Sich selbst von außen, andere von innen betrachten

Durch Mentalisieren verstehen wir besser, was in uns selbst und in anderen vorgeht. Wie wir die Technik im Alltag für uns nutzen.

Illustration zeigt drei Köpfe als Ballon, die in den Wolken schweben
Was geht wohl in den anderen vor? Leider können wir nicht in ihre Köpfe hineinschauen. © axill/Getty Images

Am Steuer eines Autos erkennen sich viele Menschen nicht wieder. Ziemlich rasch ist die Geduld am Ende. Wenn die anderen Autofahrer mal wieder drängeln, viel zu schnell oder zu langsam fahren, platzt selbst ruhigeren Menschen irgendwann der Kragen. Man ärgert sich, flucht und wirft mit Schimpfwörtern um sich, von denen man selbst überrascht ist, dass man sie kennt. Die fahren doch absichtlich so rücksichtslos! Das Ausbremsen, Abdrängen und Auffahren – das alles scheint direkt gegen einen ganz persönlich…

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Das Ausbremsen, Abdrängen und Auffahren – das alles scheint direkt gegen einen ganz persönlich gerichtet zu sein. Für Psychoanalytikerin Svenja Taubner, Direktorin des Instituts für Psychosoziale Prävention an der Universität Heidelberg, ist das eine eindeutige Situation: „Man hört auf zu mentalisieren.“

Mentalisieren, das klingt sehr technisch und ein bisschen nach Gedankenlesen. Tatsächlich mentalisieren die meisten Menschen ganz selbstverständlich, wenn sie mit anderen zu tun haben, die einen mehr, die anderen weniger. Mentalisieren gehört zu den Grundlagen unseres Zusammenlebens. Denn um tagtäglich mit anderen Menschen gut zurechtzukommen, brauchen wir ein gewisses Maß an Verständnis dafür, was in ihnen vorgeht.

Dabei spielen natürlich Gefühle eine wichtige Rolle. Doch es geht um mehr. Wir brauchen auch eine Vorstellung, was die anderen denken, was sie sich wünschen und was sie vorhaben, welche Überzeugungen sie haben. Im besten Fall greifen wir auf unser eigenes Erleben in ähnlichen Situationen zurück, versetzen uns in das Gegenüber und lassen uns von einer Mutmaßung über seine Motivation und sein Verhalten leiten.

Allerdings gibt es im Alltag immer wieder Momente, in denen die Fähigkeit zu mentalisieren aussetzt. Das ist meistens der Fall, wenn man in Stress gerät oder sich bedroht fühlt, wenn sich Angst oder ein anderes starkes Gefühl breitmacht. „Das sind Situationen, in denen die Reaktionen automatisiert werden und augenscheinlich keine Zeit mehr ist, abzuwägen und nachzudenken“, sagt Svenja Taubner. Manchmal reichen Schlafmangel und ein paar widrige Umstände aus, um uns in diesen steinzeitlichen Überlebensmodus zu versetzen. Und das in allen Lebensbereichen, ob in Beziehungen, Kontakten in der Nachbarschaft oder bei der Arbeit.

Vom eigenen Empfinden distanzieren

Svenja Taubner ist auch Supervisorin und Trainerin für mentalisierungsbasierte Therapie, wissenschaftliche Leiterin der Gesellschaft für Mentalisierungsbasierte und Integrative Therapie und eine gute Ansprechpartnerin, wenn man das Konzept Mentalisieren verstehen möchte. Sie beschreibt ein Beispiel: Im Büro muss eine neue Kollegin eingearbeitet werden. Sie kennt ihre Aufgaben noch nicht und will nichts falsch machen. So bleibt am Ende des Tages vieles unerledigt, was auf Kosten der anderen geht.

