Eine Dame mittleren Alters geht zu ihrem Hausarzt. Sie berichtet ihm von kleinen Maden, die sie aus ihrer Haut gezogen hat und zeigt eine eigenartige Sammlung winziger Partikel, aufbewahrt in einer Dose. Aus Sicht der Patientin der Beweis: Parasitenbefall. Der Arzt schickt die Probe ans Labor. Ergebnis: Das Lichtmikroskop zeigt kleinste Lebensmittelreste. Das serologische Ergebnis ist negativ. Im ärztlichen Gespräch mit den Befunden konfrontiert, reagiert die Patientin aber ganz anders als erwartet: Sie…
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Gespräch mit den Befunden konfrontiert, reagiert die Patientin aber ganz anders als erwartet: Sie beschuldigt den Mediziner, die Proben manipuliert zu haben oder inkompetent zu sein. Sie verlässt die Praxis und kommt nie wieder. So oder ähnlich beginnen die Krankengeschichten von Patienten, die an Parasiten- oder Dermatozoenwahn leiden.
„Diese Menschen gehen fälschlicherweise davon aus, dass sie von Parasiten, Bakterien oder Ungeziefer befallen sind“, beschreibt die Biologin Ilse Jekel vom Universitätsklinikum Salzburg diese leider schwer zu behandelnde Psychose. Medienberichte über die sogenannte Morgellonen-Erkrankung haben dem Parasitenwahn Nahrung gegeben. Morgellonen sollen als Fasern aus der Haut wachsen und durch Umweltgifte verursacht sein.
Die vermeintlichen Folgeschäden reichen bis hin zu kognitiven und emotionalen Defiziten. Wissenschaftlich gesehen ist das nicht haltbar: „Die Laborbefunde sind in diesen Fällen wiederholt negativ. Die Patienten lassen sich aber von dieser Idee nicht abbringen“, sagt Jekel.
Es gab Fälle, in denen die Betroffenen ihr ganzes Haus mit Wasser geflutet haben – aus Angst vor dem Parasitenbefall. Oft wechseln die Patienten den Arzt, schicken ihre Proben an verschiedenste Institute und Spezialisten. Aber die Überzeugung ist so stark, dass sie auch durch negative Laborbefunde nicht verändert werden kann. Zurück bleibt ein unbehandelter und unverstandener Patient.
Dermatozoenwahn ist ein spektakuläres, aber glücklicherweise seltenes Symptom. Doch auch bei weniger bizarren Beschwerden haben Umweltfaktoren als Erklärung bei Medien und Patienten Konjunktur. Die neuen Umweltsyndrome tragen Namen wie multiple chemische Sensitivität, sick building syndrome oder Elektrosensitivität.
Aus Angst in den Wohnwagen
Gerade bei der Elektrosensitivität gibt es eine Menge seltsamer Geschichten. Da ist der junge Mann, der es vorzieht, auf möglichst abgelegenen Plätzen im Wohnwagen zu leben, nur um den beinah überall vorhandenen Funknetzen zu entkommen. Oder das Ehepaar, das nach der Errichtung eines Senders auf der gegenüberliegenden Straßenseite nachts nicht mehr schlafen kann, Hautausschläge entwickelt und letztlich sogar das Einfamilienhaus aufgibt, in dem die beiden dreißig Jahre lang gelebt haben. Und da ist die Rede von Menschen, die ihre Symptome auf einen neuen Mobilfunksender in der Nachbarschaft zurückführten – und später stellte sich heraus, dass dieser noch gar nicht in Betrieb war.
Im Gegensatz zu den Betroffenen gehen viele Wissenschaftler davon aus, dass bei der Elektrosensitivität und anderen Umweltkrankheiten psychische Mechanismen eine wichtige Rolle spielen. Schätzungen zufolge ist bei mehr als 90 Prozent der Patienten von Umweltambulanzen kein oder fast kein Kausalzusammenhang zwischen ihren Symptomen und dem jeweiligen Umweltfaktor vorhanden. Überprüft wird dieser Zusammenhang in „verblindeten Dosis-Wirkung-Versuchen“. Das heißt: Der Patient wird dem vermeintlichen Schadstoff entweder tatsächlich, und zwar in unterschiedlicher Dosis, oder nur zum Schein ausgesetzt. Der Versuchsteilnehmer weiß jedoch nicht, ob und in welcher Dosis er mit dem „Übeltäter“ in Kontakt gekommen ist. Die Forscher schauen dann nach, ob und wie stark die Symptome auch während der „Scheinexposition“ auftreten.
