Ich sitze auf der Untersuchungsliege eines Orthopäden, in unfreudiger Erwartung einer Spritze ins Knie. Vor Jahren ließ mein Hausarzt mein Knie in einem Magnetresonanztomografen durchleuchten und befand anschließend: „Sie haben das Knie einer 70-jährigen Ex-Hochleistungssportlerin.“ Ich habe keine Ahnung, wie ich dazu komme – ein solches Knie ist in mir völlig ortsfremd. Immer wenn das Knie schmerzt, gehe ich zu einem Orthopäden, der dann seine Spritze zückt und sagt: „Jetzt tief einatmen und an etwas…
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Orthopäden, der dann seine Spritze zückt und sagt: „Jetzt tief einatmen und an etwas Schönes denken.“ Das Schöne, an das ich dann denke, ist nie und nimmer Hochleistungssport.
Mein üblicher Orthopäde ist krank, deshalb bin ich bei einem unbekannten. Über seiner Liege klebt ein Wandtattoo, das besagt: Feel free to be what you want to be. Das stimmt so nicht, denke ich. Ich bin siebenundvierzig Jahre alt. Selbst wenn ich frei genug wäre, es zu wollen: Ich werde nie eine Ex-Hochleistungssportlerin sein.
Ich lasse meine Hose herunter, der Arzt betrachtet mein geschwollenes Knie. „Da stimmt was nicht“, sagt er. „Ich weiß“, sage ich, „aber üblicherweise macht es eine Spritze wieder gut.“
Der Orthopäde schmunzelt hintergründig. Dann fragt er: „Haben Sie mal darüber nachgedacht, ob Ihr Leiden vielleicht eine psychische Ursache hat?“ Als er das fragt, rutschen mir Herz und Psyche in die heruntergelassene Hose – denn diese Frage bedeutet, dass die lindernde Spritze in weite Ferne rückt. „Ja, immer mal wieder“, sage ich vage. „Immer mal wieder“, wiederholt der Orthopäde, und er schaut mich dabei an, als hätte ich gesagt, dass ich mir nicht zweimal täglich, sondern nur „immer mal wieder“ die Zähne putze.
Ich weiß, dass einer Psyche – besonders wenn man sie reizt – alles Mögliche zuzutrauen ist. Im Handumdrehen schafft es die Psyche, im Körper die abwegigsten Entzündungsherde zu platzieren, sie kann das Herz aus dem Rhythmus bringen und gegebenenfalls stillstehen lassen, sie kann die Zähne zerknirschen, den Magen verätzen, den Darm zerschießen, die Nebenhöhlen zustopfen, die Muskeln verknoten und die Haare entfärben. Ein dahergelaufenes Knie fertigzumachen gelingt einer gereizten Psyche mit links, da bin ich ganz der Meinung dieses eher ungewöhnlichen Orthopäden. Allerdings sieht der Orthopäde aus, als glaube er, die Psyche in einer einzigen Sitzung auf Vordermann bringen zu können.
„Probleme, sich dem Fluss des Lebens hinzugeben“
„Menschen mit Knieproblemen haben mitunter Schwierigkeiten, sich dem Fluss des Lebens hinzugeben“, erklärt mir der Orthopäde, „sie haben Angst vor bestimmten Veränderungen.“ „Aha“, sage ich und finde, dass das klingt wie ein Horoskop aus der Zeitung – wie etwas also, das auf alle zutrifft. („Wassermänner sollten berufliche Entscheidungen nicht leichtfertig treffen.“ „Skorpione: Obacht im Straßenverkehr!“)
Ja, ich habe mitunter Probleme, mich dem Fluss des Lebens hinzugeben, ja, ich habe Angst vor bestimmten Veränderungen, und – Überraschung – ich habe auch Angst vor dem Tod.
Der Arzt redet jetzt von Psychohygiene und Körperbewusstsein, und während er redet, bekomme ich es innerlich mit allerlei Einerseits-Andererseits zu tun.
Einerseits möchte ich mic über den Arzt erheben und sehe schon vor mir, wie ich nachher auf dem Sofa sitzen werde, mit einer Ladung Voltaren auf dem Knie, und einer Freundin erzählen werde, an was für einen bescheuerten Eso-Orthopäden ich vorhin geraten bin. Andererseits bin ich verlegen, weil ich mich um Psychohygiene und Körperbewusstsein ungefähr so regelmäßig kümmere wie um Hochleistungssport.
Einerseits habe ich nicht das geringste Interesse daran, vor dem Arzt nicht nur die tatsächlichen, sondern auch die psychischen Hosen herunterzulassen. Andererseits ist es mir peinlich, dass ich mir gerade sehr heftig einen Arzt wünsche, der, wie es Ärzten oft vorgeworfen wird, nicht den ganzen Menschen sieht, sondern nur das Symptom behandelt.
Ins Knie hineinspüren
Der Orthopäde fordert mich auf, in mein Knie hineinzuspüren. „Das mache ich ja schon die ganze Zeit“, sage ich, „und es ist nicht besonders angenehm.“
Der Arzt schmunzelt und sagt, ich solle mit geschlossenen Augen hineinspüren. Ich frage mich, warum manche Leute davon ausgehen, dass man immer und überall einfach so in Köperteile hineinspüren kann – und das auch noch im Beisein eines chronisch schmunzelnden Orthopäden und eines zweifelhaften Wandtattoos. Als bräuchte Hineinspüren kein jahrelanges Training. Es sagt ja auch keine Hochleistungssportlerin zu einem Uhrmacher: „Los, mach mal Zehnkampf.“
Das Hineinspüren in mein Knie ist auch deshalb unmöglich, weil ich die ganze Zeit versuche, in den Orthopäden hineinzuspüren, um herauszufinden, ob sich irgendwo in ihm doch noch die Möglichkeit einer Spritze befindet.
„Und?“, fragt er, als ich die Augen wieder öffne, und ich sage: „Gut, aber ich bin eigentlich wegen einer Spritze hergekommen.“ „Vordergründig schon“, sagt der Orthopäde und schmunzelt hintergründig, und das war einmal Schmunzeln und Hintergründigkeit zu viel. Ich bedanke mich etwas unglaubwürdig, ziehe meine Hose unverrichteter Dinge wieder hoch, nehme meine Hochleistungsbefunde an mich, humpele mit meiner nun zerzausten Psyche aus der Praxis und rufe vor der Tür des Orthopäden meinen Hausarzt an. Der Hausarzt ist trotz seiner bestürzenden Sportlervergleiche der beste Arzt der Welt, und glücklicherweise geht er heute höchstpersönlich ans Telefon.
„Können Sie eigentlich auch Spritzen ins Knie?“, frage ich. „Dafür ist doch ein Orthopäde zuständig“, sagt er, „hatten Sie da nicht einen Termin?“ „Doch“, sage ich, „aber der Orthopäde will mir an die Psyche.“ Der Hausarzt lacht. „Kommen Sie vorbei“, sagt er, „ich schiebe Sie irgendwie dazwischen.“
„Tausend Dank“, sage ich. Die Aussicht, dazwischengeschoben zu werden, tut beiden sehr gut: dem geschwollenen Knie und der derangierten Psyche.
Mariana Leky stand mit ihrem Roman Was man von hier aus sehen kann über ein Jahr auf der Spiegel-Bestsellerliste. In Psychologie Heute schreibt sie jeden Monat darüber, was die Menschen, die sie umgeben, bewegt. Mit psychologischen Themen kennt sich Leky aus: In ihrer Familie sind zehn Psychoanalytiker.