In einem unbedachten Moment habe ich zugestimmt, darüber zu schreiben, welche Kraft entsteht, wenn man sein Leben erzählt, und wie man dadurch erkennt, wer man ist. Und nun befinde ich mich in einer misslichen Lage. Zuerst kam mir die Sache noch ganz harmlos vor. Unbedarft notierte ich in der morgendlichen Dunkelheit meines Arbeitszimmers: „Ich bin Psychotherapeutin, Gutachterin und Autorin.“ Ich starrte auf den Satz, meine Hand schwebte über der Tastatur. Also, was soll das denn jetzt bitte?
Ich bin…
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starrte auf den Satz, meine Hand schwebte über der Tastatur. Also, was soll das denn jetzt bitte?
Ich bin geneigt, meine eigenen Hände missbilligend anzusprechen – die haben das schließlich geschrieben. Das ist ganz bestimmt nicht, was du bist. Das ist, was du geleistet hast. Mein Auto, mein Haus, meine Jacht. Karoline war stets bemüht und das ist das Ergebnis ihrer Bemühungen. Halte ich mich daran fest? An meiner Leistung, an den Erfolgen?
Ich lehnte mich zurück. Sind nicht auch all die Menschen in meinem Leben ein Teil von mir? Bin ich nicht Ehefrau, Mutter, Schwester, Tochter, Freundin, Kollegin? Bin ich nicht gewachsen aus tausenden Gesprächen? Aus so vielen Blicken, Berührungen, Sätzen? Und bin ich nicht auch die Gedichte und Geschichten, die ich gelesen, die Musik, die ich gehört habe? Wer wäre ich ohne die Essais von Michel de Montaigne, wer ohne den Trost der Musik von Johann Sebastian Bach? Ohne die großen Erzählungen Dostojewskis, Tolstois und meines geliebten Mark Twains? Wer ohne, wer ohne?
Und bin ich nicht ebenso durch das Unterlassene bestimmt? Bin ich nicht auch die, die ein Japanologiestudium genauso vor der Zeit abbrach wie eine Reihe von Beziehungen? Die nie in einer anderen Stadt lebte, keine Geduld hat und nie etwas langsam und bedächtig tut?
Wann trat mein Ich hinzu?
Ich schreibe und die Zeilen auf dem Bildschirm verknoten sich ineinander zu einem unentwirrbaren Knäuel. Je mehr ich versuche, meine Geschichte zu erfassen, umso mehr entgleitet sie mir. In der Erzählung über mich selbst kämpfe ich wie Herakles mit der Hydra. Man beachte die Metapher aus dem klassischen Bildungskanon. Wann immer ein Fragenkopf fällt, wachsen zwei neue nach. Die Psychologie soll mich retten. Mal wieder. Schließlich hat man doch nicht umsonst studiert.
„Die narrative Psychologie vertritt die Auffassung, dass Erzählungen grundlegend für die menschliche Erfahrungsorganisation sind. Die Konstruktion einer stimmigen Lebensgeschichte aus der eigenen Biografie hilft dabei, Identität zu bilden sowie Selbsterkenntnis und Orientierung zu gewinnen.“ Also bitte, Frau Diplompsychologin Klemke, wir sind ja nicht den ersten Tag mit Erzählungen befasst. Selbsterkenntnis, stimmige Lebensgeschichte… Dann mal raus mit der Sprache.
Allerdings ist psychologische Sprache eine technische Sprache. Eine Sprache der Verknappung, die das Wesentliche oft verbirgt. Denn eines der größten ungelösten Geheimnisse der Psychologie – auch der narrativen – ist, woher ihr Forschungsgegenstand kommt. Wer bin ich und wohin führt meine Reise? Niemand weiß das. Ein sich teilender Zellhaufen war ich jedenfalls, mit wenig schmeichelhaftem Äußeren.
