Zeitfragen: Wie wollen wir arbeiten?

Dossier Beruf & Leben: Immer mehr Menschen wünschen sich, weniger oder zumindest flexibler zu arbeiten. Doch tut uns das wirklich gut?

Die Illustration zeigt eine Frau, die Multitasking auf dem Fahrrad macht, indem sie gleichzeitig Fahrrad fährt, Kaffee trinkt, einen Notizblock in der Hand hält und dabei telefoniert
Nicht nur für Unternehmen können flexible Formen der Arbeit zum Problem werden. © Julia Schwarz

Im Jahre 1928 dachte der britische Ökonom John Maynard Keynes darüber nach, wie viel seine Enkel wohl würden arbeiten müssen. Er rechnete die steigende Produktivität der Wirtschaft hoch und kam auf maximal 15 Stunden pro Woche. Zum ersten Mal seit seiner Erschaffung werde der Mensch dann vor die Frage gestellt, wie er seine Freiheit von drückenden wirtschaftlichen Sorgen verwenden und seine Freizeit ausfüllen könne, um weise, angenehm und gut zu leben, sinnierte Keynes damals.

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Maschinen, die uns immer mehr Arbeit abnehmen können, die Medien. Die Verwirklichung von Keynes’ Vision ist jedoch auch in der Generation seiner Urenkel nicht in Sicht.

Die Zahl der durchschnittlich gearbeiteten Stunden pro Jahr in Deutschland ist seit den 1960er Jahren zwar kontinuierlich rückläufig. Nach einer Arbeitszeitbefragung der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) arbeiten Vollzeitbeschäftigte in Deutschland aber immer noch im Mittel 43,4 Stunden in der Woche. Das sind knapp fünf Stunden mehr als die im Durchschnitt vertraglich vereinbarten 38,6 Stunden.

Was ist eine gute Arbeitszeit?

Dennoch scheint die Arbeitswelt im Umbruch: Noch nie standen so viele Menschen – und vor allem so viele Frauen – in einem Arbeitsverhältnis, und noch nie arbeiteten so viele Menschen in Teilzeit. Arbeitgeber wie Arbeitnehmer drängen auf mehr Flexibilität. Für Erstere vertragen sich die gesetzlich geregelten Arbeits- und Ruhezeiten schlecht mit den Anforderungen von Globalisierung, Digitalisierung und Projektarbeit, Letztere suchen Möglichkeiten, Arbeit und andere Verpflichtungen besser zu vereinbaren.

Vertreter von Gewerkschaften, Interessenverbänden wie der Nichtregierungsorganisation Attac und auch der SPD sehen die Zeit gekommen für den Sechsstundentag, die 30-Stunden- oder die Viertagewoche. Das neue Brückenteilzeitgesetz verschafft Arbeitnehmern unter bestimmten Bedingungen das Recht, von Teilzeit zu Vollzeit zurückzukehren. Gewerkschaften und SPD streiten zudem für ein Recht auf Heimarbeit. Hundert Jahre nach Einführung des Achtstundentages steht die Frage, wie viel und wie flexibel wir arbeiten sollen, also ganz oben auf der Tagesordnung. Aber was ist eine gute Arbeitszeit? Und woran macht sie sich fest?

Bislang ist die Vollzeitbeschäftigung nach wie vor das dominierende Arbeitszeitmodell, doch immerhin 42 Prozent der Frauen und sieben Prozent der Männer arbeiten in Teilzeit; Pflegezeit, Elternzeit, Sabbaticals und zeitweise Freistellungen lockern die klassische Erwerbsbiografie auf. Der BAuA zufolge sind 40 Prozent der Beschäftigten mit ihrer Arbeitszeit zufrieden, 47 Prozent aller Beschäftigten und 55 Prozent der Vollzeiterwerbstätigen würden aber gerne weniger arbeiten, und ein Drittel der Teilzeitbeschäftigten wünscht sich die Möglichkeit aufzustocken. „Frauen würden im Durchschnitt gerne 30 Stunden arbeiten, Männer 38 Stunden“, sagt Angelika Kümmerling vom Institut Arbeit und Qualifikation der Universität Duisburg-Essen. Sie hält diese Durchschnittswerte aber für wenig aussagekräftig: „Die Bedürfnisse und Arbeitsformen haben sich sehr stark ausdifferenziert.“

