Frau Konrad, was verstehen Sie unter Hochsensibilität? Ist Hochsensibilität eine neurologische Störung oder eher ein Persönlichkeitsmerkmal?
Zunächst einmal: Hochsensibilität ist keine psychische Störung und erst recht keine Krankheit, es handelt sich lediglich um eine Besonderheit der Reizverarbeitung. Das bedeutet aber nicht, dass Hochsensible immer seelisch gesund sind: Genau wie andere Menschen können auch Hochsensible psychisch erkranken. Hochsensibilität und eine seelische Krankheit können also…
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können auch Hochsensible psychisch erkranken. Hochsensibilität und eine seelische Krankheit können also zusammen auftreten.
Der Begriff Persönlichkeitsmerkmal scheint mir in diesem Zusammenhang nicht ganz präzise, weil zu weit gefasst. Nach der Lehrmeinung wird die Persönlichkeit eines Menschen sowohl vom Temperament als auch von der Umwelt und seinen Erfahrungen geprägt. Zu den Umwelteinflüssen zählen wir Lebensereignisse, soziale Unterstützung, elterliches Erziehungsverhalten und chronische Umweltbedingungen. Ich schätze die Hochsensibilität, wie Elaine N. Aron auch, eher als Teil des Temperaments ein: Darunter verstehen Psychologen die konstitutionsgebundenen Eigenschaften eines Menschen, die sich aus genetischen und pränatalen Faktoren zusammensetzen. Das Temperament bestimmt unter anderem unseren Umgang mit Gefühlen, die Stärke des Antriebs, die Kontrollfähigkeit. Das Temperament ist also bereits in unseren Anlagen angelegt. Und es handelt sich um einen sehr stabilen Ausdruck unserer Persönlichkeit: Es zeigt sich in allen Lebenssituationen in ähnlicher Weise und bleibt im Laufe unseres Lebens eher beständig. Allerdings muss ich hier anmerken: Mit zunehmendem Alter nimmt auch die Sensibilität eines Menschen zu.
Wie kommt die höhere Reizempfindlichkeit der Hochsensiblen genau zustande?
Leider existiert bislang keine anerkannte neurophysiologische Theorie, welche die Ursache der Hochsensibilität beschreibt. Wir gehen derzeit von einer speziellen genetisch bedingten Konstitution der reizverarbeitenden neuronalen Systeme aus, bei der Reize anders als bei der Mehrheit der Menschen verarbeitet werden. Darauf deuten insbesondere Zwillingsstudien hin: Dort entdeckte man, dass genetisch identische Menschen, also eineiige Zwillinge, offenbar in gleichem Maße sensibel auf Reize reagieren.
Warum diese Reize aber stärker wahrgenommen werden, ist noch nicht abschließend geklärt. Derzeit werden verschiedene mögliche Ursachen diskutiert: Man nimmt zum einen an, dass bei Hochsensiblen Reize grundsätzlich weniger gedämpft oder gefiltert werden könnten. Für so eine „Dämpfung“ sind bestimmte Hirnstrukturen und Neuronenverbünde verantwortlich. Sind sie bei Hochsensiblen weniger stark ausgeprägt, wäre das ein Grund, warum HSPler, wie wir sie auch in Anlehnung an die englische Bezeichnung highly sensitive persons nennen, mehr wahrnehmen als andere Menschen.
Zum anderen wäre es möglich, dass das Nervensystem der Hochsensiblen mehr Reize als „bedeutsam“ einstuft. Dies könnte der Grund sein, warum mehr dieser Stimuli überhaupt in das Bewusstsein dieser Menschen gelangen. Und schließlich kommt eine erhöhte Aktivität des Thalamus als Ursache infrage. Aron hat viele Phänomene von Hochsensiblen beschrieben, die hirnorganisch mit dem Hypothalamus zusammenhängen, wie ein erhöhter Kortisolspiegel, stärkere Empfindlichkeit gegenüber Schlafmangel, Koffein, Hunger- und Durstgefühlen.