Aber seit wann bin ich mehr als das Material meines Körpers? Wann trat mein Bewusstsein hinzu? Wann meine Innensicht? Wann mein Ich, das eine Geschichte hat und Orientierung braucht? Der Beginn unserer Reise liegt in einer Wolke ungelöster Geheimnisse. Ich stelle sie mir wie die großen kosmischen Nebel vor, in denen neue Sterne entstehen.


Bedeutungsloser Sohn, falsche Tochter
Wer immer ich sein mag, meinen Körper gibt es, das steht wenigstens fest, nur durch die tausende Menschen, die vor mir gelebt haben. Die seit Jahrhunderten Kriege, Hunger und Seuchen überlebt haben. Die sich geliebt haben. Die ihre Kinder, meine Urahnen großgezogen haben in den längst vergangenen Wogen der Zeit. Nur deshalb existiert mein Körper.
Durch irgendeinen unwahrscheinlichen Zufall bin ich das vorläufige Ende einer unendlich langen, vergessenen Kette tausender Lebensgeschichten. Wenn ich meinen Körper berühre, berühre ich diese Geschichte. Sie steckt tief in meiner DNA. Und wenn ich meine Augen schließe, kann ich darin eintauchen. In eine Welt der halbverwischten Bilder, vagen Erinnerungen und längst vergangenen Dramen. Eine Welt, aus der die Kunstschaffenden – die Geschichtenerzählenden, die Tanzenden, Malenden und Musizierenden – zu allen Zeiten geschöpft haben. Und die Suchenden wohl auch.
Wenn ich heranzoome, sehe ich einen Mann in seinen späten Vierzigern, der die Pistole zum Mund führt in einer alten Villa im Deutschland der Weltwirtschaftskrise und seinen Jungen, dessen Herz erstarrte in dem Moment, als der Schuss fällt. Der trauernde Junge wird Chirurg werden, der Krieg wird durch ihn hindurchfegen. Und noch in den Trümmern wird sein Sohn geboren, ein schmales blondes Kind. Dieser Sohn wird das trauerstarre Herz seines Vaters nicht erweichen können. Und er wird sich vergraben in der Wissenschaft, überzeugt von seiner Bedeutungslosigkeit.
Ich sehe eine Frau, die im zerbombten Berlin ihr totes Kind im Arm hält, es ist erstickt und es gab keine Rettung. Nur das Halten, das Dableiben, das Mitsterben. Sie wird einen Schneeballbusch auf sein Grab pflanzen und jede Nacht weinen bis zu ihrem eigenen Tod. Die neue Tochter wird ihr den Verlust nicht ersetzen und den Schmerz nicht lindern. Das Mädchen wird abtauchen in die Welt der Tagträume und fantastischen Geschichten. Es wird flüchten vor dem verlorenen Vergleich mit einer Toten.
Der bedeutungslose Sohn und die falsche Tochter. Ein Kind bekommen sie, blond mit hellen Augen. Der Vater wird sie bald verlassen und ein schwarzes Loch hinterlassen. Die Mutter wird nichts fühlen können, als man ihr das Mädchen auf den Arm legt. Dieses Mädchen bin ich. Ich werde ein Kind sein, das sich für den Grund dieses Schmerzes hält. Ein Kind, das deshalb glauben muss, einen Makel zu haben. Manchmal spielt die Geschichte sich nachts in mir ab, in bewegten Bildern.
Ich laufe die ausgetretenen Holztreppen hoch in die Mansarde des bedeutungslosen, längst verlorenen Vaters und singe: „Die Katze tritt die Treppen krumm“, und wir bauen Höhlen aus Büchern und Decken und er liest Märchen vor, das Buch in Händen, die riechen nach Papier und Vanilletabak.
