Ein Produkt der Geschichte
Nach Meinung der meisten Psychologinnen und Psychologen ist das Selbst ein Konstrukt, es ist die Annahme, die wir uns über uns machen. Wie diese aussieht, ist auch durch den Zeitgeist bedingt. Der amerikanische Sozialpsychologe Roy Baumeister hat Quellen aus der Geschichtswissenschaft analysiert sowie Motive, die in der Literatur verschiedener Epochen vorkommen. Daraus hat er abgeleitet, wie sich verschiedene Vorstellungen rund ums Selbst entwickelt haben, die Menschen in …
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rund ums Selbst entwickelt haben, die Menschen in westlichen Gesellschaften beschäftigen.
Selbsterkenntnis
Spätestens seit Freud gehen wir davon aus, dass wir uns manchmal über uns selbst täuschen. Nicht immer ist uns bewusst, warum wir etwas tun. Viele Menschen in früheren Zeiten haben sich darüber keine Gedanken gemacht, meint Baumeister. Beim „Erkenne dich selbst“ der Antike sei es um etwas Funktionaleres gegangen: Man wollte um seine Fähigkeiten und Talente wissen, um Pflichten effektiv ausführen zu können.
Im Mittelalter hätten verschiedene Entwicklungen die Einzigartigkeit des Individuums zunehmend in den Fokus gehoben, beispielsweise christliche Vorstellungen über den Tod: Während die Menschen im frühen Christentum annahmen, die Erlösung erfolge kollektiv, verbreitete sich im 12. Jahrhundert der Glaube, das Jüngste Gericht beurteile die einzelne Person. Ungefähr im 16. Jahrhundert kam die Idee auf, das innere Selbst sei etwas anderes als das, was jemand in der Öffentlichkeit zeigt.
Eine Bewegung, die zu einem nie zuvor dagewesenen Bewusstsein über das Selbst geführt habe, sei die puritanische Prädestinationslehre, so Baumeister. Demnach ist man von Geburt an entweder auserwählt, nach dem Tod ein ewiges Leben zu führen, oder nicht. Es ist hart, darüber in Ungewissheit zu sein, und so reflektierten die Puritanerinnen viel über sich selbst. Dabei merkten sie, dass sie besonders nach vorteilhaften Zeichen suchten. Nun war die Möglichkeit in der Welt, dass man sich etwas über sich selbst vormacht.
Selbstverwirklichung
Mit der Selbstentfaltung sind drei Fragen verbunden: Was ist das spezifische Potenzial, nach dem man strebt? Wie erfüllt man dieses? Wie geht man mit der Frustration und Enttäuschung um, es nicht zu erreichen? Das mittelalterliche Christentum gab klare Antworten: Das Ziel war für alle Menschen dasselbe: Erlösung im Himmel. Erreicht wurde die, indem man an den christlichen Ritualen teilnahm. Das Problem der Frustration wurde zumindest theoretisch umgangen, weil die Erfüllung erst nach dem Tod stattfinden sollte. Dadurch musste man die Enttäuschungen im Leben nicht so ernst nehmen.
Mit der zunehmenden Irrelevanz der christlichen Moral schwand auch die Vorstellung, man habe bestimmten Verpflichtungen nachzugehen, die einem der gesellschaftliche Rang auferlegte, in den man geboren worden war. Der Sohn des Goldschmieds brauchte nicht mehr Goldschmied zu werden. Die Menschen fingen an, ihr eigenes Potenzial zu suchen. Eine entscheidende Ära für das, was wir heute unter Selbstverwirklichung verstehen, war die Romantik, die im späten 18. Jahrhundert aufkam und im 19. Jahrhundert ihre Blüte fand.
Ihre Ansichten von Selbstentfaltung durch Arbeit und leidenschaftliche Liebe beschreiben unser Konzept nahezu vollständig. Die meisten heute lebenden Menschen gehen davon aus, dass zu einem erfüllten Leben romantische Liebe gehört. Das ist nicht immer so gewesen. In früheren Zeiten waren arrangierte Ehen üblich und eine erfüllende Liebe das Privileg einiger weniger.
Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaft
Das Verhältnis des mittelalterlichen Menschen zur Gesellschaft war Baumeister zufolge meist unproblematisch. Einerseits weil man damals davon ausging, gar nicht unabhängig von ihr zu existieren. Man glaubte, dass jeder Mensch einen festen und gottgewollten Platz in ihr habe. Wenn man nur die einem zugewiesene Rolle erfülle, habe man ein gutes und bedeutsames Leben. Diese Überzeugungen erodierten. Mit der Moderne löste sich das Individuum von seiner starren Funktion im sozialen Netz. Zudem verschwanden die klaren Vorgaben eines guten Lebens, und die Menschen erwarteten Erfüllung im Diesseits.
Laut Baumeister konnten die Interessen des Individuums nun plötzlich in Konflikt mit den Normen der Gesellschaft kommen – eine Vorstellung, die der mittelalterliche Geist verneint hätte. Eine Zeitlang, etwa in der viktorianischen Epoche Mitte bis Ende des 19. Jahrhunderts, suchte man sein Glück im Privaten.
Später, mit der immer stärker werdenden Industrialisierung erkannten die Menschen, dass sie der Gesellschaft nicht entfliehen konnten. Im frühen 20. Jahrhundert fühlten sie sich ihr ausgeliefert, die Arbeiterbewegung beklagte Entfremdung und kritisierte die Verhältnisse. Seit dem Zweiten Weltkrieg, meint Baumeister, habe das Individuum seine Abhängigkeit von der Gesellschaft akzeptiert und versuche innerhalb von deren Schranken Erfüllung zu finden.
Identität
Es gibt verschiedene Aspekte der Identität und je nach historischem Kontext sind andere zentral. Zum einen gibt es jene, für die man nichts kann, etwa die Herkunft und das Geschlecht, mit dem man geboren wird. Aus ihnen ergaben sich für viele Jahrhunderte Rollen, die man innerhalb der Gesellschaft einzunehmen hatte. Ein anderer Teil der Identität entsteht durch einmalige Ereignisse im Lebensverlauf, zum Beispiel wird man Mutter, wenn man ein Kind gebiert.
Im Mittelalter setzte sich die Identität größtenteils aus diesen beiden Anteilen zusammen. In der frühen Moderne kamen weitere hinzu. Zum einen brachte die soziale Mobilität mit sich, dass man sich über Leistung, Erfolge und Wohlstand definieren konnte. Daneben gibt es spätestens seitdem Teile der Identität, die durch Entscheidungen entstehen. Manchmal ist eine Wahl möglich, aber nicht nötig. Der Bauernsohn, der beschloss, in die Stadt zu ziehen und in der Industrie zu arbeiten, ist ein solches Beispiel. Oder die Katholikin, die sich entschied, zum protestantischen Glauben überzutreten.
Daneben gibt es Teile des Selbstbilds, die eine Entscheidung erfordern. Insbesondere heute ist dieser Teil komplex und herausfordernd geworden, denn es gibt unterschiedliche, miteinander konkurrierende Werte und viele Möglichkeiten, wie man sein Leben gestalten kann. Die Bauerntochter von heute muss aus unübersichtlich vielen Berufsmöglichkeiten wählen.
Quelle
Roy Baumeister: How the self became a problem: A psychological review of historical research. Journal of Personality and Social Psychology, 52, 1987, 163–176