Epidemie der Rückenschmerzen: Wann wird operiert?

80% der Operationen sind überflüssig, meint Rückenspezialist Martin Marianowicz im Interview zur deutschen Epidemie des Rückenleidens.

Die Grafik zeigt einen Mann in Rückenansicht und seine Wirbelsäule leuchtet
Von brennenden Rückenschmerzen gequält, trifft man vielleicht voreilige Entscheidungen. Ab welchem Punkt operiert wird, soll gut überlegt sein. © SEBASTIAN KAULITZKI/SCIENCE PHOTO LIBRARY/Getty Images

Rückenschmerzen sind eine Volkskrankheit, in Deutschland der zweithäufigste Grund für einen Arztbesuch. Was sind die Ursachen dieser Schmerzepidemie? Oder hatte der Mensch schon immer Probleme mit seinem Rücken – seit er aufrecht geht?

Der aufrechte Gang hat nichts mit dem Problem zu tun! Die Wirbelsäule ist ein einzigartiges Gebilde, selbsterhaltend und wunderbar funktional. Ohne den aufrechten Gang wären wir ja nie so weit in der Evolution gekommen – erst dadurch entwickelten wir die Sprache, das…

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aufrechten Gang wären wir ja nie so weit in der Evolution gekommen – erst dadurch entwickelten wir die Sprache, das Freiwerden der Hände ermöglichte den Werkzeuggebrauch und vieles mehr.

Aber es gibt einige Faktoren, die das massenhafte Entstehen von Rückenschmerzen befördern. Vor allem anderen: Unsere Wirbelsäule funktioniert nur dann optimal, wenn sie ausreichend bewegt wird. Das ganze System Rücken hängt von der Stabilität der Knochen und der Ernährung der Bandscheiben ab.

Wenn wir zunächst die „unspezifischen Rückenbeschwerden“ ausklammern und nur die echten organischen Befunde betrachten, dann ist die Degeneration, also der Verschleiß der Bandscheiben die Basis aller später daraus resultierenden Erkrankungen. Auch die Spinalkanalstenose (Verengung des Wirbelkanals) des älteren Menschen ist im Grunde nichts anderes als die Folge einer jungen Bandscheibendegeneration.

Was genau meinen Sie mit der „Ernährung“ der Bandscheibe?

Die Bandscheiben funktionieren wie eine Art Schwamm – durch Aufsaugen und Auspressen von Flüssigkeit. Und wenn man sich viele Stunden lang nicht bewegt, hat man in dieser Zeit den Stoffwechsel der Bandscheibe gefährlich reduziert. Das ist das Einfallstor für die Degeneration.

Und die Bandscheiben sind unterernährt – weil wir uns zu wenig bewegen?

Ja. Unsere Lebensweise ist buchstäblich rückenzerstörend geworden. Das beginnt schon bei den Kindern, die nicht mehr wie früher in Hof oder Garten oder im Wald herumtollen und sich viel bewegen. Erst sitzen sie stundenlang in der Schule still auf ungeeigneten Stühlen, und das Lernvolumen und damit die Stillsitzdauer nimmt ja noch zu.

Danach legen sie sich auf die Couch und chatten, telefonieren, oder sie sitzen vor Bildschirmen sind „unterwegs“ bei Facebook, YouTube oder Videospielen oder was auch immer. Oder sie schreiben sich E-Mails. Die Nichtbewegung setzt sich fort im Erwachsenenleben: raus aus der Wohnung, rein in den Lift, rein ins Auto, rein ins Büro, acht Stunden am Computer, abends dann in den Fernsehsessel.

Harte körperliche Arbeit ist doch auch nicht gerade rückenfreundlich, oder?

Für den Rücken ist es jedenfalls besser, Ziegel zu schleppen, als acht oder zehn Stunden nur zu sitzen.

Es gibt heute aber auch immer mehr Menschen, die sich exzessiv bewegen, als Extremsportler, Marathonläufer, Fitnessfreaks. Stellen diese einen wesentlichen Anteil an den Rückenerkrankungen?

Nein, das tun sie nicht! Wenn man es einigermaßen vernünftig macht, kann man den Rücken gar nicht genug bewegen. Wir sind die längste Zeit unserer Geschichte Sammler und Jäger gewesen, immer auf den Beinen, immer unterwegs. Dafür ist die Wirbelsäule gemacht.