Faseln bis zur Verwirrung
Ich habe meinen Vater dreißig Jahre lang nicht gesehen. Ich erzähle. Ich schreibe. Und ich bin gleichzeitig in Vergangenheit und Gegenwart, gleichzeitig Teil und nicht mehr Teil dieser Geschichte. Das ist schwer auszuhalten. Ich möchte vielleicht doch lieber hier sein. Im Jetzt. Zum Glück gibt es die Absatzfunktion. Sie zu benutzen ist wie Luftholen. Ich bin das Ergebnis transgenerationaler Traumatisierung, füge ich vorsichtshalber an, als müsste ich mich selbst aus dem Treibsand der Erinnerung retten. Aber nicht nur, denke ich. Ich bin ein erzählender Mensch, der keinen blassen Schimmer hat, wer er ist. Die Erkenntnisse der narrativen Psychologie treffen auf mich eindeutig nicht zu. Von Orientierung keine Spur.
Ich schaue in mich selbst wie in die Scherben eines zersprungenen Spiegels. So unklar war ich mir bis dahin gar nicht vorgekommen. So viel zum Thema Erzählung und Selbsterkenntnis. „Faseln bis zur völligen Verwirrung“ wäre für mich das geeignete Thema. Unzweifelhaft ist mein Ich, wer immer es auch ist, allerdings da. Denn ich kann es ansprechen. Ich kann zu ihm sagen: „Du Ich!“ Ich erkenne meine Stimme und weiß deshalb, dass ich es bin, die spricht.
„Ich weiß zwar nichts über dich, aber wir müssen jetzt trotzdem los zur Arbeit.“ Und dann lachen wir beide. Zum Glück habe ich einen Beruf gewählt, bei dem erwartet wird, dass man verrückt ist. Da fühlt man sich gleich besser. Ich klappe meinen Laptop zu und beende meinen Schreibversuch.
Wer kocht da jeden Tag Tee?
Meine Beine tragen mich klaglos durch den dunklen Herbstmorgen. Vorbei an den alten Ahornbäumen neben den S-Bahn-Gleisen. Vorbei an den Obdachlosen, die in den Hauseingängen kauern und sich das Heroin unter die Zunge spritzen. Über zertrampelte Rasenflächen vorbei an blattlosen Fliederbüschen, in deren Ästen der Müll hängt. Dicht neben mir rauscht der Verkehr, die Werbeplakate schreien mich an. Über die Monitore in der Bahnhofshalle flimmern Nachrichten. Bombenkrater, blutende Menschen und ein schief grinsender Elon Musk. Im Vorbeigehen sehe ich meine Spiegelung über den Bildschirm hinweggleiten.
Wer bin ich? Ich gehe. Ich atme. Ich rieche. Ich höre. Ich sehe. Selbst wenn ich die Augen schließe. Unter dem gelben Licht der Straßenlaterne schließe ich die Praxis auf. Mit ein paar immergleichen Handgriffen helfe ich mir in eine andere Welt hinein. Ich koche Tee, ich schaue in die Unterlagen für meinen ersten Termin. Wer bist du?
Sich auf andere zu konzentrieren ist um so vieles einfacher. Vor mir sitzt heute Morgen Ava. Sie ist erst 32. Ihr Gesicht ist grau und sie verzieht keine Miene. Ihren Oberkörper hält sie gerade, ihre Hände verkrampfen sich in der Lehne des Sessels. Sie spricht von Leere, Sinnlosigkeit, Erschöpfung, ihr Körper rebelliert. Schwindel und Schmerzen überall, seit Monaten nun schon. Die Ärzte finden nichts.
Ava ist erfolgreich. Sie verdient gut, lebt in einer großen Wohnung. Sie kann reisen und sich kaufen, was sie will. Wenn nur nicht dieser Abgrund wäre in ihrem Inneren. Sie sagt: „Frau Klemke, ich brauche wirklich mehr Tools.“ Und sie zählt mir die „Tools“ auf, die sie schon benutzt: Meditation, Yoga, Jogging, Ernährungsumstellung, Entspannungsübungen. Und positiv denken! „Ich muss nur positiv denken, ich brauche Affirmationen, positive Leitsätze.“ Mir wird schwindelig nur vom Zuhören.