Männer in Elternzeit

In vielen Firmen existieren auch deshalb unterschiedliche Arbeitszeitmodelle nebeneinander. Bei BorgWarner Turbo Systems in Kirchheimbolanden etwa, einem US-amerikanischen Automobilzulieferer, gilt aktuell eine 35-Stunden-Woche mit großem Gleitzeitrahmen. Die Beschäftigten können zwischen 6 und 20 Uhr flexibel im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben arbeiten.

In der Produktion seien zwar in der Regel nach wie vor fixe Schichtmodelle im Einsatz, da individuelle Regelungen dort „organisatorisch nur schwierig abzubilden“ seien, erklärt Christoph Schwarz, Leiter der Organisations- und Personalentwicklung, der Gleitzeitrahmen könne aber auch in diesem Bereich voll genutzt werden. Zudem könnten alle Mitarbeiter auf Arbeitszeitkonten Plus- und Minusstunden sammeln, auch Teilzeitarbeit werde angeboten.

Die Möglichkeiten würden gut angenommen. Vor allem für Arbeitnehmerinnen, die früher wegen eines Kindes ganz ausgestiegen sind, sei es eine gute Sache, dass sie jetzt dabeibleiben könnten. „Wenn man ganz aussteigt, wird man eben doch abgehängt, das ist das Feedback, das ich von den Mitarbeiterinnen bekomme.“ Schwarz registriert aber auch, dass sich die Präferenzen aller Beschäftigten verändern. Dass etwa Männer in Elternzeit gehen, sei ein neues Phänomen, das er seit drei oder vier Jahren beobachte. „Die Führungsetage war da zu Beginn schon mal irritiert, jetzt aber wird die Möglichkeit auch dort genutzt“, sagt er. Früher sei es Bewerbern immer um Karriere und Fortkommen gegangen: „Wie geht’s weiter, höher, schneller? Heute fragen sie auch: Kann ich freitags von zu Hause arbeiten, kann ich auch als Führungskraft eine 35-Stunden-Woche haben?“

Neben der Wochenstundenzahl bestimmt vor allem die Verteilung der Arbeitszeit den Alltag. Dass zumeist in Achtstundentagen gearbeitet wird, hat vor allem historische Gründe. „Die Begrenzung der Arbeitszeit ist eigentlich eine Notlösung“, sagt Friedhelm Nachreiner, Leiter der gemeinnützigen Gesellschaft für Arbeits-, Wirtschafts- und Organisationspsychologische Forschung. Eigentlich sollte es darum gehen, Schäden oder Beeinträchtigungen zu vermeiden. „Doch weil man insbesondere die psychische Belastung so schlecht messen kann, hält man sich der Einfachheit halber an die Arbeitszeit, um die Belastung und ihre Auswirkungen im Griff halten zu können.“

Eine Frage der Belastung

Wie viele Arbeitsstunden pro Tag ideal sind, lässt sich nicht so leicht bestimmen; für manche Tätigkeiten könnten sechs Stunden schon zu viel sein. „Kann man die Aufgabe automatisch und ohne große Aufmerksamkeitszuwendung abarbeiten, muss man komplexe Regeln anwenden oder ständig neue Lösungen finden? Natürlich gibt es Abstufungen und Mischformen, aber diese und andere Formen der Belastung bestimmen, wie lange jemand eine Tätigkeit ausführen kann“, sagt Nachreiner. Eine vernünftige Arbeitszeit sei eine, die weder die Sicherheit noch die Gesundheit oder das soziale Leben der Beschäftigten beeinträchtige. Nach sieben bis acht Stunden Beschäftigung steige die Wahrscheinlichkeit, einen Arbeitsunfall zu erleiden, rasant an, mehr sollte es also auf keinen Fall sein. „In der zehnten Stunde einer Schicht muss man sich deutlich mehr anstrengen als in der zweiten, wenn man die gleiche Leistung erbringen will“, so Nachreiner. „Nach zwölf Stunden ist das Unfallrisiko doppelt so hoch wie im Schnitt der ersten acht Stunden.“