„Tatsächlich werden während der Scheinexposition häufig die gleichen Symptome geschildert wie während einer tatsächlichen Exposition“, berichtet Michael Witthöft von der Universität Mainz. So war es auch bei einem Experiment seiner Forschungsgruppe zur Elektrosensitivität. Mehr als die Hälfte der Versuchsteilnehmer, die glaubten, einem WLAN-Signal ausgesetzt zu sein, entwickelten daraufhin Symptome wie Kopfschmerzen, Konzentrationsstörungen oder Kribbelempfindungen – selbst wenn gar kein Funknetz existierte (siehe Heft 9/2013).
Der Noceboeffekt: „Das wird mir schaden!“
Doch wenn eine physikalische Erklärung unwahrscheinlich ist – worauf sind die Beschwerden dann zurückzuführen? Für Witthöft ist eine wesentliche Grundlage der Noceboeffekt, also eine Art Umkehrung des Placeboeffekts. Treibende Kraft ist in beiden Fällen die Erwartungshaltung des Patienten. Ein Placebo wirkt, indem es eine Heilungserwartung weckt, ein Nocebo hingegen schadet, weil von ihm aus Sicht des Patienten ein Gefährdungs- und Bedrohungsgefühl ausgeht.
Ein zentraler Mechanismus scheint dabei die klassische Konditionierung zu sein. Beim pawlowschen Hund wurde durch wiederholte gleichzeitige Gabe von Futter und einem akustischen Signal (einer Glocke) ein Lernprozess ausgelöst: Irgendwann reichte das akustische Signal, um bei dem Hund Speichelfluss auszulösen, obwohl es gar kein Futter gab. Im Falle von Umweltrisiken funktioniert die klassische Konditionierung in etwa so: Gefahr erzeugt Angst. Ob und welche Gefahren von Technik und Umwelt ausgehen, ist nun aber für den Laien schwer einzuschätzen. Werden wir von Experten und Medien davon überzeugt, dass Mobilfunksender schädlich sind, dann gewinnen diese Geräte Signalcharakter: Ihre Gegenwart löst eine Angstreaktion aus – so ähnlich wie Pawlows Glocke den Speichelreflex seiner Hunde.
Angst wiederum löst Symptome aus. Luana Colloca und Franklin G. Miller von den National Institutes of Health in Bethesda, USA berichten in einer 2011 erschienenen Übersichtsarbeit, dass bei Angst der in der Darmschleimhaut gebildete Botenstoff Cholecystokinin ausgeschüttet wird, der im Gehirn eine Schmerzreaktion bewirkt. Auch einmalige Informationen über bevorstehende Schmerzen können langanhaltende Wirkungen entfalten. Eine dieser beobachteten Wirkungen war eine gesteigerte Betriebsamkeit im Inselkortex, einer Gehirnstruktur, die an der emotionalen Bewertung von Schmerzen beteiligt ist. Die Übererregung dieser Hirnregion hielt acht bis neunzig Tage an.
Gefährliche Informationen
Informationen über reale oder fiktive Gesundheitsgefahren werden über die Medien verbreitet. „Studienergebnisse legen nahe, dass Medien – neben anderen Faktoren – einen bedeutsamen Einfluss auf die Elektrosensitivität haben“, sagt Michael Witthöft. Als eine Art Modellfall für die Folgen einer hysterischen Berichterstattung gilt die sogenannte Arjenyattah-Epidemie im Jahr 1983. Ein junges Mädchen im Westjordanland klagte nach dem Besuch der Schultoilette über Übelkeit – angeblich roch es dort nach Schwefelwasserstoff. Nachdem sich das Gerücht herumgesprochen hatte und die Gesundheitsbehörden von einem Giftgasanschlag ausgingen, verbreiteten auch die Medien diese Informationen über Wochen. Am Ende gab es fast 1000 Erkrankte, viele davon wurden im Krankenhaus behandelt. Die Epidemie endete so abrupt, wie sie gekommen war: Es konnten keine Giftgasspuren oder andere Schadstoffe gefunden werden. Ein ähnlicher Fall ereignete sich 1998 in den USA: Angeblicher Gasgeruch in einer Schule führte zu zwei Evakuierungen, über 100 Krankenhausaufnahmen und extensiver Medienberichterstattung. Verschiedene Behörden untersuchten die Schule und fanden – nichts.