Ist Ava eine Maschine, die zum Laufen gebracht werden muss? Bin ich eine Seelenklempnerin? „An welche Szenen erinnern Sie sich, wenn Sie an Ihre Kindheit zurückdenken?“ Ava schaut mich an. „Ich hatte eine schöne Kindheit. Ich erinnere mich nicht an irgendwas Besonderes“, sagt sie.
Jesus in der S-Bahn
Ich gebe ihr eine kleine Übung für das Erinnern und das Verstehen. Nimm dir ein Blatt Papier und beginne jeden Satz mit den Worten: „Ich erinnere mich…“ Für den Moment ist dies wenigstens wahr: Ich bin Psychotherapeutin. Meine Arbeit führt immer dazu, dass ich mich besser fühle. Auf meinem abendlichen Rückweg betrat ein Glatzkopf in zerrissenem Mantel die S-Bahn und setzte sich mir direkt gegenüber. Ich habe einen inneren Scanner, der die Leute nach dem Ausmaß ihres Wahnsinns scannt. Er beugte sich – ein wenig zu fröhlich für Berliner Verhältnisse – in meinen abgewandten Blick hinein: „Ich bin übrigens Jesus!“
Es war draußen schon dunkel, in der Fensterscheibe sah ich seine schwankende Silhouette. Ich schwieg. Wahnsinn hin oder her, so sicher wäre ich auch gerne mal. Da lehnte er sich zurück, verknotete seine Finger ineinander und sagte traurig: „Aber du weißt es nicht!“, und schwieg. An der nächsten Station stand er auf, hob beide Handflächen in meine Richtung, als wollte er mich segnen, und sagte ernst: „Möge die Macht mit dir sein!“
Ich liebe diese dreckige, verletzte Stadt. Abends suchte ich in meinem Computer nach einem Text. Möge die Macht mit mir sein. Ich bin vielleicht nicht Jesus, aber irgendwann habe ich schon darüber geschrieben, wer ich bin. Ich weiß es genau.
Getrieben suchend. Müde suchend
Ich scrollte in meinen Ordnern und fand schließlich eine alte Datei mit dem Namen „Ich bin“. Hoffnungsfroh öffnete ich das Dokument. Es waren nur zwei Zeilen: „Ich bin unheilbar fragmentiertes Stückwerk. Getrieben suchend. Müde suchend. 02.01.2020“. Verdammt.
In der Nacht zog ein Orkan über die Stadt. Wie aus dem Maschinengewehr schoss der Hagel gegen die Fensterscheiben meines Schlafzimmers, es blitzte, donnerte und in Wellen rollte ein drohend tiefes Grollen über die Dächer hinweg. Ich schlief unruhig ein. Und dann schreckte ich hoch und lag wach wie gelähmt und wünschte, es würde mich jemand von diesen alten Bildern wegholen oder dort hinbringen, wie auch immer. Nur dass jemand da wäre und mich rettet vor dem Verbluten. Denn ich blute, die alten Bilder bluten, als wäre keine Zeit vergangen und als wäre die Zeit nicht mehr als ein Fake, ein dümmlicher Bluff, eine niemals endende Schmierenkomödie.
Ich bin ein ewig verlassenes Kind. Ich erzähle, um mich zu retten.
Wenn im Frühling der Rotdorn blühte
Am frühen Morgen, wenn die Wohnung noch still ist, das Licht gedimmt und die Gedanken klar, dann sehe ich meinen Fingern dabei zu, wie sie Worte tippen, die Zeilen schauen mich aus dem hellen Bildschirm heraus an. Fragmente erst, Geschichten wie Mosaiksteine, deren Zusammenhang ich nicht verstehe.
Ich erinnere mich, wie im Frühling in unserer Straße der Rotdorn blühte, von den Häuserwänden an der Straße bröckelte entlang der Einschusslöcher schwarzgrauer Putz. Ich erinnere mich an das schmale Mädchen, dass auf den Vater wartet. Um sechs, hat er gesagt. Ihre Füße sind festgenagelt. Er vergisst mich. Er kommt nicht. Er wird nie wieder kommen.