„Als Kollegin kann ich mich furchtbar ärgern und mich fragen: Warum tut sie mir das an? Man spricht von psychischer Äquivalenz: Die Welt ist für mich dann so, wie ich sie empfinde“, erläutert Taubner. „Mentalisieren bedeutet dagegen, dass ich mich von meinem eigenen Erleben distanzieren kann. Ich weiß, dass ich nur erahnen kann, was in der Kollegin vorgeht. Ich muss mit ihr sprechen, um ihr Handeln zu verstehen und ihre Perspektive einnehmen zu können. Das ist die Beziehungsarbeit, die wir ständig leisten.“

Ende der 1980er Jahre entwickelten Peter Fonagy und Mary Target am University College in London das Konzept des Mentalisierens. Sie griffen dabei das damals noch relativ neue Modell der theory of mind auf, das die Fähigkeit beschreibt, über mentale Zustände bei anderen Menschen nachzudenken. Das Konzept Theory of Mind beziehungsweise das Fehlen einer Theory of Mind wurde zu dieser Zeit vor allem bei Kindern mit einer Autismusspektrumstörung erforscht. Mit sogenannten false belief tasks konnte gezeigt werden, dass autistische Kinder sich schlechter vorstellen können, dass eine andere Person nicht über das gleiche Wissen verfügt wie sie selbst und deshalb falsche Überzeugungen hat.

Fonagy und Target erweiterten das Konzept, indem sie es um Elemente aus der Entwicklungspsychologie ergänzten. Denn was sie zunächst interessierte, war die Frage, wie ein Kind überhaupt die Kompetenz zur Theory of Mind erwirbt und welche Rolle dabei die Bindungen zu seinen Bezugspersonen spielen könnten. Fonagy und Target gingen davon aus, dass ein Kind erst einmal lernen muss, seine eigenen Gefühle zu verstehen. Das geschieht natürlich nicht im luftleeren Raum. Das Kind braucht ein Gegenüber, um seine inneren Erfahrungen einordnen zu können. Die wichtigsten Bezugspersonen sind die Eltern, aber auch Großeltern und Geschwister spiegeln seine Gefühle.

Die Rolle der Bindungstheorie

Fonagy und Target griffen auch auf die Erkenntnisse des britischen Psychoanalytikers John Bowlby zurück. Bowlby hatte in den 1930er Jahren verhaltensauffällige Jungen in einem Heim kennengelernt, deren Schwierigkeiten er auf eine beeinträchtigte Mutter-Kind-Beziehung zurückführte. In den darauffolgenden Jahrzehnten feilte Bowlby an seiner Bindungstheorie, wonach ein Kleinkind, das in Angst- und Stresssituationen verlässlich von seinen Bezugspersonen geschützt und beruhigt wird, ein sicheres Bindungsverhalten entwickelt, das auch seine späteren Beziehungen als Erwachsener prägt. Ein Kind, auf dessen emotionale Bedürfnisse nicht oder nur unregelmäßig eingegangen wird oder das sogar misshandelt wird, entwickelt dagegen einen unsicheren Bindungstyp.

Inzwischen zeigt die Forschung, dass es einen eindeutigen Zusammenhang zwischen sicherem Bindungsverhalten und der Fähigkeit zu mentalisieren gibt. Peter Fonagy spricht von einer „intergenerationellen Transmission“: Eine Mutter, die selbst sicher gebunden ist, kann ihre eigene Psyche besser verstehen und sich damit auch besser auf die Bedürfnisse ihres Kindes einstellen. In der Spiegelung durch die Mutter kann sich wiederum das Kind der eigenen inneren Zustände bewusstwerden und schließlich lernen, sich auch in andere hineinzuversetzen. Mit anderen Worten: Damit ein Kind die Fähigkeit zu mentalisieren entwickelt, braucht es Bezugspersonen, die mentalisieren können.

In einer Studie befragten die US-Psychologin Carla Sharp, Peter Fonagy und ihr Team sieben- bis elfjährige Mädchen und Jungen zu Bildern von Gleichaltrigen in traurigen Situationen, etwa ein Kind, das abseits einer Gruppe allein auf dem Spielplatz sitzt. Die Teilnehmenden wurden aufgefordert, sich in die gezeigten Kinder hineinzuversetzen und zu sagen, was diese wohl dachten. Außerdem wurden die Mütter gefragt, was ihr eigenes Kind dazu gesagt haben könnte. Dabei zeigte sich ein eindeutiger Zusammenhang: Je besser eine Mutter die Reaktion ihres Kindes vorhersagen konnte, desto ausgeprägter war auch die Fähigkeit des Kindes, die Figuren auf den Bildern zu verstehen.