Natürlich gibt es Grenzen, Bungee-Jumping oder Freestyle-Skiing mit Überschlägen – da muss der Rücken schon leiden. Aber sonst gilt: Ob jemand rudert, im Fitnesscenter trainiert oder im Wald läuft – jede Form der Bewegung ist besser als keine Bewegung.

Ist nur der Bewegungsmangel in Arbeit und Freizeit schuld an den massenhaften Rückenschmerzen?

Es kommt noch etwas hinzu, was gerade für die unspezifischen Rückenerkrankungen gilt und was unter der Rubrik „das Kreuz mit der Psyche“ zwar angesprochen, aber doch sträflich ignoriert wird: nämlich der wachsende Druck, die Überforderung in vielen Arbeits- und Lebenssituationen, der anhaltende Stress.

Auch die psychisch bedingten Rückenleiden kosten enorme Summen. Wir können den Rücken, seine Bedürfnisse und Schädigungen nicht richtig wahrnehmen, wenn wir nicht beachten, dass wir auf dem Hals unseren Kopf haben.

Sie sprechen in diesem Zusammenhang von dem „Achsenorgan Wirbelsäule“ …

… weil die Wirbelsäule die Verbindung vom zentralen Nervensystem zur Körperperipherie darstellt. Und das betrifft nicht nur das Mechanische, das Neuronale, sondern auch die Psyche.

Alles, was sich „oben“ – also in Gedanken – oder „innen“, in der Psyche abspielt, manifestiert sich auch in der Peripherie: erhöhter Tonus, Verspannungen, Stress. Das erzeugt Schmerzen, und das verändert die Schmerzwahrnehmung, die in bildgebenden Verfahren nicht nachgewiesen werden können.

Der Rücken wird also sehr häufig zum Austragungsort einer Somatisierung?

Ja. Ich denke, dass er das Organ ist, an dem am häufigsten somatisiert wird. Es ist unsere Hauptachse, an ihm hängt buchstäblich und metaphorisch alles. Und er ist unser wichtigstes Übertragungsorgan. Die meisten Nerven und Muskeln enden oder beginnen dort. Deshalb ist der Rücken besonders empfänglich für alle An- und Verspannungen.

Rückenschmerzen sind außerdem nichts Exotisches, man muss nicht herumrätseln, jeder versteht und akzeptiert sofort, dass einem der Rücken wehtun kann: Nackenschmerzen, Kopfschmerzen, Rückenschmerzen. Und: Es ist schwer messbar. Beim Rücken wird von der Umwelt am ehesten akzeptiert, dass man nicht immer einen klaren körperlichen Befund hat. Oder auch umgekehrt: Dort lässt sich immer etwas finden.

Wie verteilen sich die organisch bedingten Rückenschmerzen und die unspezifischen Rückenprobleme, für die kein Befund erkennbar ist?

Die Zahlen sind nicht belastbar, ob es nun 60 zu 40 oder 50 zu 50 sind. Es kann ja sein, dass manche als unspezifisch diagnostizierten Erkrankungen nicht richtig diagnostiziert wurden. Andererseits gibt es viele nichtorganische Ursachen. Und dann spielt eine entscheidende Rolle: Was ist die Diagnose der Wahl? Welche Tools, welche technischen Möglichkeiten werden für die Diagnose eingesetzt?

Hier beginnt das Grundproblem unserer Rückenbehandlung: Wir sind im deutschen Versorgungssystem komplett darauf gepolt, irgendwelche mechanischen Ursachen zu finden. Das beginnt schon mit der völlig sinnlosen Röntgenaufnahme. In jeder Praxis, in die Sie mit Rückenschmerzen gehen, werden Sie als Erstes geröntgt. Obwohl wir aus der Forschung ganz genau wissen, dass es überhaupt keine Korrelation dieser Aufnahmen mit dem Schmerz gibt. All diese Kringel und Kreise, die dann auf dem Bild gemacht werden, sagen im Grunde nichts aus. Das bestätigt die Forschung wieder und wieder. Ganz zu schweigen davon, dass wir mit dieser übertriebenen Röntgerei etwa 2000 Leukämiefälle pro Jahr in Deutschland schaffen. 