Ich erinnere mich an das weite baumlose Land unter einem hohen Himmel. An die rhythmischen Rufe der Wildgänse im Herbst und die alten Kopfweiden, auf denen wie auf untergehenden Monumenten die Krähen lagerten. Und den Geruch von Pferden, Mist und feuchter Regenerde. Ich erinnere mich an Boris und Becker, zwei zahme rotblonde Hausschweine, die frei auf dem Hof lebten und ihn bewachten. Bis sie geschlachtet wurden und ihre Körper der Länge nach zerschnitten an der Scheunenleiter hingen. Und all die anderen Tiere, die kamen und gingen.
Ich erinnere mich an den Neuzugang auf dem Hof meiner Mutter: ein kleiner Mann mit feuchten Lippen. Und die nächtlichen Schreie, die ihm folgten. Bin ich ein Kind, das Wörter sammelt? Gegen das Schweigen? Das Schreien? Die Starre? Vielleicht bin ich ein Kind, dessen Rettung die Sprache war.
Ich bin bei dir, Ava
Ava hat nicht geschrieben. Sie sagt, sie kann nicht. Sie sagt, sie hat keine Zeit. Sie sagt, sie muss arbeiten, Sport machen, saubermachen. „Es sollen Leute, die was schreiben müssen, schon Reinigungsfirmen gegründet haben“, höre ich mich sagen. Aber das ist nur die eine Seite der Medaille. „Wer sind Sie, wenn Sie sich nicht anstrengen?“, frage ich sie, und eine Weile schaut sie auf ihre Finger und sagt dann leise: „Ich weiß es nicht.“
Wir suchen nach etwas, das verlorengegangen ist. Aber wohl einst da war. Ava schließt ihre Augen und sieht ein ernstes Mädchen mit blond gescheiteltem Haar. Sie kauert hinter ihrem Schreibtisch in einem Zimmer, das verschlossen wurde, und schreibt etwas auf ein Zettelchen. Die Mutter hatte geschrien: „Verschwinde, hau ab, geh mir aus den Augen!“, und seitdem spricht sie nicht mehr.
Und so schreibt das Mädchen: „Liebe Mami, bitte es tut mir so leid, Mami, bitte entschuldige“, faltet den Zettel und schiebt ihn unter der Tür nach draußen. Sie sitzt, sie wartet. Die Schuld macht sie stumm. Sie macht ihre Hausaufgaben, in extra Schönschrift. Sie sortiert alle Kuscheltiere und schüttelt ihr Bett auf, damit alles sauber ist. Die Mutter mag Sauberkeit. Und Ruhe. Vielleicht mag sie Sauberkeit und Ruhe mehr als ihr Kind. Du bist eine Zumutung. Was du fühlst, zählt nicht. Tu, was dir gesagt wird. Ava denkt es nicht. Es ist viel schlimmer. Die Idee rinnt in ihren Körper hinein und macht sie zu der, die sie ist.
Die Mutter schreit, weil sie sich selbst ständig anschreit
„Wo in Ihrem Körper spüren Sie das?“, frage ich. „Überall Druck“, sagt sie, „im Kopf, in der Brust, im Bauch.“ Wir üben atmen. Wir üben erinnern. Wir üben erzählen. Ich werde Ava bitten, der Geschichte einen Titel zu geben. Es ist die Geschichte von der fleißigen, braven, sauberen Ava. Ich werde Ava bitten, das Mädchen anzusprechen. Ihm einen Brief zu schreiben. Liebe Ava, du hast nichts falsch gemacht. Die Mutter schreit, weil sie selbst angeschrien wurde, weil sie sich selbst ständig anschreit. Du darfst tanzen, lachen, spielen. Ich bin bei dir, Ava. Ich bin da. Ich bin erwachsen und ich bin da. Ich werde Ava bitten, in diese Erzählung einzugreifen. Ihr eine Wendung zu geben. Eine rettende Wendung. Denn in Avas Körper steckt das stumme Mädchen noch heute, und wenn sie aufhört zu funktionieren wie eine Maschine, ist sie nur ein ächzender Klumpen Schmerz.