Entscheidend seien die ersten fünf Lebensjahre, sagt Svenja Taubner. „Der Säugling ist vielleicht müde oder hungrig. Die Eltern sehen das und geben dem Kind ein Feedback. Sie blicken traurig, aber nicht verzweifelt, um die Traurigkeit des Kindes nicht zu verstärken. Damit spiegeln sie sein Erleben und helfen ihm zugleich, sich zu beruhigen.“ Die Eltern geben das Gefühl des Kindes also nicht identisch wieder, sondern markieren ihren Ausdruck als eine Reaktion.

Klarheit über die eigenen Gefühle und Gedanken

Taubner betont, wie wichtig diese markierte Spiegelung für die Entwicklung des Kindes ist: „Gefühle, die von den Eltern nicht ausreichend markiert wurden, bleiben später auch für den Erwachsenen schwer zugänglich. Diese Gefühle werden schlechter wahrgenommen und eher verdrängt.“ Je besser man aber Gefühle aus eigener Erfahrung kennt, desto leichter fällt es, diese auch bei anderen nachzuvollziehen.

Gutes Mentalisieren beginnt also damit, dass man Klarheit über seine eigenen Gefühle und Gedanken erlangt. „Es ist etwas anderes, ob ich traurig bin oder ob ich weiß, dass ich traurig bin, beziehungsweise weiß, dass das, was ich fühle, Traurigkeit ist“, sagt Peter Fonagy. Neben der Klarheit darüber, was man fühlt, gehe es darum, diese Gefühle richtig einzuordnen, erklärt Svenja Taubner: „Was hat das Gefühl mit der aktuellen Situation zu tun? Was hat es mit mir und meinen Erfahrungen zu tun?“ Denn häufig reagieren wir intuitiv, in alten, früh erlernten Mustern, und nicht immer ist das eine angemessene Reaktion. „Mentalisieren bedeutet, meinen Erfahrungen ein Update zu verpassen. Sonst bleiben wir in den Erfahrungen der ersten fünf Lebensjahre stecken und verharren in den alten Schemata.“

Doch je näher man jemandem steht, desto schwieriger wird es, den Überblick zu behalten. Gerade in engen Beziehungen empfinden wir häufig nicht nur ein einziges Gefühl, sondern mehrere gleichzeitig, mitunter auch widersprüchliche. Kein Wunder, dass mitunter Konflikte eskalieren. Zu starke Gefühle seien die „Feinde des Mentalisierens“, meint Peter Fonagy und empfiehlt, in solchen Momenten die Pausetaste zu drücken, innezuhalten und die Aufmerksamkeit darauf zu lenken, was gerade in einem vorgeht.

„Gefühle versetzen ein Tier in unmittelbare Handlungsbereitschaft. Wir Menschen können dagegen einen Puffer zwischen das Erleben und das Handeln setzen“, erläutert Svenja Taubner. Mentalisieren bedeutet also, Gefühle ernst zu nehmen und zu akzeptieren, aber nicht unbedingt danach zu handeln. „Wenn ich mich gekränkt oder gestresst fühle, muss ich eine gewisse Distanz zu mir selbst einnehmen. Ich muss neugierig danach forschen, was das Gegenüber zu seinem Handeln bewegt hat.“

Liegt es vielleicht an mir?

Mentalisieren sei in erster Linie ein Prozess, bestätigt Almut Zeeck, Professorin an der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie des Universitätsklinikums Freiburg. „Ein absolutes Wissen über innere Vorgänge gibt es nicht. Aber ich kann meine Vorstellungen hinterfragen: Woran mache ich das eigentlich fest, dass der andere mich nicht mag? Welche Hinweise habe ich? Was hat er gesagt, dass ich das denke? Welche anderen Interpretationen sind möglich?“ Dabei sollte man auch die Ebenen wechseln: „Kann es sein, dass ich selbst heute besonders empfindlich bin und alles negativer sehe als sonst?“

Denn Mentalisieren erfolgt entlang verschiedener Dimensionen: Es kann sich auf das Selbst oder das Gegenüber beziehen. Im Gegensatz zur Empathie wird dabei die kognitive ebenso wie die emotionale Ebene berücksichtigt. Man achtet auf innere Prozesse und äußere Beobachtungen, also auf das, was einem im Kopf herumgeht, und das, was man wahrnimmt (siehe Praxis-Tipp auf Seite 19).