Mit der Kommunikation von Risiken in den Medien beschäftigt sich auch der englische Soziologe Adam Burgess von der University of Kent, der in seinem Buch Cellular Phones, Public Fears, and a Culture of Precaution die Kommunikation potenzieller Risiken durch den Mobilfunk in England analysierte. „Die Journalisten glaubten in den 1990er Jahren, der Mobilfunk sei das zweite Rauchen. Und jeder wollte der Erste sein, der darauf hinweist“, so Burgess. Die englischen Medien führten in dieser Zeit Kampagnen gegen das mobile Telefonieren. Jedes Problem, das eventuell durch Mobiltelefonieren verursacht worden sein könnte, wurde genüsslich ausgeschlachtet. Aufgrund des vorangegangenen BSE-Skandals hatte es die Presse mit einer defensiven und vorsichtigen Politik zu tun. „Der sogenannte Vorsorgeansatz wurde damals modern: Das heißt, jedes noch so kleine potenzielle Risiko muss ausgeschaltet werden. Das beginnt beim Mobilfunk und geht weiter über Pestizide in der Landwirtschaft bis hin zur Nutzung der Gentechnik“, meint Burgess.
Informationen über Umweltgefahren müssen aber auch auf einen fruchtbaren Boden fallen, um ihre Nocebowirkung zu entfalten. Manche Menschen sind für diese Art der Beeinflussung und ihre Gesundheitsfolgen empfänglicher als andere. Schon 1998 präsentierten die Psychologen Uwe Harlacher und Joachim Schahn ein Modell zur Erklärung von Elektrosensitivität, das auch auf andere Umweltsyndrome anwendbar ist: Physische Faktoren, organische Krankheiten, psychosozialer Stress und Persönlichkeitsfaktoren führen zu Primärsymptomen, die von Ärzten und anderen Experten nicht zufriedenstellend erklärt werden können.
Danach entwickelt der Patient seine eigene Theorie, es entsteht ein „Elektrosensitivitätsverdacht“. Dieser wird durch Selbsttests immer wieder bestätigt, da unbewusst eine Verifikationsstrategie gewählt wird: Der Betroffene achtet auf potenzielle Quellen von elektromagnetischen Feldern. Wird er fündig, so stellt er fest, dass auch seine Symptome sich verschlimmert haben. Ist er hingegen einmal nicht im Wirkungsbereich der vermeintlichen Gefahrenquelle, so kommt er erst gar nicht auf den Gedanken, zu überprüfen, ob seine Symptome nun zurückgegangen sind, denn in diesem Moment ist das Thema nicht im Fokus seiner Aufmerksamkeit. So entsteht eine Überzeugung, die sich ständig selbst bestärkt.
Im Laufe der letzten 15 Jahre wurden diese Vermutungen über die psychischen Mechanismen hinter den Symptomen immer wieder auch empirisch bestätigt. James Rubin und seine Kollegen vom King’s College in London ermittelten in einer Studie, dass „Elektrosensitive“ in beinahe allen untersuchten Gesundheitsparametern schlechtere Werte aufwiesen. Gegenüber einer Vergleichsgruppe zeigten sie neben verminderter körperlicher Gesundheit auch höhere Depressivität und größere Besorgnis gegenüber anderen Umweltgefahren. Auch Michael Witthöft von der Universität Mainz hält erhöhte Furcht für einen wesentlichen Faktor beim Entstehen von Umweltsyndromen. „Bei ängstlichen Personen, die möglicherweise eine negative Erwartungshaltung bezüglich der Gesundheitsgefahren von alltäglicher elektromagnetischer Strahlung haben, können entsprechende Medienberichte ein Erleben von körperlichen Beschwerden intensivieren“, so Witthöft.