In diesem Zusammenhang kommen meiner Meinung nach auch pränatale Einflüsse infrage. Der Hypothalamus ist quasi der „Gefühlsregler“ in unserem Körper. Ist er zu hoch oder zu niedrig eingestellt, können er oder die zugehörigen Prozesse nicht reibungslos funktionieren. Es gibt in mehreren Studien Hinweise darauf, dass besonderer Stress in der Schwangerschaft sich ungünstig auf die Hypothalamusentwicklung des ungeborenen Kindes auswirkt. Auch eine kindlich emotionale Anfälligkeit für Angst und Nervosität kann auf pränatale Ursachen zurückgeführt werden, und diese haben wiederum Einfluss auf unser Temperament.
Warum ist Hochsensibilität so schwer zu diagnostizieren?
Zum einen fehlen die diagnostischen Instrumente. Zwar sind im Internet einige Fragebögen verfügbar, aber diese basieren in der Regel auf Selbsteinschätzungen von Betroffenen, sie sind nicht wissenschaftlich geprüft. Wir arbeiten derzeit an einer Validierung einer deutschen Übersetzung des Fragebogens zur Hochsensibilität von Elaine Aron.
Zum anderen sind Störfaktoren ein Problem, wenn man Hochsensibilität bei einem Menschen feststellen möchte. Wenn jemand beispielsweise akut an einer Depression oder unter Ängsten leidet, kann das zu einer Verstärkung der Sensibilität führen, denn mit diesen psychischen Störungen verändert sich unsere Wahrnehmung. Andersherum könnte auch die hohe Sensibilität eines Menschen verdeckt werden, weil eine psychische Krankheit stark im Vordergrund steht. Allgemeiner ausgedrückt: Wenn jemand an einer seelischen Störung leidet, wird die Ausprägung der Hochsensibilität verzerrt – in die eine oder andere Richtung. Wir können dann nicht wissen, wie es wäre, wenn es der Person gutginge.
Sind denn viele Hochsensible gleichzeitig seelisch belastet?
Wir finden in unseren Studien, dass HSPler tatsächlich häufiger von psychischen Symptomen berichten. Ein Grund mag sein, dass Hochsensible häufig wegen ihrer Besonderheiten stigmatisiert und eher geringgeschätzt werden. Die Betroffenen erleben das verständlicherweise als sehr kränkend. Neben dieser Abwertung durch andere Menschen kommt noch eine negative Selbsteinschätzung hinzu: Wenn Hochsensible sich mit anderen vergleichen, empfinden sie sich oft als unzulänglich.
Oft liest man, dass Menschen sehr erleichtert sind, wenn sie vom Phänomen der Hochsensibilität erfahren und sich selbst als hochsensibel einordnen, warum ist das so?
Weil diese Menschen damit etwas gefunden haben, womit sie sich identifizieren können. Etwas, das ihnen hilft, sich selbst besser zu verstehen. Viele setzen sich dann ausführlich mit der Hochsensibilität auseinander und lernen, sich besser zu strukturieren und bestimmte Dinge zu ändern – beispielsweise besser auf sich zu achten, indem sie sich Rückzugsräume zugestehen.
Es gibt aber auch viele Menschen, die keine Kenntnis von ihrer Hochsensibilität besitzen, weil sie keinen Leidensdruck haben und damit gut zurechtkommen oder weil sie von diesem Phänomen noch gar nichts gehört haben. Und wieder andere wollen vielleicht nicht zugeben, dass sie hochsensibel sind, weil sie fürchten, stigmatisiert zu werden. All diese Aspekte führen zu verzerrten Daten in Bezug auf Hochsensible, da wir Forscher nie alle Menschen dieser besonderen Reizverarbeitung erreichen.
Sie beschäftigen sich intensiv mit der Hochsensibilität. Woran forschen Sie gerade?
Ich führe derzeit um die 20 Studien zur Hochsensibilität durch. Dazu untersuche ich unter anderem soziale und emotionale Aspekte von HSP, aber wir schauen auch, inwieweit die Persönlichkeit eine Rolle spielt. Ich kann hier leider nicht ausführlicher über unsere Experimente sprechen, denn sonst könnten alle, die dies lesen, nicht mehr an den Studien teilnehmen. Diese Experimente leben davon, dass die Versuchsteilnehmer nicht genau wissen, worum es bei einer bestimmten Aufgabe geht. Sonst könnten sie die Ergebnisse – willentlich oder unbewusst – beeinflussen. Aber so viel kann ich sagen: Wir führen eine Eye-Tracking-Studie durch, in der wir festhalten, wohin Menschen beim Betrachten bestimmter Bilder genau schauen und wie sie diese Bilder bewerten. Alle unsere Studien dienen der wissenschaftlichen Überprüfung der deutschen Version des Fragebogens zur Hochsensibilität. Und sämtliche Studienergebnisse sollen schließlich in einem Modell zusammengefasst werden. Dies soll helfen, zu einem besseren Verständnis von HSPlern beizutragen.