Es gibt einige typische Denkmuster, in die wir verfallen, wenn wir nicht mentalisieren. Dann gehen wir beispielsweise davon aus, dass alle Menschen die Welt so erleben wie wir selbst. Wir schließen von uns auf andere, statt eine andere Perspektive einzunehmen. Eine andere Falle: Man sucht nach Zeichen in der äußeren Welt, um sich die innere Welt zu erklären. Dann kommen Gedanken wie zum Beispiel: „Wenn er sich in der nächsten halben Stunde nicht meldet, ist das der Beweis dafür, dass er mich nicht mehr liebt.“

Wenig hilfreich ist zudem, einseitig zu mentalisieren, also nur sich selbst beziehungsweise ausschließlich die anderen im Blick zu haben. So geht es manchen Menschen, die mit psychisch kranken Eltern aufgewachsen sind und vernachlässigt wurden. Als Erwachsene haben sie feine Antennen für andere. Ihnen fehlt aber häufig das Bewusstsein dafür, was sie selbst empfinden, wie es ihnen selbst geht. Menschen mit einer Angststörung kann es dagegen helfen, ihre Aufmerksamkeit weg von sich selbst und ihren Ängsten nach außen zu lenken. Wer beispielsweise Angst hat, im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen, kann durch Mentalisieren erkennen, dass die damit einhergehenden Befürchtungen kaum der Realität entsprechen.

Behalten Sie Ihren Hammer!

Gar nicht so selten passiert es, dass man übermäßig mentalisiert. Beim sogenannten Hypermentalisieren stellt man eine Theorie auf, die das Verhalten des anderen erklären soll, aber weit über das Ziel hinausschießt. Man ärgert sich beispielsweise über jemanden und fantasiert: „Der hatte bestimmt eine schwierige Kindheit. Wahrscheinlich wurde er vernachlässigt.“

Ein Klassiker des Hypermentalisierens stammt aus Paul Watzlawicks Anleitung zum Unglücklichsein. Es ist die Geschichte von einem Mann, der sich eigentlich nur einen Hammer beim Nachbarn ausleihen möchte. Doch dann stellt er sich vor, wie der Nachbar seine Bitte ablehnen könnte. Er malt sich immer weiter aus, wie unfreundlich sich der Nachbar womöglich verhalten könnte, und gerät dabei dermaßen in Wut, dass er schließlich hinüberstürmt und den Nachbarn anschreit: „Behalten Sie Ihren Hammer, Sie Rüpel!“ Auch Verschwörungstheorien seien eine Art zu hypermentalisieren, sagt Svenja Taubner. Denn sie entstehen nach einem ähnlichen Muster: In einer Situation großer Angst erklärt man sich das Verhalten anderer nicht aus den naheliegenden Gründen, sondern ersinnt eine andere mehr oder weniger umfangreiche Theorie.

Um die Mentalisierungsfähigkeit zu messen, haben Peter Fonagy und der Psychiater Anthony Bateman einen Fragebogen erstellt, den Reflective Functioning Questionnaire. Interessant ist auch das Testverfahren mit einem Film, dem Movie for the Assessment of Social Cognition, den ein Forschungsteam um die Psychologieprofessorin Isabel Dziobek von der Berliner Humboldt-Universität erarbeitet hat. Das 15-minütige Video zeigt verschiedene Alltagszenen, in denen vier Menschen miteinander zu tun haben. Dazwischen wird der Film angehalten und die Probandinnen und Probanden müssen einschätzen, wie sich die Personen in der vorangegangenen Szene gefühlt haben.