Erste Ermüdungserscheinungen treten schon nach einer halben Stunde Arbeit auf. Um zu vermeiden, dass sie überhandnehmen, stehen den Beschäftigten Pausen zu: bei mehr als sechs Stunden Arbeit mindesten eine halbe Stunde, ab neun Stunden 45 Minuten. Daneben legen Menschen aber auch kürzere Auszeiten von mehreren Sekunden bis einigen Minuten ein – etwa um sich zu strecken, den Blick schweifen zu lassen oder sich einen Kaffee zu holen. „Durch solche Pausen gehen teilweise bis zu zehn Prozent der vorgegebenen Arbeitszeit verloren. Deshalb sind sie Arbeitgebern bisweilen ein Dorn im Auge“, sagt Johannes Wendsche von der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin. „Tatsächlich aber führen insbesondere systematische Pausen dazu, dass die Arbeitenden mehr schaffen statt weniger.“ In den Auszeiten werde nicht nur Ermüdung abgebaut, sie motivierten auch. Das besagt zumindest das von den Psychologen Winfried Hacker und Peter Richter formulierte „Gesetz der dauerabhängigen Anstrengung“: Wenn wir eine Aufgabe angehen, planen wir demnach schon ein, wie lange sie dauern wird, und richten unseren Einsatz danach aus. „Je kürzer die Etappe bis zur nächsten Pause ist, desto mehr hängt man sich rein“, erklärt Wendsche.

Alternativen zu nine to-five

Manche Unternehmen experimentieren auch mit einer Verkürzung der Arbeitszeit. Die Stadt Göteborg etwa ließ von 2015 bis 2017 die Beschäftigten in einem Altenheim sechs statt acht Stunden pro Tag arbeiten, bei vollem Lohnausgleich. Die Arbeitszufriedenheit stieg, der Krankenstand sank. Dennoch wurde das Projekt aufgegeben, weil die Kosten für die erforderlichen Neueinstellungen zu hoch waren, so die Begründung. Gesamtgesellschaftlich gesehen könnte sich ein solches Modell auszahlen, rechnen Forscher vor. Da die höheren Lohnkosten aber von den Unternehmen zu tragen sind, sei ein solcher Schritt für diese meist nicht wirtschaftlich. Bei der Bielefelder IT-Agentur Digital Enabler wird bei vollem Lohnausgleich nur fünf Stunden pro Tag gearbeitet. Die Idee: Wer fünf Stunden richtig anpackt, schafft genauso viel wie jemand, der acht Stunden nur irgendwie hinter sich bringt. Ob sich das Modell auf Dauer rechnet, muss sich noch zeigen.

„Ich denke schon, dass wir ernsthaft über den Sechsstundentag als neuen Arbeitszeitstandard nachdenken sollten“, sagt Yvonne Lott, die bei der Hans-Böckler-Stiftung in Düsseldorf über flexibles Arbeiten forscht. „Aber dann muss die Arbeit anders organisiert werden. Man kann nicht einfach immer nur intensiver arbeiten, um schneller fertig zu werden.“

Viele Arbeitnehmer wünschen sich die Möglichkeit, ihre Arbeitsstunden freier über den Tag zu verteilen. Neben das nine to five-Modell sind andere Arbeitszeitformen getreten, darunter auch Homeoffice und Vertrauensarbeitszeit. „Was sich davon realisieren lässt, hängt von der Tätigkeit und auch von der Hierarchiestufe ab“, sagt Lott. „Zu Homeoffice und Vertrauensarbeitszeit gehört auch eine entsprechende Kultur im Unternehmen“, ergänzt Roda Müller-Wieland, die in Berlin am Center for Responsible Research and Innovation des Fraunhofer-Instituts für Arbeitswirtschaft und Organisation zu Arbeit und Führung der Zukunft forscht.

