„Jede Pause kostet mich Überwindung“

Arbeitssucht: Wie zu viel Arbeit krank macht und das Leben einschränkt. Eine Rechtswissenschaftlerin aus Franken berichtet über ihre eigene Erfahrung.

Die Collage zeigt eine Frau am Arbeitsplatz, vor ihrem Laptop sitzend, ihren Kopf auf ihre Hände stützt und gestresst ist
Die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit verschwimmen. Alles dreht sich um den Beruf und nie kommt man wirklich zur Ruhe. © Christian Barthold für Psychologie Heute

Bevor ich mich auf meine aktuelle Stelle beworben habe, musste ich die Arbeitsbedingungen prüfen. Geregelte Arbeitszeiten und freie Wochenenden sind wichtig für mich, denn ich muss mich schützen. Seit meinem Studium weiß ich: Ich bin arbeitssüchtig.

Meine Probleme begannen früh. Bereits als Kind habe ich Aufgaben wahnsinnig viel Bedeutung beigemessen und hatte Angst, sie nicht zu schaffen. In der Schule war ich fleißig und dadurch wirklich gut, aber die Angst hat mich immer begleitet. Als mir das Studium schwerfiel, habe ich zwanghaft gelernt und gelernt, bis ich kein Privatleben mehr hatte und nur noch funktioniert habe. Da wurde mir klar: Ich brauche Hilfe. So bin ich dann auf die Treffen der Anonymen Arbeitssüchtigen gestoßen. Mit der Unterstützung der Gruppe konnte ich das Studium abschließen und habe gelernt, mit der Arbeitssucht umzugehen. Aber sie begleitet mich wei­ter jeden Tag, sie schränkt mich ein und nimmt mir Lebensqualität.

"Die Bedürfnisse anderer sind für mich wichtiger als meine eigenen."

Mir fehlt der natürliche Umgang mit Arbeit, den ich bei meinen Kolleginnen und Kollegen beobachte: anfangen, arbeiten, aufhören, fertig. Manchmal reagieren sie erst sehr spät oder überhaupt nicht auf Anforderungen, einige Aufgaben lassen sie liegen. Das ist für mich unvorstellbar. Diese Möglichkeit habe ich gar nicht. Eher überschreite ich meine eigenen Grenzen, als nein zu sagen.

Die Bedürfnisse anderer sind für mich wichtiger als meine eigenen. Wenn ich eine Aufgabe sehe, kümmere ich mich darum. Egal ob sie in meinen Bereich fällt oder nicht. Ich muss wichtig sein, helfen, recht behalten. Das steckt ganz tief in mir drin. Schon beim Aufwachen grüble ich über Arbeitsthemen nach, Probleme kann ich nur schwer loslassen. Ich empfinde mich selbst oft als verbissen.

Für mich fühlt sich Arbeit oft dramatisch an: Ich habe große Angst vor den Aufgaben – aber das Projekt ist in Not! Ich muss es retten! Wenn ich es geschafft habe, bekomme ich zuerst ein Gefühlshoch und dann ein -tief, weil ich total erschöpft bin. Die ungesunde, überdrehte Mischung aus Angespanntheit und Aufgeregtheit begleitet mich jeden Tag. Ich habe das Gefühl, dass sich die Arbeit wie ein riesiger Berg vor mir auftürmt, gegen den ich ständig ankämpfe.

Mehrfach habe ich die Stelle gewechselt, aktuell arbeite ich in der Digitalbranche, aber ich kann mir keinen Beruf vorstellen, der mir Spaß machen würde oder zu dem ich mich berufen fühle. Ich arbeite schnell und viel, damit ich diesen Adrenalinausstoß bekomme, aber die Arbeit an sich macht mir keine Freude.