Ein Beispiel: Es klingelt und eine junge Frau öffnet die Wohnungstür. Dort steht ein junger Mann in ihrem Alter, der sogleich eintritt. Die Frau begrüßt ihn mit einem „Hallo“ und „Wie geht’s?“ Der Mann sagt, dass sie toll aussehe, und fragt, ob sie einen neuen Haarschnitt habe. Die junge Frau streicht sich über die Haare und bedankt sich etwas unsicher für das Kompliment. Aber der Mann unterbricht sie und sagt, dass ihre Haare wirklich ganz toll aussähen. Die Testfrage lautet nun: Wie fühlt sich die junge Frau? Die Probandinnen und Probanden können zwischen vier Antworten auswählen:

a) Ihre Haare sehen gar nicht so gut aus.

b) Sie freut sich über das Kompliment.

c) Sie ist wütend, dass der Mann sie so bedrängt.

d) Sie fühlt sich geschmeichelt, aber etwas überrumpelt.

Die Multiple-Choice-Antworten spiegeln nicht nur wider, wie unterschiedlich genau Menschen mentalisieren, sondern auch, was dabei schiefgehen kann. So ist Antwort a) typisch für ein Nichtmentalisieren, Antwort b) typisch für ein geringes Mentalisieren. Antwort c) zeigt dagegen, wie etwa Menschen mit einer Borderlinepersönlichkeitsstörung, denen der Film in Studien gezeigt wurde, häufig reagierten: Sie hypermentalisierten und nahmen starke Gefühle wahr, auf die es aber keine Hinweise gab. Schließlich gilt die Antwort d) als Zeichen für ein gutes Mentalisieren.

Die mentalisierungsbasierte Therapie

Es gibt eine gute Nachricht: Auch wenn man schon erwachsen ist, lässt sich das Mentalisieren noch trainieren. Denn in der Überzeugung, mit einer gestörten Mentalisierungsfähigkeit eine wichtige Ursache für viele psychische Störungen gefunden zu haben, erarbeitete der Psychoanalytiker Peter Fonagy gemeinsam mit seinem Kollegen Anthony Bateman die mentalisierungsbasierte Therapie. Diese noch relativ neue Therapieform hat sich in den vergangenen zwanzig Jahren als eine wirksame Behandlung erwiesen. Obwohl das Verfahren psychodynamisch begründet ist, wird es zunehmend auch von Therapeutinnen und Therapeuten anderer Ausrichtungen wie etwa der Verhaltenstherapie oder der systemischen Therapie erlernt und angewendet.

Für Borderlinepersönlichkeitsstörungen wird die Me­thode inzwischen sogar neben der dialektisch-behavioralen ­Therapie in den Behandlungsleitlinien empfohlen. Denn der Kern der Borderlineerkrankung ist das regelmäßige Gefühls­chaos, und genau da setzt die Therapie an. Gemeinsam mit der Therapeutin oder dem Therapeuten werden emotionale Situationen in Beziehungen besprochen. Die Idee: Indem man immer wieder die Aufmerksamkeit auf die eigenen inneren Zustände und die des Gegenübers lenkt, wird das Mentalisieren zunehmend automatisiert.

Mittlerweile wurde die mentalisierungsbasierte Therapie auch für die Behandlung anderer psychischer Störungen wie etwa Depressionen und Ängste angepasst. Studien geben erste Hinweise, dass das Verfahren dabei wirksam sein könnte. Svenja Taubner behandelt beispielsweise Jugendliche mit einem gestörten Sozialverhalten, die durch starke Aggressionen auffallen: „Sie sind durch Mobbing oder andere schlimme Erfahrungen traumatisiert und haben gelernt, nicht mehr über Gefühle nachzudenken.“

Almut Zeeck ist dagegen Expertin für die Behandlung von Patientinnen und Patienten mit Essstörungen. „Mentalisieren kann unter anderem helfen, ein klareres Gefühl für sich selbst zu bekommen. Wer bin ich eigentlich? Was empfinde ich gerade? Zudem lassen sich scheinbar unverrückbare Annahmen infrage stellen: Warum bin ich eigentlich der Überzeugung, dass man mich nur mag, wenn ich weniger wiege?“