Misstrauen aufseiten der Arbeitgeber

Oft herrsche in Unternehmen gegenseitiges Misstrauen, etwa was die Arbeit zu Hause angehe. „Die Arbeitgebenden befürchten, dass die Mitarbeitenden das ausnutzen und zu wenig tun, und die Arbeitnehmenden befürchten, dass sie mehr arbeiten, als vereinbart ist und entlohnt wird.“ Wenn nur die befördert würden, die immer präsent sind, die signalisieren, dass sie bereit sind, lange und überlange zu arbeiten, wenn die Vorgesetzten durch Überstunden glänzten und die Arbeit so organisiert sei, dass die Projekte in der vorgesehenen Zeit nicht zu schaffen sind, wenn Vertretungsregelungen fehlten und die Kollegen ausbaden müssten, wenn jemand früher geht, könnten solche flexiblen Modelle kaum gelingen und schnell zu mehr Arbeit führen.

Viele Firmen scheuten auch die logistische Herausforderung, sagt Müller-Wieland: von der Technik, die beschafft werden muss, über die Arbeitsplätze, die eingerichtet und kontrolliert werden müssen, bis hin zu einem erhöhten Aufwand für Abstimmung und Kommunikation. Auch für Arbeitnehmer ist die Abkehr von der Präsenzkultur jedoch nicht frei von Problemen. So bequem es sein mag, sich morgens gleich an den Schreibtisch setzen zu können, statt Zeit im Stau zu vertrödeln: Wer nicht im Büro ist, bekommt vieles nicht mit, Begegnungen mit Kollegen fallen weg und damit mitunter auch die Inspiration, die man aus Gesprächen am Kaffeeautomaten oder in der Teeküche ziehen kann.

Ist Homeoffice eine Lösung?

„Eine weitere Herausforderung besteht darin, die Fähigkeit zum Selbstmanagement aufzubauen, sich den Tag zu strukturieren und sich nicht selbst auszubeuten“, sagt Arbeitsforscherin Müller-Wieland. Beschäftigte im Homeoffice leisten nach Angaben des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales etwa drei Überstunden mehr pro Woche als ihre Kollegen im Büro und haben weniger Möglichkeiten, diese durch Freizeit auszugleichen. „Beim Homeoffice kommt es wohl auch auf die Anzahl der Stunden an“, sagt der Arbeits- und Organisationspsychologe Günter Maier von der Universität Bielefeld: „Wenn Homeoffice ermöglicht wird, steigt die Arbeitszufriedenheit an, bei mehr als 15 Stunden pro Woche sinkt sie aber wieder ab.“ Nur von zu Hause aus zu arbeiten ist also offenbar auch nicht die Lösung.

Ein Nebeneffekt der Option, räumlich und zeitlich flexibler zu arbeiten, ist die dauernde Erreichbarkeit. Im Arbeitszeitreport Deutschland geben 22 Prozent der Befragten an, dass ihr Arbeitsumfeld von ihnen erwartet, auch im Privatleben für dienstliche Angelegenheiten erreichbar zu sein. Bei Führungskräften ist dies ausgeprägter als bei anderen Beschäftigten der Fall, in größeren Unternehmen kommt es seltener vor als in kleineren.

Ortsunabhängigkeit bedeutet nicht immer Freiheit

Die digitalen Kommunikationstechnologien machen es möglich, viele Tätigkeiten ortsunabhängig auszuführen, dadurch haben sich auch neue Arbeitsformate entwickelt, die vor allem Selbständigen vordergründig maximale Freiheit ermöglichen. Sogenannte Click- oder Crowdworker etwa erledigen kleine Aufträge, die auf digitalen Plattformen vergeben werden: Preise von Spesenrechnungen abtippen, Kleidungsstücke beschreiben und Ähnliches. Hängt das Einkommen tatsächlich von dieser Tätigkeit ab, stellt sich der Arbeitstag allerdings oft nicht sehr flexibel dar: „Zu Stoßzeiten, wenn neue Aufträge eingestellt werden, muss der Clickworker bereitstehen, die Ankündigungen kleiner Aufträge unterbrechen immer wieder den Tag, häufig ohne dass er wirklich kontinuierlich und lohnend arbeiten könnte“, erklärt Soziologin Angelika Kümmerling.