Was ist mit der Kernspintomografie?

Die ist oft sinnvoller und nicht so belastend. Aber sie ist auch teuer. Selbst diese Methode bringt jedoch in vielen Fällen keine wirkliche diagnostische Klarheit. In einer Studie der amerikanischen Ärztegesellschaft haben zehn Spezialisten die Kernspinbilder von 200 Rückenpatienten zur Beurteilung vorgelegt bekommen. Die Spezialisten sollten nur aufgrund der Bilder beurteilen, ob die Patienten Rücken- oder Ischiasbeinschmerzen haben, und welche Art von Schmerzen.

Die Trefferquote lag unter 15 Prozent. Das heißt: Am Bild allein können Sie höchstens eine Diagnose bestätigen, die Sie auf anderem Wege gewonnen haben. Das Bild allein sagt gar nichts aus. Mit zunehmendem Alter findet man auch bei schmerzfreien Menschen immer mehr Veränderungen, bei 70-Jährigen zu 92 Prozent Bandscheibenvorfälle und zu 30 Prozent Spinalkanalstenosen.

Und wie stellen Sie die richtige Diagnose, wenn die bildgebenden Verfahren so wenig aussagen?

Vor allem durch das Gespräch. Und da sind wir beim zweiten großen Problem unserer Rückenbehandlung. Für das ausführliche diagnostische Gespräch, für die Anamnese ist meist keine Zeit, und sie wird auf die vermeintlich sichere apparative Diagnostik verschoben. Ob ein Patient einen Bandscheibenvorfall oder eine Spinalkanalstenose hat oder ob er an Schulter- oder Halswirbelbeschwerden leidet, kann ich nur durch gezielte und ausführliche Fragen herausfinden – nie durch das Bild.

Diese Fragen sind nicht kompliziert, sie sind eigentlich immer dieselben, und selbst eine fachfremde Person könnte das abfragen: Ist Sitzen schmerzfrei, ist Liegen schmerzfrei? Liegen Sie gerne mit angezogenen Beinen im Bett, können Sie mit gestreckten Beinen gut liegen? Können Sie ohne Schmerzen husten, niesen, pressen? Tut das rechte oder linke Bein weh? Zieht es mehr hinten, seitlich oder vorne im schmerzenden Bein? Fühlt sich die Fußsohle pelzig an? Und so weiter.

Nach all diesen Fragen kann ich mit einer höchsten Wahrscheinlichkeit sagen, was dem Patienten fehlt. Aber diese Herangehensweise ist in unserem System fast völlig verschwunden zugunsten der Apparate.

Aber Sie diagnostizieren auch mit den Händen, Sie tasten den Rücken ab?

Auf das Befragen folgt die körperliche Untersuchung. Diese beiden Vorgehensweisen, Anamnese und körperliche Untersuchung, machen eigentlich die ärztliche Kunst aus. Und das kommt in einem System, das ganz auf das Tun ausgerichtet ist und nicht auf das Reden, zu kurz. Alles wird auf die bildgebenden Verfahren gesetzt.

Und dann wird auf dieser schmalen diagnostischen Basis auch viel zu schnell und zu oft operiert. Sie schreiben in einem Ihrer Bücher, 80 Prozent der Operationen seien überflüssig.

Ja, es gibt einen engen Zusammenhang zwischen der Fixierung auf Bilder, der Suche nach organischen Ursachen und einer steigenden Zahl von Operationen. Die Amerikaner haben versucht, die überbordenden OP-Zahlen zu reduzieren: Sie bezahlen bei unkomplizierten Rückenschmerzen keine Kernspintomografie mehr vor der sechsten Woche.

Wenn ein 25-Jähriger oder von mir aus auch ein 60-Jähriger zu mir kommt, der seit drei Wochen Rückenschmerzen hat, nehmen wir mal an mit einem Vorfall oder einer Formenstenose L5 auf der linken Seite: Was bringt mir da eine Röntgen- oder eine CT-Aufnahme? Und ich würde den Patienten doch auf keinen Fall nach drei Wochen Schmerzen zur OP schicken.