Welche Erkenntnisse haben Sie bislang aus Ihren Studien gewonnen?
In einer unserer Studien zum Annäherungs- und Vermeidungsverhalten stellte sich heraus: Mit Zunahme der Sensibilität ist auch das sogenannte Verhaltensinhibitionssystem (behavioral inhibition system, kurz: BIS) stärker aktiviert. Das BIS ist eine neuroanatomische Struktur, die zur Verhaltenshemmung führt. Wir nehmen daher heute an: Die höhere Verhaltenshemmung bei HSPlern führt zu einem dauerhaft erhöhten Erregungsniveau der Betroffenen. Und dieses höhere Erregungsniveau verstärkt wiederum die wahrgenommene Intensität von Reizen, es führt zu einer erhöhten Wahrnehmung und auch zu stärkerer Angst.
Es könnte auch so sein: Ein höheres BIS verstärkt die Reizwahrnehmung, und dies führt zu einer erhöhten Erregung. Diese setzt dann wiederum die Reizschwelle für dieses System herunter, wodurch noch mehr Reize wahrgenommen werden.
Manche Experten sehen einen Zusammenhang von Hochsensibilität und ADHS. Was meinen Sie dazu?
Ich habe diesen Zusammenhang im Rahmen meiner Dissertation untersucht, und es konnte ein positiver Zusammenhang zwischen ADHS und Hochsensibilität festgestellt werden. Spannend war aber Folgendes: Ein wichtiges Merkmal von Menschen mit ADHS ist, dass es Betroffenen schwerfällt, ihre Aufmerksamkeit zu steuern. Diese Schwierigkeit, sich beispielsweise über längere Zeit auf eine Sache zu konzentrieren, fanden wir mit Zunahme der Sensibilität auch: Es betraf aber ausschließlich negative Reize – also nicht Empfindungen, die Menschen gemeinhin als angenehm empfinden, wie feine Düfte, Klänge, Kunstwerke.
Gibt es andere Zusammenhänge, die Sie vermuten? Könnte es auch sein, dass Hochsensibilität mit bestimmen Eigenschaften, Krankheiten oder frühen einschneidenden Erlebnissen einhergeht?
Im Zuge unserer Studien berichten Betroffene tatsächlich häufig über Traumatisierungen in der Vergangenheit. Viele geben auch an, an körperlichen Erkrankungen wie einer Schilddrüsenstörung oder einer Fibromyalgie zu leiden. Hier muss man aber vorsichtig sein, denn bei diesen Angaben handelt es sich um Selbsteinschätzungen der Betroffenen, die nicht durch einen Mediziner bestätigt wurden.
Was hat Hochbegabung mit Hochsensibilität zu tun?
Wahrscheinlich weniger, als viele annehmen. Man bezeichnet einen Menschen dann als hochbegabt, wenn sein Ergebnis in einem standardisierten Intelligenztest mindestens zwei Standardabweichungen über dem Mittelwert aller Getesteten liegt. Insofern sind Hochbegabte per definitionem selten, man spricht von etwa 2,2 Prozent der Menschen. Demgegenüber gehen wir aber derzeit davon aus, dass rund 15 bis 20 Prozent der Menschen hochsensibel sind. An diesen Zahlen sehen wir schon, dass nicht jeder HSPler hochbegabt sein kann.
Wer mehr zum Thema lesen möchte, findet auf der Seite www.hochsensibel.org grundlegende Informationen und eine gutsortierte Literaturliste, die auch wissenschaftliche Publikationen zum Thema beinhaltet.
Sandra Konrad ist Diplompsychologin und wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Helmut- Schmidt-Universität Hamburg. Dort forscht sie zum Thema Hochsensibilität und höhere sensorische Verarbeitungssensitivität. Für ihre Studien zu verschiedenen Aspekten der Hochsensibilität sucht Sandra Konrad noch Studienteilnehmer. Interessierte schreiben bitte an:hsp-studien@hsu-hh.de.