, dass Sie da recht haben. Es wäre auch gut, wenn Frauen Empfindsamkeit in ihren Partnern, in ihren Söhnen, ihren Brüdern und Vätern begrüßen. Es geht auch darum, wie wir Jungen erziehen.

Der Spruch „Ein Indianer kennt keinen Schmerz“ wäre da vermutlich kontraproduktiv?

Genau. Ich denke zum Beispiel an einen Vater, der – urban wohnend und liberal denken, trotzdem große Probleme damit hat, dass der zweijährige Sohn sensibel und schüchtern ist und nicht Fußball spielen mag. Da gibt es noch viel zu tun.

Als konkrete Hilfe für hochsensible Männer nennen Sie im Buch etwa vermehrte Pausen, Achtsamkeit für die eigene Befindlichkeit, sich selbst als hochsensibel anzunehmen. Beschweren sich Partner und Angehörige nicht manchmal, wenn die Betroffenen schon wieder eine Auszeit ­wollen?

Letztlich hat der Partner ja auch etwas davon, wenn der hochsensible Partner nicht ständig übererregt ist oder sich überemotional fühlt und stattdessen einen Weg findet, sich gut zu fühlen. Gleichzeitig glaube ich aber auch, dass es nicht nur darum geht, sich rauszuziehen, sondern auch zu schauen, wie man seine Emotionen und Übererregung regulieren kann. Etwa indem man seine Gefühle benennt, indem man sie verstehen lernt. Und sie auch manchmal aushält.

Man sollte Vertrauen haben, dass man das aushalten kann, auch wenn es einem gerade nicht angenehm ist. Hochsensibilität ist etwas, das nie weggehen wird, weil man immer schnell erregt sein wird.

Vor welche besonderen Herausforderungen und Aufgaben stellen Hochsensible Therapeuten in der Behandlung?

Als Therapeut sollte man das Konzept und die Forschung dazu kennen und eine innere Haltung zu diesem Thema entwickeln. Und es ist wichtig, gemeinsam mit dem Klienten zu schauen, ob wirklich Hochsensibilität vorliegt. Wenn zusätzlich eine psychische Störung vorliegt, dann hat diese in der Therapie Priorität.

Umgekehrt muss nicht jeder Hochsensible eine Therapie machen. Viele leben ja sehr gut mit ihrem sensiblen Nervensystem. Oft geht es nur um eingegrenzte Bereiche. Ich habe beispielsweise gerade eine hochsensible Klientin, bei der es lediglich darum geht, wie sie damit an ihrem Arbeitsplatz zurechtkommt.

Ich habe mit verschiedenen Therapeuten gesprochen, die weniger angetan von dem Konzept waren, weil es zu viele Verhaltens- und Erlebnisweisen als unveränderlich festschreibt, eben weil Hochsensibilität als biologisches Phänomen gilt. Statt Veränderungsmöglichkeiten aufzuzeigen, lege es die Betroffenen fest. Was antworten Sie diesen Therapeuten?

Ich glaube, dass es relativ viele Veränderungsmöglichkeiten gibt. Man kann sein Verhalten ändern. Ich kann verändern, wie ich zu mir und meinen hochsensiblen Anteilen stehe. In einer Studie mit hochsensiblen Mädchen haben diese auf therapeutische Interventionen besser reagiert als nicht hochsensible.

Hochsensible reagieren stärker auf Positives wie auch auf Negatives, in einer Therapie etwa auf Psychoedukation oder auf die Interaktion mit einem Therapeuten. Auf der anderen Seite ist es aber auch wichtig, zu schauen, welche Temperamentseigenschaften der Klient mitbringt. Wenn jemand seit seiner Kindheit zurückhaltend ist, muss man das berücksichtigen.

Wir leben in einer Informations- und Mediengesellschaft. Wir sind ständig online und erreichbar. Viele Menschen sehnen sich nach Entschleunigung, leiden unter Stress und spüren diesen auch körperlich. Sind wir dabei, allesamt hochsensibel zu werden?

Nein, etwa 20 bis 30 Prozent aller Menschen sind hochsensibel. Gleichzeitig sind aktuell viele Menschen ständig überreizt und das Thema ist vielleicht deshalb in aller Munde. Die Leute fühlen sich überreizt und gestresst und stoßen dann bei ihren Recherchen im Internet auf das Konzept der Hochsensibilität.

Ist die Gesellschaft an einem Punkt, an dem man mit der Biologie argumentieren muss, um sich zurückziehen zu dürfen und Rücksichtnahme zu erfahren?

Ich weiß nicht, ob die Biologie unbedingt ein Grund sein muss. Mir ist wichtig, dass Leute sich zurückziehen, wenn sie merken, dass es für sie zu viel ist.

Die Gesellschaft könnte also besser werden, wenn auf Sensibilität mehr Rücksicht genommen würde?

Elaine Aron sagt etwa, dass Hochsensible besonders gut darin sind, Lösungen zu finden. Ich glaube, dass ein sensibler Mann, der empathisch ist, zur Zeit sehr gebraucht wird, gerade auch wenn man auf politische Veränderungen schaut. Ein hochsensibler Politiker würde beispielsweise erst einmal zuhören und nicht gleich impulsiv lostwittern. Das würde dabei helfen, zu entschleunigen und die Dinge etwas abzukühlen.

Elaine Aron sagt in Ihrem Buch auch, dass sie zwar mit ihrem Ehemann ganz zufrieden sei, sich aber einen hochsensiblen Mann aussuchen würde, wenn sie noch einmal wählen könnte. Ist das nicht selbst ziemlich unsensibel?

Im Gespräch, das ich mit ihr geführt habe, wirkte diese Aussage nicht unsensibel. Das unterstreicht noch mal, dass Hochsensible nicht die besseren Menschen sind. Sie sind auch manchmal unsensibel oder gereizt oder genervt. Und tun eben gelegentlich Dinge, die alles andere als sensibel sind.

Tom Falkenstein arbeitet als Psychologischer Psychotherapeut in Berlin und London. 2015 gründete er das European Centre for High Sensitivity. Sein Buch Hochsensible Männer. Mit Feingefühl zur eigenen Stärke erschien 2017 bei Junfermann

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