Doch Mentalisieren ist nicht etwas, das man erlernt und dann für alle Zeit beherrscht. Die Fähigkeit allein reicht nicht aus, man muss sich auch die Mühe machen, es zu tun. Und das bleibt eine Herausforderung: „Obwohl das Mentalisieren zu unserer menschlichen Natur gehört, ist es beileibe keine einfache, banale und schmerzfreie Aktivität“, schreiben ­Fonagy und Kollegen in ihrem Buch Mentalisieren in der psychotherapeutischen Praxis. Mentalisieren ist eine forschende Haltung, die man sich angewöhnen kann. Eine Haltung, bei der man immer wieder bewusst seine Aufmerksamkeit auf sich selbst und das Gegenüber lenkt. Dazu gehört auch, dass man weiß, dass man niemals sicher wissen kann, was im anderen vorgeht. Das Bild, das man sich von ihm oder ihr macht, muss immer wieder überprüft werden. Und das nicht nur im Straßenverkehr.

Wie Mentalisieren in Konflikten hilft

Bei zwischenmenschlichen Problemen profitieren wir besonders davon, uns in unser Gegenüber hineinzuversetzen. Doch ausgerechnet in solchen Situationen versagt diese Fähigkeit oft. Was wir dann tun können

Woran man erkennt, dass man nicht mehr mentalisiert

  1. Man ist nicht mehr neugierig auf die Motive anderer

  2. Man ist sich sicher, zu wissen, was im Kopf des Gegenübers vorgeht

  3. Man fängt an zu verallgemeinern, zu etikettieren und zu stereotypisieren. Typische Gedanken sind dann: „Immer hast du…“ „Nie tust du…“ Oder etwa: „Alle Zahnärzte sind brutal“

  4. Man lässt die eigene Rolle, die man in einer Beziehung spielt, außen vor. Man sieht sich nur als Opfer, als wäre man nicht an dem Konflikt beteiligt

Was hilft, um ins Mentalisieren zu kommen

  1. Wenn die Gefühle zu sehr hochkochen, drücken Sie die Pausetaste: Versuchen Sie zunächst, sich zu beruhigen. Fragen Sie sich dann: Was ist passiert?

  2. Nehmen Sie sich die Zeit, um in Ruhe zu überlegen: Welche weiteren Gefühle hatten Sie neben den offensichtlichen? Wie gehen Sie am besten mit Ihren Gefühlen um?

  3. Sprechen Sie laut aus, wie es Ihnen geht. Wenn die Umstände das nicht erlauben, sagen Sie es sich innerlich

  4. Lenken Sie Ihre Aufmerksamkeit möglichst ausgewogen auf sich selbst und andere

  5. Fragen Sie zuerst nach dem Wie: Wie fühle ich mich, wie fühlt sich mein Gegenüber? Und dann nach dem Warum: Warum hat er oder sie das getan?

  6. Versetzen Sie sich in die Lage anderer, aber seien Sie vorsichtig. Ihre Wahrnehmung könnte verzerrt sein. Wer beispielsweise besonders selbstkritisch ist, glaubt schneller, dass auch die anderen ihn kritisch sehen

  7. Verankern Sie Ihre Vorstellungen in der Realität. Fragen Sie beispielsweise nach, ob eine Person tatsächlich verärgert oder verletzt ist

  8. Wenn Ihr Gegenüber in einem Konflikt nicht mentalisiert, mentalisieren Sie. Es ist die beste Möglichkeit, den anderen dazu anzuregen

  9. Kommen Sie nicht zu einer abschließenden Überzeugung. Mentalisieren bleibt ein Jonglieren: Welche anderen Interpretationen sind für das Verhalten möglich?

  10. Versuchen Sie nicht, Gefühle durch Nachdenken wegzudrücken, sondern zeigen Sie Mitgefühl

  11. Seien Sie auch empathisch mit sich selbst. Es ist schwer, immer zu mentalisieren. Seien Sie nachsichtig mit sich, wenn es mal nicht klappt

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute Compact 76: Menschen lesen