Wenn ich ohnehin gewillt bin, den Patienten konservativ zu behandeln, dann brauche ich in der ersten Stufe der Behandlung kein Bild. Erst wenn mein Therapieschema nicht funktioniert, kann ich mich ja immer noch zu einer Aufnahme entschließen. Das ist dann früh genug. Nur bei echten Lähmungen, das betrifft etwa ein bis zwei Prozent der Patienten, muss man schnell handeln.

Aber droht beim Zuwarten nicht die Chronifizierung des Rückenschmerzes? Oft wird das „Schmerzgedächtnis“ ins Feld geführt, wenn es ums Operieren oder nicht geht.

Das wird, infamerweise muss man sagen, von den Operateuren als Argument dafür benutzt, dass man so früh wie möglich operieren muss. Denn nur so lasse sich angeblich die Chronifizierung vermeiden. Das widerspricht aber allen Kenntnissen, die wir heute haben.

Rückenprobleme haben eine sehr starke psychosoziale Komponente, etwa bei Menschen, die in einen ungeliebten Beruf zurückkehren müssen. Sie treten auch deutlich häufiger auf bei Menschen mit geringerem Einkommen als etwa im Management.

Es wird also zu oft operiert. Ein Grund ist die Mentalität: Etwas Handfestes zu tun ist besser als nichts zu tun und abzuwarten. Gibt es auch ökonomische Gründe?

Und ob! Die haben sich in dieser Zeit der Privatisierung der Medizin noch verschärft. Eine Klinik ist heute ein Investitionsobjekt, sie muss vor allem wirtschaftlich geführt werden. Wenn ein Patient vier Tage liegt und nicht operiert wird, ist das ein fehlbelegtes Bett. Es ist ein Auslastungsthema, ein ökonomisches Kalkül.

In Deutschland haben wir übrigens eine doppelt so hohe Bettenzahl pro Kopf der Bevölkerung wie die Schweiz! Und die Schweiz hat ja kein medizinisches Mangelsystem. Wofür brauchen wir so viele Betten? Der Lobbyismus ist sehr stark. Eine konservative Therapie bringt dem niedergelassenen Kassenarzt etwa 30 Euro für drei Monate. Eine einfache Bandscheiben-OP 3000 Euro, bis zu 15 000 Euro für Versteifungs- und Bandscheibenprothesen-OPs. Und deshalb operieren wir viermal so viel wie die Franzosen und sechsmal so viel wie die Engländer.

Das kritische Wort von der „Apparatemedizin“ gilt also bei den Orthopäden in besonderem Maße?

Jedenfalls gilt es für die Rückenbehandlung. Hier wird die Orthopädie immer stärker einer mechanistischen Vorgehensweise angepasst. In dem eben skizzierten Algorithmus einer vernünftigen Diagnose müsste der Operateur – wenn er überhaupt gebraucht wird – das letzte Glied in der Kette sein.

Bei uns geht es jedoch vom Hausarzt zum Operateur, und wenn die OP dann scheitert und die Schmerzen kommen wieder, erst dann geht es zu dem, der an erster Stelle stehen sollte, zum Schmerztherapeuten. Aber – da haben wir ein weiteres Problem – den gibt es in Deutschland meistens nicht.

Wenn ich auf den großen Fachtagungen in den USA Kollegen treffe, die das machen, was ich in meiner Praxis mache, dann sind das fast alle pain doctors, Schmerztherapeuten und keine operativ ausgebildeten Orthopäden oder Neurochirurgen, und sie haben oft eine psychosomatische Ausbildung.

Und da liegt in Deutschland vieles im Argen. Denn wenn Sie die Psyche nicht mitbehandeln, können Sie Rückenschmerzen nicht erfolgreich bekämpfen. Die reine Mechanik ist in einem multifaktoriellen Geschehen nur ein möglicher Auslöser für den Schmerz. Der hängt ebenso vom psychosozialen Umfeld des Patienten und seiner Lebensweise ab wie von der Größe des Bandscheibenvorfalls. Und erst der Schmerz macht ja aus einem Befund eine Krankheit.

Der Schmerz ist das Zentrale bei Rückenerkrankungen, man geht ja nur dann zum Arzt, wenn es weh tut.

Wir haben als Orthopäden keinen objektiven Marker unseres Tuns. Ein Urologe, ein Gynäkologe, ein Tumorspezialist – sie alle haben klare Kennwerte, an denen sie ihr Handeln ausrichten können: Der Knoten ist größer oder kleiner, diese Blutwerte erfordern diese oder jene Maßnahme. Bei uns geht es fast immer nur um den Schmerz.