Sie wird ihr eigenes Kind anbrüllen, sie wird gegen ihren Körper antrainieren und gegen die immerwährende Unordnung der Dinge. Weil sie nichts mehr fühlt. Nur ein Tsunami von Wut durchbricht noch ihre Taubheit. Die gläserne Mauer zwischen ihr und ihrer Erinnerung, ihr und ihrem Körper, ihr und ihrer Sehnsucht. Ich werde Ava bitten, sich die Vergangenheit aus ihrem Körper herauszuerzählen, herauszuschreiben, herauszuatmen. Damit sich die Geschichte nicht in einer Endlosschleife wiederholt.
Ava wird sich erinnern. Sie wird von dem braven Mädchen erzählen. Und sie wird es retten. Denn die alte Welt ist längst verschwunden, mit aller Einsamkeit, den Tränen, der Kälte und dem Abschied. Nur in uns lebt sie weiter. Wir können in ihren aufgeschnittenen Körper hineinschauen. Und heilen. Erzählen schafft Verbindung. Und es ist die Verbindung, die uns heilt.
Du bist du Ursache für all das!
Ich greife in meine eigene Erzählung ein. Ich schreibe einen Brief an das unsichere Mädchen, das ich war. Ich sage ihm: Du bist nicht die Ursache! Du bist nicht die Ursache! Du bist nicht die Ursache für all das. Ich erzähle die Geschichte meines erstarrten Großvaters. Die Geschichte meiner trauernden Großmutter. Die Geschichte meiner einsamen Mutter, die in ihrer fantastischen Welt lebt, und des bedeutungslosen Vaters, der ein schwarzes Loch hinterließ.
„Lieber Vater, ich möchte dir sagen, dass ich dich liebe. Was immer du tun oder nicht tun und was immer du sagen oder nicht sagen wirst. Du hast in deinem Leben Entscheidungen getroffen, die für mich sehr schmerzhaft waren. Dieser Schmerz hat mich mein ganzes Leben begleitet. Und es gibt viel, was ich deshalb gebraucht hätte von dir. Aber ich wäre heute nicht die, die ich bin, ohne diese, meine Geschichte. Heute brauche ich nichts mehr von dir. Ich verstehe, dass du mir nicht absichtlich schaden wolltest, und ich möchte dir sagen, dass ich dir verzeihe. Ich möchte dir danken, für alles, was du mir geben konntest. Ich erinnere mich an unsere Schwimmbadbesuche, wie wir zusammen gesungen haben in deinem Auto, Die Vogelhochzeit und Jetzt fahrn wir übern See.
Als meine Kinder klein waren, habe ich diese Lieder mit ihnen gesungen. Ich erinnere mich an deinen salzig-rauchigen Vatergeruch. An die japanischen Märchen, das Höhlenbauen in deiner Mansarde und die lilafarbene Narbe an deinem Rücken. Ich danke dir für alles. Ich sehe, dass meine Wut und mein Schmerz als Erwachsene unserer Beziehung genauso im Wege gestanden haben wie dein hartes Urteil und deine Unfähigkeit, mich zu verstehen. Ich habe keine Erwartungen mehr an dich. Erstmals in meinem Leben fühle ich mich frei. Und wenn ich mich von dir verabschieden muss, so will ich das in Frieden und Dankbarkeit tun. Und nicht in verzweifeltem Schweigen.“
Ich bin das Eine aus dem Vielen
Ich schreibe meine Geschichte. Die Zeilen sehen mich an. Ich werde weiter nach mir suchen, nach der Erzählung meines Lebens. Es ist wie Tauchen in einer unendlichen inneren Welt. Durch die Schicht der alltäglichen Ereignisse hindurch, durch die Schicht der Wahrnehmungen meines Körpers, durch die Schicht der alten Erinnerungen. Hin zu etwas, das ich nicht weiß und kenne, bevor ich es notiere. Manchmal, wenn es mir zu sehr weh tut, höre ich eine Weile auf. Dann tut mir das Schweigen irgendwann weh und ich mache weiter. Und plötzlich, in einem unvorhersehbar lichten Moment schieben sich die Fragmente wie von allein zu einem Ganzen zusammen. Zu einer Geschichte. Zu einem Text, vielleicht über die Kraft der Erzählung.