Ein anderes flexibles Konzept verfolgen sogenannte Digitalnomaden. Als Freelancer, Blogger oder mit einer via Laptop zu realisierenden Geschäftsidee finanzieren sie sich ein Leben, bei dem das Reisen häufig im Vordergrund steht. „Was man arbeitet, ist oft zweitrangig“, erklärt Conni Biesalski, die vor einigen Jahren als Reisebloggerin begonnen hat und heute Online­workshops und Coachings anbietet und Provisionen für Produktempfehlungen bekommt. „Wenn man dann viel und schnell herumgereist ist, stellt man irgendwann fest, dass das Reisen an sich einen auch nicht glücklich macht“, sagt die 35-Jährige. „Irgendwann wird es langweilig, sich Sehenswürdigkeiten und schöne Strände anzugucken. Es geht im Leben darum, etwas Bedeutungsvolles zu tun. Und wenn man ein Business aufbauen will, braucht man Stabilität und Routinen.“

Flexibilität: eingefordert oder selbstgesteuert?

Inzwischen hat Biesalski wieder eine „Homebase“, also einen Platz, an den sie immer wieder zurückkommt. Sie arbeite zwischen 30 und 50 Stunden pro Woche, sagt sie, je nachdem ob gerade ein neues Projekt starte. „Ich schaue nicht auf die Uhr, sondern versuche einfach, in kurzer Zeit viel zu schaffen. Dabei geht es weniger um Effizienz: Ich liebe, was ich tue, da spielt Zeit nicht so eine Rolle.“ Das gilt, wenn auch meist weniger radikal, für viele Unternehmer. Selbständige haben häufiger als abhängig Beschäftigte überlange Arbeitszeiten von mehr als 48 Stunden pro Woche, fast die Hälfte von ihnen arbeitet regelmäßig an den Wochenenden.

Die Forschung warnt davor, Arbeit und Freizeit zu eng zu verquicken: Auf die Dauer korreliert eine ständige Erreichbarkeit ebenso wie überlange Arbeitszeiten und überraschende Veränderungen in den Arbeitsplänen mit mehr Klagen über gesundheitliche Beschwerden, insbesondere körperliche Erschöpfung und Schlafstörungen. „Klare Absprachen, wann wer erreichbar ist und wann nicht, sind bei flexibler Arbeit ganz wichtig“, sagt auch deshalb die Arbeitsforscherin Angelika Kümmerling. Flexibilität, die vom Arbeitgeber eingefordert wird, wirkt sich nach einer neuen IAB-Übersichtsstudie eher negativ auf die Gesundheit der Beschäftigten aus, bei selbstgesteuerter Flexibilität treten diese Effekte nicht ein. Ein gesundheitlicher Nutzen ist allerdings auch nicht zu belegen.

Steigende Ansprüche

Selbst- oder Fremdbestimmung, Lebenskonzepte, Rollenvorstellungen, Gleichberechtigung – bei der Debatte um Arbeitszeiten werden komplexe gesellschaftliche Fragen immer mitverhandelt. Die Ansprüche an die Arbeit und ihre Gestaltung steigen – zumindest in manchen Teilen der Bevölkerung. „Wir müssen aufpassen, dass wir hier keine Luxusdiskussion führen und nur über die sprechen, die mit dem PC irgendwo arbeiten können“, sagt Arbeitspsychologe Friedhelm Nachreiner. „Ein großer Teil der Bevölkerung hat gar keine Chance, diese ‚schicken‘ Konzepte zu nutzen. Wir brauchen auch tragfähige Lösungen für die, die am Band stehen oder im Verkauf.“

Anders als bei den oft raren Fachkräften sähen sich Arbeitgeber bei weniger qualifizierten Tätigkeiten nicht gezwungen, den Vorstellungen der Beschäftigten entgegenzukommen: „Hier geht es eher ums Sparen als darum, dass man keine Arbeitskräfte findet“, sagt Yvonne Lott. Statt zu einer Entspannung komme es zu einer Verdichtung der Arbeit – mit entsprechenden Nachteilen für die Betroffenen.