In einer Studie der Universität Göttingen wurden Rückenpatienten, die sich auf der Schmerzskala von 1 bis 10 bei 6 oder höher einstuften, also schon recht starke Schmerzen hatten, in zwei Gruppen eingeteilt. Der einen Gruppe wurde vermittelt: „Oh, das sieht schwierig aus, ob wir das hinbekommen? Wir müssen wahrscheinlich operieren!“ Diese Patienten bekamen außerdem Schmerzmittel.

Der zweiten Gruppe wurde gesagt: „Ach, das ist ja nur ein Bandscheibenvorfall! Das ist ja nichts Besonderes, das ist ja gutartig – man muss nur zehn oder zwölf Wochen warten, dann erledigt sich das von selbst.“ Diese Gruppe erhielt keine Schmerzmittel. Beide Gruppen führten nun ein Schmerztagebuch, in dem die Schmerzminderung notiert werden sollte. Ergebnis: Die zweite Gruppe erlebte eine signifikant größere Schmerzreduzierung als die erste.

Die Arzt-Patient-Kommunikation ist also ein, wenn nicht der Schlüssel zum Erfolg?

Genau. Und da sind wir wieder bei dem Punkt: Dafür sind unsere Ärzte zu wenig ausgebildet. Zu mir kommen öfter Patienten, die schon eine lange Patientenkarriere hinter sich haben. Ich erschrecke dann schon darüber, dass über 60 Prozent davon ihre genaue Diagnose nicht kennen.

Die Hälfte derjenigen, denen eine OP empfohlen wurde, wurden nie ausgezogen, sondern die OP-Indikation wurde ausschließlich am Bild gestellt. Viele Operationen bleiben erfolglos, nicht weil sie handwerklich schlecht gemacht wurden, sondern weil sozusagen „am Bild“ entlang und am Schmerz des Patienten vorbei operiert wird.

Es gibt sogar einen Fachbegriff für die hohe Zahl der erfolglosen Operationen: Failed back surgery. Gibt das den Orthopäden nicht zu denken?

In Studien sind 40 Prozent nach dem Maßstab „Schmerzfreiheit“ erfolglos, und die Patienten kehren innerhalb eines Jahres in die Therapie zurück. Ich kann nur wiederholen: Es ist eine Frage der Ausbildung. Wer heute Rücken behandelt, spricht eigentlich sehr wenig mit Patienten. Er verbringt die meiste Zeit im OP-Saal. Er versteht gar nicht, dass er zwar sehr sauber gearbeitet hat, mechanisch betrachtet, aber es dem Patienten nicht besser geht. Der Arzt macht ein neues Bild und meint: „Das verstehe ich nicht, sieht doch alles super aus!“ Und zum Patienten sagt er dann oft: „Sie sollten mal ein Antidepressivum probieren!“

Aber auch die anderen Ärzte, die die Patienten überweisen – die Orthopäden fangen ihre Patienten ja nicht auf der Straße ein –, sind so ausgebildet, dass sie an dieses mechanistische Vorgehen glauben. So ist der Lehrplan. Für das andere gibt es immer noch kein Curriculum. Die Orthopäden werden, obwohl über 80 Prozent der Leiden konservativ behandelt werden können, vor allem als Operateure ausgebildet.

Dabei müsste doch eigentlich der Orthopäde der „Philosoph unter den Medizinern“ sein, haben Sie geschrieben. Warum?

Wir Orthopäden stehen im Ruf, vor allem handwerklich zu arbeiten, wir sind die Schrauber, die Dübler, die hands-on-Menschen. In Wirklichkeit arbeiten wir in einem Fach, das von allen medizinischen Fächern das unkonkreteste ist. Denn das Maß unseres Erfolges ist immer die Selbsteinschätzung des Patienten. Und die ist so stark gefärbt von seinem psychosozialen Umfeld, von Dingen wie Glück, Lebenszufriedenheit, aber auch vom Arzt-Patient-Verhältnis.