Die größte Aufgabe: Aufhören

Allerdings weiß ich inzwischen, wie ich sie bewältigen kann. Zum Beispiel mache ich mir eine Liste mit allen Aufgaben und priorisiere sie. An diese Reihenfolge halte ich mich. Mit einem unangenehmen Punkt fange ich an. So kommt nicht ständig etwas hinzu und ich schiebe nichts auf. Außerdem versuche ich, Pausen zu machen. Alle anderthalb bis zwei Stunden stehe ich vom Schreibtisch auf. Wenn ich im Homeoffice bin, mache ich mir vielleicht einen Tee oder bereite das Mittagessen vor. Im Büro tausche ich mich mit Kollegen aus. Aber nur kurz. Auf einen Kaffee kann ich mich nicht mit ihnen verabreden, sonst würde ich mich zu sehr unter Zeitdruck fühlen.

Eine jede Pause kostet mich Überwindung – ich könnte ja stattdessen noch schnell dies oder das erledigen, eben etwas fertig machen. In mir höre ich immer neue Anforderungen, auf die ich reagieren muss. Daher muss ich mir diese Zeiten bewusst nehmen, weil ich weiß, dass sie mir guttun.

Die größte Aufgabe ist für mich das Aufhören. Oft komme ich zu spät zu Verabredungen, weil ich kein Ende finde. Einmal habe ich deshalb eine Schulvorführung meines Kindes verpasst. Das tut mir bis heute leid. Sonst hilft mir mein Muttersein aber, mir selbst Grenzen zu setzen, weil die Kinder mich ebenfalls fordern. Ich bin verheiratet und habe zwei Kinder. Die Elternzeiten nach den Geburten habe ich richtig genossen. Ich glaube, ich könnte super leben, wenn ich nicht arbeiten müsste. Aber ganz zu Hause bleiben kann ich aus finanziellen Gründen nicht. Ich muss Geld verdienen.

Für mich ist es ein Fortschritt, dass ich überhaupt eine Familie gründen konnte. Es zeigt, dass ich gesünder geworden bin. Trotzdem geht es nicht nur aufwärts. Jederzeit kann wieder ein Rückfall kommen. Während der Pandemie war ich zum Beispiel durch Arbeit und Homeschooling total überlastet. Trotzdem hat es mehr als ein Jahr gedauert, bis ich das überhaupt wahrgenommen habe.

Arbeit und Freizeit verschwimmen

Im Beruf hat mich noch nie jemand gefragt, ob ich ein Problem mit der Arbeit habe. Privat gehe ich offen mit dem Thema um. Mein Mann, unsere Kinder und unser Freundeskreis wissen, dass ich arbeitssüchtig bin. Es hilft ihnen, mein Verhalten zu verstehen und mich darauf anzusprechen. Zum Beispiel wenn ich kein Ende finde, obwohl ich längst Feierabend machen müsste. Da die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit für mich leicht verschwimmen, versuche ich außerdem, zu Hause nicht über die Arbeit zu sprechen. Manchmal erzähle ich meinem Mann etwas von Begegnungen und Erlebnissen im Büro – aber über Arbeitsthemen spreche ich nur sehr selten.

Bis heute besuche ich die Treffen der Anonymen Arbeitssüchtigen, früher in Präsenz, heute ganz überwiegend online. Diese Treffen sind für mich eine Auszeit von meinem unablässigen Tun. Ich merke, wie ich aufatme und loslassen kann. Im Gegensatz zu Alkoholikerinnen und Alkoholikern können wir das Suchtmittel zwar nicht vermeiden – die meisten von uns müssen arbeiten –, aber wir können gemeinsam und mithilfe des Zwölf-Schritte-Programms einen gesunden Umgang damit finden. Mir hilft die Vorstellung, dass ich mich nicht auf meine eigene Willenskraft verlassen muss und dass ich mit der Sucht nicht allein bin.

Sucht ist nicht heilbar, ich werde nie ganz frei sein. Aber heute kann ich damit leben.

Lesen Sie hier, wie Sie Arbeitssucht erkennen und wo Sie nach Hilfe suchen können:

Interview mit Ute Rademacher: Wie wir Arbeitssucht erkennen

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 10/2023: Raus aus der Erschöpfung
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