Die ideale Arbeitszeit ermöglicht allen – egal in welcher Branche sie tätig sind, gleichgültig ob angestellt oder selbständig – Zeit für Rekreation und Familie, sie lässt sich zuverlässig planen und bei Bedarf verschieben, kann meist am Arbeitsplatz, manchmal aber auch zu Hause erledigt werden und deckt sich halbwegs mit der Arbeitszeit der Mitmenschen – bei sicherer Entlohnung. Bleibt das ein unerfüllbarer Traum?

Die Verwirklichung der Vision, die John Maynard Keynes vor bald 100 Jahren formulierte, wird damit beginnen müssen, darüber nachzudenken, was wir uns unter einem weisen, angenehmen und guten Leben vorstellen – und welche Rolle die Arbeit darin spielen kann und muss.

Arbeitszeit und ihre Formen

Das deutsche Recht erlaubt den Achtstundentag an sechs Werktagen pro Woche. Laut Arbeitszeitgesetz sind in Ausnahmefällen bis zu zehn Stunden Arbeit pro Tag möglich, wenn innerhalb von sechs Monaten im Durchschnitt nicht länger als acht Stunden pro Werktag gearbeitet wird. Arbeit an Sonn- und Feiertagen ist grundsätzlich verboten, ausgenommen sind Tätigkeiten, die gewöhnlich an diesen Tagen stattfinden müssen, von der Medizin bis zur Gastronomie.

Dem Arbeitszeitreport Deutschland für 2016 zufolge haben nur vier von zehn Beschäftigten Einfluss darauf, wann sie mit der Arbeit beginnen, wann sie sie beenden und sich ein paar Stunden freinehmen können. Beschäftigte in der Industrie und in größeren Betrieben haben dabei größere Spielräume als solche, die im Handwerk und in kleineren Betrieben tätig sind.

Immerhin 61 Prozent der Beschäftigten haben ein Arbeitszeitkonto und können über das angesparte Zeitguthaben mehr oder weniger frei verfügen. Nur zwei Prozent der Betriebe bieten allerdings die Möglichkeit, Arbeitszeitguthaben für Langzeitfreistellungen anzusparen.

Flexibler als die unterschiedlichen Gleitzeitmodelle können Vertrauensarbeitszeit und Homeoffice sein. Laut einer Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung würden vier von zehn Deutschen gerne zumindest ab und zu von zu Hause aus arbeiten, was bei etwa 40 Prozent der Tätigkeiten im Prinzip möglich wäre. Knapp 40 Prozent der Unternehmen bieten diese Möglichkeit auch an. Je nach Umfrage arbeiten bislang aber nur zwischen neun und elf Prozent der Beschäftigten regelmäßig oder gelegentlich von zu Hause aus.

Bei der Vertrauensarbeitszeit ist es den Beschäftigten selbst überlassen, wie viel Zeit sie im Unternehmen oder am eigenen Schreibtisch verbringen, um ihre Aufgabe zu erfüllen. Das Modell ist eher bei hochqualifizierten oder Führungstätigkeiten zu finden und wird nach einer Statistik des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) von 29 Prozent der Betriebe und Verwaltungen angeboten.

Zeit und Arbeit

Chronobiologie. Zwar sind Menschen, die vom Chronotyp her eher „Lerchen“ sind, also früher am Tag aktiv werden, etwa zwei Stunden früher dran als „Eulen“ mit ihrer Präferenz für spätere Stunden, doch im Wesentlichen gilt: Anspruchsvolle Aufgaben sollten vormittags erledigt werden, dann ist die Konzentrationsfähigkeit am größten. Nach einem Mittagstief steigt die Leistungsfähigkeit wieder und sackt gegen Abend immer weiter ab. Manche Menschen sind flexibler als andere, aber in der Nacht erbringt kaum jemand Höchstleistungen. Passende Arbeitszeiten wirken sich positiv auf die Leistungsfähigkeit, aber auch auf Gesundheit und Motivation aus.