Ich bin nicht nur mein alltägliches Handeln. Ich bin mehr als das. Ich bin nicht nur mein Körper, der gerade atmet und fühlt, sondern auch alle Vergangenheit. Und alle Ereignisse der Vergangenheit bestimmen mich nicht allein. Ich bin das Eine aus dem Vielen. Und manchmal, für einen beglückenden Moment während des Erzählens, während des Schreibens oder auf einem meiner Wege, fühle ich, dass ich doch ein Ganzes bin.
Verbunden mit den vielen Geschichten vor mir, mit meiner eigenen Geschichte, meinem Körper und mit der lebendigen Welt um mich herum. Mit den Menschen, Tieren und Pflanzen und der Landschaft. Dann bin ich einen flüchtigen Moment in mir zu Hause. Als würde ich in dem zersprungenen Spiegel genau wie in all dem Zerbrochenen um mich herum doch ein ganzes Bild erkennen. Dann verstehe ich für den Bruchteil eines Augenaufschlags das Geheimnis meiner Existenz.
Wir sind alle auf einer Heldenreise
Eine der ältesten Erzählungen der Menschheit ist die Sage von Odysseus. Sie ist uns seit tausenden von Jahren erhalten geblieben. Wohl auch weil sie eine der großartigsten Metaphern des Menschseins ist. Nachdem Odysseus gegen seinen Willen die Heimat verlassen und in den Trojanischen Krieg ziehen muss, findet er den Heimweg nicht mehr. Er verliert die Orientierung. Und zwar völlig. Seine Irrfahrt dauert zehn Jahre. Er trifft auf die Schatten der Toten, steckt bei einer Zauberin fest, wird fast gefressen, ständig übers Ohr gehauen, irrt vor und zurück. Und am Ende bemerkt er nicht einmal, dass er schon längst zu Hause angekommen ist.
Das Verstoßensein aus dem Paradies und die Irrfahrten des Lebens mit den Kämpfen bei der Suche nach sich selbst sind Teil der existenziellen Themen des Menschseins. Von Heimweh geplagt sind wir alle auf einer Reise, einer Heldenreise. Wir verlieren den Boden unter unseren Füßen, die Verbindung zu uns selbst und unserer Geschichte und all unsere Orientierung. Wir leben in der Fremde, in der Entfremdung von uns. Manchmal über Jahre und Jahrzehnte.
Die Erzählung unseres Lebens kann der Balken sein, an den wir uns binden, wenn wir an den Sirenen vorbeisegeln. Sie kann die schwere See sein, in der wir voller Angst den Schiffbruch erwarten. Und sie kann das Schiff sein, das uns sicher zwischen Szylla und Charybdis hindurch nach Hause bringt. Erzählungen sind grundlegend für die menschliche Erfahrungsorganisation. Die Konstruktion einer stimmigen Lebensgeschichte aus der eigenen Biografie hilft dabei, Identität zu bilden sowie Selbsterkenntnis und Orientierung zu gewinnen. Durch das Gerippe der Worte scheint die wahre Geschichte hindurch.
Karoline Klemke wurde in eine Ostberliner Künstlerfamilie geboren. Sie studierte Psychologie und arbeitet seit mehr als 20 Jahren als Psychotherapeutin und in der forensischen Psychiatrie. Im Buch Totmannalarm, das bei dtv erschien, schreibt sie über Ihre Erfahrungen mit Tätern im Maßregelvollzug.
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