Als ich Herrn G. beim Erstgespräch kennenlerne, treffe ich auf einen sympathisch wirkenden, eher ruhigen Mittvierziger. Ich frage ihn, weshalb er zu mir kommt, und er zögert zunächst. Schließlich sagt er: „Wenn Sie erst mal wissen, was ich für einer bin, wollen Sie bestimmt nicht mit mir arbeiten.“ Ich sage: „Das wollen wir dann mal sehen!“ Er lacht, ich lache auch, und das Eis ist gebrochen.
Er erzählt, er sei oft unbändig wütend und könne seine Wut nicht kontrollieren. Er habe sich schon tausendmal…
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er sei oft unbändig wütend und könne seine Wut nicht kontrollieren. Er habe sich schon tausendmal vorgenommen, seine Wut nicht rauszulassen, und trotzdem schreie er seine Frau und seine Kinder immer wieder an. Handgreiflich sei er nie geworden, das sei aber auch sein einziger Trost. Er habe schon wildfremde Menschen auf der Straße angeschrien und sogar bedroht, einmal sei er nur knapp einer Anzeige entgangen. Er schäme sich dafür und wisse nicht, was eigentlich mit ihm los sei. Seine Frau habe ihm die Trennung angedroht, wenn sich nichts ändere. Die Wut komme manchmal wie aus dem Nichts. Darunter leide er sehr, denn er könne sich nie vor der Wut sicher fühlen. Es sei, als ob die Wut überall lauere.
Ich kann nachvollziehen, wie belastend das ist, denn auch ich habe, wie übrigens die meisten Menschen, schon mal hemmungslose, destruktive Wut erlebt. Das teile ich ihm mit, und er schaut mich zunächst nur ungläubig an. Als ich ihm aber eine Szene aus meinem Leben erzähle, in der mich die Wut gepackt hat, hört er sehr interessiert zu. Er spürt wahrscheinlich, dass ich ihm das nicht als „professionelle Masche“ erzähle. Zunächst wird in unseren Gesprächen deutlich, dass er sich für seine Wutausbrüche stark verurteilt. Die Selbstverurteilung verursacht in ihm natürlich unangenehme Gefühle wie Scham und Verzweiflung, die wiederum das Risiko für erneute Wutausbrüche erhöhen. Wir sprechen darüber, dass er die Selbstverurteilung und Scham loslassen könnte. Es ergibt keinen Sinn, sich für etwas zu verurteilen, was man zumindest zum gegenwärtigen Augenblick kaum beeinflussen kann.
Ich erzähle meinem Klienten, dass Wut meistens andere Gefühle überdeckt. In der Psychoanalyse wird daher von der „Deckemotion“ gesprochen, in anderen psychotherapeutischen Richtungen heißt sie auch sekundäre Emotion. Denn dahinter verbirgt sich die tiefere Emotion, eben die primäre, die als Erstes aktiviert wird. Oft verbergen sich hinter Ärger Gefühle wie Scham, Minderwertigkeit, Traurigkeit oder Verzweiflung.
Wie fühlt sich Überforderung an?
Wir vereinbaren, dass er bis zu unserem nächsten Termin alle Wutsituationen aufschreibt, die bis dahin auftreten. Außerdem soll er erforschen, welches Gefühl sich hinter der Wut verbergen könnte. Als wir uns wiedersehen, berichtet er von sieben Wutsituationen in der letzten Woche. Interessanterweise hat allein dieses Bewusstmachen sein Verhältnis zur Wut verändert. Aus der Scham und Selbstverurteilung nach einer Wutsituation ist jetzt Neugierde geworden, besser zu verstehen, was da eigentlich passiert ist. Die Auslöser für seine Wut sind eigentlich immer gleich, nämlich Situationen, in denen er sich als überfordert oder minderwertig erlebt. Und das passiert schnell: wenn er am Arbeitsplatz kritisiert wird oder ihm etwas nicht gelingt, wenn er zu Hause nicht weiterweiß, weil seine pubertierende Tochter auf die Familienregeln pfeift, oder wenn seine Frau ihn an die noch nicht erledigten Einkäufe oder die ausstehende Reparatur im Keller erinnert.
Wie sich Wut anfühlt, kann er genau beschreiben. Aber wie sich die Empfindungen bei Überforderungen anfühlen, vor allem wenn sich dieses Erleben langsam aufbaut, ist ihm zunächst gar nicht klar. Wir finden heraus, dass er sich anfangs nur unzufrieden und angespannt fühlt und schlechte Laune bekommt. Doch wenn er diese Empfindungen länger ignoriert, kommt es irgendwann wieder zur unkontrollierten Wut. Wir vereinbaren, dass er während des Tages mehrmals innehält, um wahrzunehmen, ob sich Unzufriedenheit und Anspannung wieder aufbauen. Er schildert beim nächsten Termin, dass durch diese Übung der Druck deutlich weniger geworden sei. Er erlebt das wie eine Zauberei: Allein durch das Wahrnehmen, was ist, ändert sich das Befinden.
Außerdem erarbeiten wir eine Notfallstrategie, falls die Wut wieder übermächtig werden sollte. Und zwar vereinbaren wir, dass er bei heiklen Situationen in der Familie umgehend den Raum verlässt und eine Runde um den Block geht. Seiner Frau teilt er die Vereinbarung mit, sie ist einverstanden.
Wir arbeiten insgesamt etwa 30 Sitzungen. Herr G. lernt Achtsamkeitsübungen, um seine hohe Grundanspannung zu senken, denn je höher diese ist, desto eher kommt es natürlich zu emotionalen Durchbrüchen. Wir beschäftigen uns mit dem Umgang mit Wut in seiner Herkunftsfamilie, denn die schnelle impulsive Wut hat er als Kind oft bei seinem Vater erlebt. Wir erkunden Grundüberzeugungen zur Wut, und er stellt fest, dass er Wut nicht nur schlecht findet, sondern auch der Überzeugung ist, Wut sei wichtig, um keine Schwäche zu zeigen. Aber davon hat er sich schon halb gelöst. Er weiß längst, wie schwach die Wut eigentlich macht und wie mutig es wäre, zu seinen verletzlicheren Empfindungen zu stehen. Damit beschäftigen wir uns besonders intensiv. Er hat Angst davor, nicht zu genügen, und verurteilt sich bei kleinstem Versagen. Trotz guter Ausbildung hat sich bei ihm nie der entsprechende Verdienst eingestellt. Die Überzeugung, seiner Familie nicht genug zu bieten, ist stark und macht ihm ziemlichen Stress. Die deutlichste Veränderung bewirkt wohl ein Gespräch mit seiner Frau, der er sich mit seiner Angst und seinen Versagensängsten anvertraut. Die Wut diente dazu, sich nicht so klein zeigen zu müssen, und als er sich traut, das zu tun, kann die Wut langsam weniger werden.
Andreas Knuf ist Psychologischer Psychotherapeut und Buchautor mit Praxis inKonstanz. Sein neues Buch Widerstand zwecklos. Wie unser Leben leichter wird, wenn wir es annehmen, wie es ist, ist im Oktober im Kösel-Verlag erschienen