Wenn zwei in der Orthopädie das Gleiche tun, bringt es meistens nicht das gleiche Ergebnis. Es kommt darauf an: Wie gehe ich mit dem Schmerz des Patienten um? Und das Maß meines Erfolges ist doch, dass der Patient sagt: Ja, es geht mir besser, damit bin ich zufrieden, damit kann ich leben!

Studien zeigen: Die familiäre Situation spielt eine wichtige Rolle. Wie sehr beeinflusst die Erkrankung die Beziehung? Wann wird die Opferrolle zum Schutzraum?

Das ist der berühmte „sekundäre Krankheitsgewinn“. Man merkt das als Arzt manchmal schon beim ersten Gespräch: Der Partner kommt sogar mit und erzählt mir, was dem Patienten fehlt. Oder der Partner oder die Partnerin entscheidet mit über die Behandlung. Manche Patienten wollen die Krankheit nebst Schmerzen gar nicht aufgeben, weil das die Dynamik der Beziehung verändern würde.

Oder ein Patient sagt: „Ich habe die Frührente beantragt!“, dann kann es gar nicht sein Wunsch sein, schmerzfrei zu werden. Da hilft es ihm auch nicht, wenn ich ihm drei Schrauben reindrehe. Aber es hilft natürlich, wenn man Menschen mag und gerne mit ihnen redet.

Sie sprechen das Thema „der Arzt als Droge“ an. Die Haltung des Arztes ist wichtig, die Hoffnung, die er vermittelt, seine Art zu sprechen.

All das. Der Patient muss spüren, dass sein Problem jetzt auch meines ist und dass ich es lösen will. Ich erkläre in meiner Praxis den Patienten bis aufs i-Tüpfelchen, was ich tue. Untersuchungen zeigen: Wenn man sich bei den ersten Gesprächen die Mühe macht und die Zeit nimmt, den Patienten wirklich aufzuklären, wirkt sich das positiv auf die Behandlung aus. Denn der Patient muss wirklich verstehen, was da passiert, wenn ich mit ihm arbeite. Das mag zu Beginn viel Zeit kosten, aber es lohnt sich, Arzt und Patient sind dann ein Team. Wenn ich das Grundproblem des Menschen nicht erkenne, kann ich weder mit Medikamenten noch mit Eingriffen wirklich helfen.

Vorbeugen ist besser

Dr. Martin Marianowicz empfiehlt folgende vorbeugende Strategien und Maßnahmen:

  1. Psychohygiene: Wer ausgeglichen und zufrieden lebt, wer gut mit anderen Menschen auskommt und Stressreduzieren kann, lebt auch gesünder – und schmerzfreier.

  2. Bewegung: Jede Form von Bewegung ist besser als keine. Auch kleine Dinge helfen schon, wie etwa Aufstehen beim Telefonieren, Treppen statt Lift benutzen, selber zum Fotokopieren gehen, das Auto öfter mal stehen lassen, ein ergonomischer Stuhl, der sich bewegen lässt.

  3. Ernährung: Süßgetränke sind schlimme Kalziumvernichter. Alkohol ist die Hauptursache für Osteoporose bei Männern. Viel Grünes, viel Milch und andere kalziumhaltige Nahrungsmittel konsumieren. Kein Übergewicht! Viel Wasser trinken: Drei Liter brauchen die Bandscheiben am Tag. Je höher der Flüssigkeitsgehalt des Körpers, umso besser ist die Perfusion von der Deckplatte zur Bandscheibe und damit der Antransport von Nährstoffen und der Abtransport von Schlacken.

Martin Marianowicz, Jahrgang 1955, ist seit 1990 Facharzt für Orthopädie, Chirotherapie und Sportmedizin in München. Er ist Vorsitzender der Sektion Mittel- und Osteuropa des World Institute of Pain und Präsident der Deutschen Gesellschaft für Wirbelsäulenendoskopie. In München und am Tegernsee betreibt er vier eng vernetzte Orthopädie-Kompetenz-Zentren. Marianowicz gilt als Wegbereiter der minimal-invasiven Wirbelsäulen- und Bandscheibenbehandlung. Buchveröffentlichungen: Aufs Kreuz gelegt. Warum 80% der Rückenoperationen überflüssig sind (Goldmann, München 2010) und: Die Marianowicz-Methode. Programm für einen schmerzfreien Rücken (Arkana, München 2011).

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 7/2013: Der Saboteur in uns