Frau Rabaioli-Fischer, stimmt es, dass mir ein Blick in ein altes Fotoalbum helfen kann, heute ein besseres und erfülltes Leben zu führen?
Ja, das kann tatsächlich funktionieren, und zwar in mehreren Schritten. Zunächst werden beim Betrachten der Bilder Erinnerungen in Ihnen aufsteigen, begleitet von Gefühlen, manche davon vielleicht schmerzhaft, andere eher erfreulich. Ihnen werden Gedanken durch den Kopf gehen. Das passiert ganz automatisch. Dann ist es wichtig, sich bestimmte Fragen zu stellen – und etwas…
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den Kopf gehen. Das passiert ganz automatisch. Dann ist es wichtig, sich bestimmte Fragen zu stellen – und etwas zum Schreiben neben sich liegen zu haben.
Welche Fragen sollte ich mir denn stellen?
Zum Beispiel: Was will ich auf diesen Bildern entdecken? Welche Bezugspersonen finde ich darauf? Was haben sie mir mitgegeben für mein heutiges Leben? Was davon möchte ich übernehmen – und was nicht? Manchmal bin nur ich auf den Bildern. Was fühle ich, wenn ich mich so sehe? Wie empfinde ich diese Person?
Und zu all dem soll ich mir Notizen machen?
Das ist ein ganz wichtiger Punkt. Halten Sie fest, was Sie in diesen Momenten denken und fühlen. Das sind wertvolle Informationen – die ansonsten leicht verlorengehen. Mit der Zeit können Sie aus diesen Notizen und Beobachtungen so etwas wie Ihr eigenes Lebensbuch schreiben.
Ich habe kürzlich ein Foto gesehen, auf dem ich zehn oder elf war. In meiner Erinnerung hatte ich eine glückliche Kindheit. Aber der Junge auf dem Bild stand abseits und sah nachdenklich aus, vielleicht sogar traurig. Ich habe mich darüber erschrocken.
Was Sie da beschreiben, passiert ganz häufig. Man entdeckt Dinge, die einem gar nicht mehr präsent waren. An dieser Stelle können Sie überlegen: Wo war ich da eigentlich? Was hat mich bewegt? Welche Vorstellungen hatten meine Eltern von mir? Und dann würde ich auch immer den Blick auf die Ressourcen richten: Was konnte dieser kleine Junge denn schon alles? Und dann – das ist ganz wichtig – kommt der Sprung zum heutigen Leben: Damals hat sich der kleine Jochen vielleicht einsam gefühlt. Welche Situationen gibt es denn heute, wo Sie sich allein und traurig fühlen?
Sie meinen: Es gibt einen Grund, warum dieses Bild mich so angesprochen hat?
Vermutlich. Und vielleicht kommen Ihnen noch weitere Erinnerungen, die auch etwas mit dem Thema Einsamkeit zu tun haben. Und dann vielleicht die Erkenntnis: Einsamkeit war für mich als Kind bedrohlich, deshalb habe ich in meinem Leben geschaut, viel mit anderen zusammen zu sein. Ich habe den Austausch mit anderen schätzen gelernt.
Das stimmt, ich bin als Erwachsener ein ziemlich geselliger Mensch. Interessant, so habe ich darüber nie nachgedacht. Das alte Bild vom einsamen Jungen kann mir verraten, warum ich wurde, wer ich bin.
Das ist ein Ziel dieser Methode, für die es ja ganz viele Namen gibt. Man kann „biografisches Arbeiten“ dazu sagen, „Lebensrückblick“ oder „narrative Psychologie“.
In Ihrem Buch zum biografischen Arbeiten beschreiben Sie neben dem Fotoalbum noch weitere Quellen für diese Detektivarbeit: alte Tagebücher, Schulzeugnisse, Liebesbriefe und Videos oder Kassettenaufnahmen.
Ja, bei den Tonaufnahmen, da hören Sie plötzlich Ihre Stimme von früher, dabei geht einem dann die Pumpe, da schlägt das Herz plötzlich schneller.
Sie arbeiten mit diesen Methoden ja im Rahmen der Verhaltenstherapie. Wie gut funktioniert das für Menschen, die auf diesem Weg sich selbst erkennen wollen, und zwar ohne Therapie oder Coaching?
Das kann sehr gut funktionieren. Und vor allem: Es macht Spaß. Ich würde – wenn ich das allein mache – immer darauf achten, mir selbst eine Struktur zu geben, damit man nicht abdriftet, sondern bei der Sache bleibt. Zum Beispiel beim Abtauchen in die alten Quellen, in Fotoalben, Tagebücher und so weiter: Das würde ich immer zeitlich begrenzen und mir einen Wecker stellen, der nach 30 Minuten klingelt.
Warum ausgerechnet nach 30 Minuten?
Weil wir aus der Lernpsychologie wissen, dass danach die Konzentration nachlässt, man verliert dann leicht den Faden. Man entdeckt plötzlich diesen alten Klassenkameraden auf einem Bild. Und dann fängt man an, nach ihm zu googeln, statt wirkliche Biografiearbeit zu machen. Eine Struktur ist ganz wichtig.