Die Folgen sind nicht immer harmlos
Dass psychische Mechanismen durchaus auch schwerwiegende Symptome bewirken können, zeigt folgendes Beispiel: Roy Reeves berichtete 2007 von einem Placeboexperiment, bei dem einer der Teilnehmer versuchte, sich mit einer „Überdosis“ des vermeintlichen Medikaments das Leben zu nehmen. Er lag dann tatsächlich auf der Intensivstation, bis er erfuhr, dass er zur Placebogruppe gehört und folglich keinerlei Wirkstoff erhalten hatte.
Das Beispiel zeigt: Die Symptome bei Umweltsyndromen sind überaus real und bisweilen drastisch. Nur die Ursachenzuschreibung ist häufig unzutreffend. Entsprechend schwierig gestaltet sich die Behandlung, und es bringt die Therapeuten in ein ethisches Dilemma: Einerseits führt die Konfrontation des Patienten mit möglichen psychischen Ursachen nicht selten zum Abbruch der Arzt-Patient-Beziehung, andererseits wäre es unethisch und aus therapeutischer Sicht kontraproduktiv, einfach die Annahmen des Patienten zu übernehmen. Unter diesen Voraussetzungen eine Vertrauensbasis zum Patienten aufzubauen und sich auf die Symptomatik zu konzentrieren ist eine schwierige Aufgabe. Viele Therapeuten tendieren dazu, dem Patienten beweisen zu wollen, dass seine Einstellung falsch ist – leider keine vertrauensbildende Maßnahme. Doch trotz dieser Schwierigkeiten und obwohl die Patienten Psychologen und Psychiater meiden, da sie aus ihrer Sicht ja ein organisches Problem haben, sind Behandlungsansätze, die bei der Psyche ansetzen, am wirkungsvollsten.
Die kognitive Verhaltenstherapie ist für James Rubin und seine Kollegen am Londoner King’s College die Methode der Wahl. Das Entwickeln von anderen Erklärungsmustern für die Symptome, die psychische Bewältigung der Beschwerden und der erfolgreiche Umgang mit Stress sind nur einige der Bestandteile dieser Therapie. Bei psychotischen Symptomen wie dem Dermatozoenwahn ist hingegen in den meisten Fällen eine Therapie mit antipsychotischen Medikamenten unerlässlich.
Natürlich beruht nicht jede Umweltangst auf Einbildung. Wir leben in einer Welt voller Technik, die unser Leben erleichtert, aber auch Gefahren birgt. Die Grenze zwischen berechtigter Vorsicht und übertriebener Ängstlichkeit ist da fließend. Wie sollen wir abwägen, was nun ein echtes und was ein eingebildetes oder überbewertetes Risiko ist? Mithilfe der Vernunft, meint der Soziologe Adam Burgess: „Wir leben nicht in einer idealen Welt, es gibt kein Nullrisiko. Wir sollten die Menschen ermutigen, in rationalen Alternativen zu denken und sich nicht von ihren Ängsten steuern zu lassen oder die Verantwortung einfach auf Experten abzuschieben.“
Dr. Christoph Augner ist Medizin- und Wirtschaftspsychologe und Gründer des Internetblogs moments of truth.
Literatur
C. Augner, M. Lechner , I. Jekel: Dermatozoenwahn: Psychologische Aspekte für die dermatologische Praxis. Aktuelle Dermatologie, 36/12, 2010, 471 bis 473
L. Colloca, F. G. Miller: The nocebo effect and its relevance for clinical practice. Psychosomatic Medicine, 73/7, 2011, 598–603
U. Harlacher, J. Schahn: „Elektrosensitivität“ – ein psychologisches Problem? In: E. Kals (Hg.): Umwelt und Gesundheit: Die Verbindung ökologischer und gesundheitlicher Ansätze. Beltz PVU, Weinheim 1998
G. J. Rubin, A. J. Cleare, S. Wessely: Psychological factors associated with self-reported sensitivity to mobile phones. Journal of Psychosomatic Research, 64, 2008, 1–9