Verstehe. Durch diese enge Struktur begleite ich mich sozusagen selbst, wie eine Therapeutin das tun würde: Sie hilft mir, bei der Sache zu bleiben.
Ja, denn das Ziel ist ja nicht, irgendwelchen nostalgischen Erinnerungen nachzuhängen, sondern mehr Transparenz und Klarheit über sich als Person zu bekommen. Dadurch kann man seine heutigen Handlungen besser verstehen und auch besser entscheiden, wie man in Zukunft sein und handeln möchte.
Ich habe mir nun also zwei- oder dreimal 30 Minuten genommen und mir Bilder aus Kindergarten und Grundschulzeit angesehen. Ich habe mir Notizen gemacht und gemerkt, was diese Zeit mit meinem heutigen Leben zu tun hatte. Was kommt als Nächstes?
Dann können Sie weitergehen in andere entwicklungspsychologische Phasen. Wie war das in der Pubertät? Im Studium oder der Ausbildung? Was war los, als Sie in den Beruf eingestiegen sind? Als Sie eine Familie gegründet haben? Fragen Sie auch immer nach den entsprechenden Bezugspersonen: Wer war da wichtig für Sie? Wer hat Sie unterstützt? Und immer wieder die Frage: Wie wirkt das auf mich heute? Wie hat mich das geprägt? Bis Sie für sich eine Art Geschichte Ihres Lebens vorliegen haben.
Und damit habe ich mein Projekt abgeschlossen?
Nicht ganz. In diesem Moment brauchen Sie ein Gegenüber, eine Resonanz von außen. Ich würde meine Geschichte deshalb immer mit anderen Menschen diskutieren. Dadurch bekommt man ganz neue Anregungen. Wenn ein Freund aus Kindertagen zum Beispiel sagt: „Du warst immer so angepasst“, dann bringt Sie das vielleicht dazu, in Ihrem alten Tagebuch zu blättern und zu überprüfen, ob das stimmt. Vielleicht entdecken Sie dabei, dass Sie Ihren Lehrern häufig widersprochen haben. Und dann können Sie vielleicht sagen: „Ja, ich war angepasst – und dennoch war da auch Kraft für Widerstand.“
Das heißt: Ich suche mir ab einem gewissen Punkt Menschen, die mich auf meinem Weg begleiten. Wie entscheide ich, wen ich dazu einlade?
So etwas ist immer auch ein Experiment. Ich würde mir da jemanden suchen, der sich für diese Form der Arbeit interessiert und der mir wohlgesonnen ist. Und ich würde das auch nicht auf eine einzige Person beschränken. Wenn zum Beispiel Ihre Eltern noch leben und Sie einen guten Zugang haben – das wäre interessant, sich die Geschichte noch einmal mit ihnen gemeinsam anzusehen, weil die Eltern Sie eben seit dem Durchtrennen der Nabelschnur erlebt haben.
Wie belastend sind solche Gespräche?
Die Gespräche machen den meisten Menschen Spaß. Und wie gesagt: Es ist gut, das mit verschiedenen Personen zu machen, mit der Partnerin und mit Freunden, vielleicht sogar mit Arbeitskollegen. Allerdings in einem zeitlich begrenzten Rahmen. Man redet für 45 Minuten und hört auf, bevor man unkonzentriert wird. Und dabei würde ich auch immer aufmerksam sein für mein Gegenüber und sagen: „Wenn’s für dich langweilig wird, sage es mir bitte.“ Und zwar nicht nur aus Rücksicht, sondern auch für sich selbst. Denn Sie bekommen ja keine interessanten Rückmeldungen mehr, wenn der andere nicht mehr bei der Sache ist.
In Ihrem Buch beschreiben Sie eine Übung, in der man seine „Lebenslaufkurve“ zeichnet. Können Sie das genauer erklären?
Dafür brauchen Sie erst mal einen großen Papierbogen, mindestens DIN A3, dazu ein paar Buntstifte. Und dann zeichnen Sie unten eine Querachse, wie einen Zahlenstrahl von der Geburt bis heute. Links malen Sie eine vertikale Linie. Die zeigt an, wie gut oder schlecht es Ihnen in der jeweiligen Lebensphase gegangen ist. Und dann tragen Sie besondere Lebensereignisse ein in dieses Diagramm: die Geburt jüngerer Geschwister, die Einschulung, die erste Liebe, wie Sie an der Uni durch eine Prüfung gefallen sind, Ihre Hochzeit, wie Ihr erstes Kind auf die Welt kam und so weiter.
Suchen Sie sich für jedes Ereignis ein passendes Symbol. Oder Sie nehmen einfach eine Sonne für die guten Momente und eine Wolke für die nicht so guten. Man kann das wirklich kreativ gestalten. Mit so einer Lebenslinie bekommen Sie Ihr ganzes bisheriges Leben auf einen Blick, und Sie können sich das immer wieder anschauen, auch mit einer inneren Distanz.
„Innere Distanz“ bedeutet: Ich sehe mein früheres Ich und kann mich selbst dadurch anschauen wie eine dritte Person, mit einem viel objektiveren Blick und größerer Klarheit?
Natürlich. Und da kommt noch etwas anderes hinzu: Vielleicht wundert man sich, warum man gerade diesen einen Kollegen nicht leiden kann. Einer meiner Patienten – er hatte Flucht und Vertreibung erlebt – hat sich irgendwann an seine Oma erinnert. Die hat immer gesagt, wenn etwas Schreckliches passiert ist: „Immer lachen, und dann gucken wir weiter.“ Und das hat ihn durchs ganze Leben getragen. Und so hat er verstanden: Er braucht Menschen um sich, die Humor haben. Und wenn der Kollege keinen Humor hat, dann ist es okay, nicht so viel mit ihm anfangen zu können.
Das heißt: Ich bekomme durch den Blick auf meine Vergangenheit einen liebevolleren Blick auf mich selbst. Auch auf meine Macken und Schwächen.
Ja, nach dem Motto: „Ich bin Mensch. Es ist okay.“
Ich muss jetzt auch an einen Spruch meines Großvaters denken. Er hat mir immer gesagt: „Iss, damit du was wirst! Nichts bist du schon lange!“
Und dann können Sie sich fragen: Was denke und spüre ich heute, wenn ich mich an diesen Satz erinnere? Und wo liegt darin das Positive für mich? Hat er mich belastbarer gemacht? Habe ich mich weiterentwickelt, weil ich es meinem Großvater zeigen wollte? Und so weiter.
Ja, der Spruch klingt hart, aber er war nicht nur schädlich für mich.
Und dann können Sie sich fragen: Welche Wertvorstellung steht hinter diesem Satz? Habe ich die für mich übernommen? Oder mich davon entfernt? Was davon habe ich an meine Kinder weitergegeben?
Man könnte im Rückblick auch ins Hadern kommen und sich beklagen: „Guck mal, was ich alles zu erleiden hatte!“
Wenn Sie solche Sätze als schwere Belastung empfinden, sollten Sie vielleicht eine Therapie machen. Die Frage lautet immer: Welche guten Eigenschaften habe ich aus all dem mitgenommen? Und ich finde noch etwas anderes wichtig: den Großvater zu verstehen und seine Geschichte. Warum war das Essen so wichtig für ihn? Vielleicht hat er gehungert als Kind, das ist eine schlimme Erfahrung. Und dieser Gedanke: „Du bist nichts.“ Als der Krieg vorbei war, hat er ja vielleicht wirklich seine Geschichte verloren. Vielleicht war er bei den Tätern und konnte nichts mehr davon erzählen. Da war nur noch der Wiederaufbau – und der Versuch, die eigene Schuld oder die eigenen Anteile zu vergessen. Vielleicht ist er zuvor in der Diktatur tatsächlich zu einem Nichts geworden, zu einem Menschen in der Masse.
Sie meinen also, dass wir durch die biografische Arbeit mehr Verständnis für die Menschen entwickeln, die uns geprägt haben?
Das ist eines der Ziele, natürlich.
Mit welchen Gefahren ist ein so intensiver Blick in die eigene Geschichte verbunden?
Das kommt auch auf die Persönlichkeitsstruktur an. Wenn jemand emotional wenig stabil ist, dann kann es sein, dass solche Erinnerungen als furchtbar empfunden werden. Dann würde ich das lieber geführt und mit Begleitung machen. Überhaupt ist das eine Empfehlung, immer darauf zu achten: Wie geht es mir, wenn ich mir mein Leben anschaue? Ist das noch fruchtbar? Oder wird es mir zu viel? Dann mache ich vielleicht ein halbes Jahr Pause oder gehe in den Austausch mit meinen Bezugspersonen.
Und am Ende habe ich dann eine Art Buch meines Lebens geschrieben?
Ja, wenn Sie gerne schreiben. Anderen entspricht es mehr, die eigene Lebenslinie mit all den wichtigen Stationen zu zeichnen. Wieder andere bringen eine Mischung aus gesammelten Fotos und Texten hervor.
Wenn ich mit diesem Wissen andere Menschen unterstützen will bei ihrer eigenen biografischen Arbeit: In welcher Haltung mache ich das am besten? Soll ich eher zuhören oder meine Meinung vertreten und widersprechen?
Gehen Sie ruhig in den Widerspruch, wenn es sich so ergibt. Wenn Sie das etwa mit Ihrem Bruder machen, kann es vielleicht sogar Streit geben. Auch darüber kann man zu einem besseren Umgang miteinander finden und die Beziehung vertiefen.
Wollen Sie mehr zum Thema erfahren? Dann lesen Sie gerne aus derselben Ausgabe:
Wie uns Arbeit mit unserer Biografie stärkt in Im Erzählen finde ich mich selbst
Wie die Übung der Lebenslaufkurve funktioniert in Wie ich wurde, wer ich bin
Barbara Rabaioli-Fischer arbeitet als Supervisorin und Psychotherapeutin in München. Ihr Fachbuch Biografisches Arbeiten und Lebensrückblick in der Psychotherapie. Ein Praxishandbuch ist bei Hogrefe erschienen.