Zeitdruck. Das Gefühl, zu wenig Zeit für die zu erledigenden Aufgaben zu haben, kann vorübergehend sein, etwa vor einem Abgabetermin, oder dauerhaft belasten. Gründe können eine schlechte Arbeitsorganisation, Überforderung oder schlicht die Tatsache sein, dass mehr zu tun ist, als man schaffen kann. Ist der Arbeitsablauf durchdacht und der Stress bleibt trotzdem, sollten Betroffene das Gespräch mit Vorgesetzten und/oder Betriebsrat suchen oder sich, etwa als Selbständige, anderweitig beraten lassen, zum Beispiel durch einen Coach oder Psychologen. Auf Pausen zu verzichten und Überstunden anzuhäufen ist keine nachhaltige Lösung.

Struktur. Wie nutzt man Arbeitszeit möglichst effizient? Am besten verschafft man sich zuerst einen Überblick, was zu tun ist, und setzt Prioritäten. Zusammenhängende Aufgaben sollte man ohne Unterbrechungen und Störungen bearbeiten, wobei von 90 Minuten etwa 75 Minuten dem konzentrierten Arbeiten und 15 Minuten der Entspannung dienen sollten. Ein Wechsel von Konzentration und Entspannung ist effizienter als ein „Durchpowern“.

Grenzen. Genug ist genug: Wenn man müde wird, hätte man schon längst Pause machen sollen, und ein am Computer verbrachter Abend dient nicht der Erholung. Eine eigenverantwortliche Gestaltung des Arbeitstages will gelernt und konsequent umgesetzt sein. Arbeitgeber sollten ihre Angestellten mit entsprechenden Fortbildungen oder Leitfäden dabei unterstützen, Selbständige können auf Ratgeber zurückgreifen oder professionelle Beratung suchen. Zentral ist: dem Tag eine Struktur zu geben, für störungsfreie Arbeitsphasen zu sorgen, Pausen und arbeitsfreie Zeiten einzuplanen – und sie auch einzuhalten.

„Die Arbeit ist auch ein Rhythmusgeber“

Flexible Arbeitszeiten schaffen Spielräume, um den Arbeitstag zu gestalten. Doch dies muss gut gemacht werden, sonst kann Flexibilität auch schaden

Herr Professor Nachreiner, viele Arbeitnehmer und auch die Arbeitgeber wünschen sich flexiblere Arbeitszeiten. Dann ist doch alles in Ordnung?

Nun ja, tatsächlich verlangen beide Seiten, dass sich der jeweils andere anpassen und Verständnis dafür haben soll, dass das Gegenüber Wert auf seine Form der Flexibilität legt. Die Unternehmen wünschen sich Flexibilität, weil die Anforderungen an die Produktion andere und insbesondere variabler geworden sind, und das soll durch variable Arbeitszeiten abgefedert werden. Arbeitnehmer denken eher daran, wie sie Arbeit und andere Belange – Kindererziehung, Pflege der Eltern, soziale und kulturelle Teilhabe – besser vereinbaren können. Natürlich ist Flexibilität erst einmal nicht schlecht, weil sie Spielräume für die Gestaltung des Arbeitstages und der nicht arbeitsbezogenen Bereiche schafft. Aber man muss das vernünftig machen.

Was bedeutet das?

Die Arbeit ist auch ein Rhythmusgeber. Unser sozialer und auch biologischer Rhythmus wird durch die Arbeitszeit synchronisiert und stabilisiert – oder eben nicht. Wir sind unter anderem der Frage nachgegangen, wie sich die Variabilität der Arbeitszeit auf das Unfallrisiko auswirkt. Dabei ist sehr deutlich geworden: Wenn Sie hochvariable Arbeits­zeiten haben, steigt das Risiko für Arbeitsunfälle um 25 bis 27 Prozent. Es geht dabei nicht um die Frage, wie lange Sie arbeiten, es geht nur um die Variabilität, die zum Effekt der Dauer dazukommt.

Man hat dann nicht mehr die erforderliche Kompetenz zur Steuerung des eigenen Verhaltens wie bei einer vernünftigen Arbeitszeit; der ständge Wech­sel greift offenbar tief in die Handlungs­regulationsstrukturen ein, was dazu führt, dass man unsicherer arbeitet. Außerdem werden die sozialen Rhythmen gestört.

Inwiefern?

Der Freiraum, in dem wir nicht arbeiten müssen, ist dazu da, dass wir uns erholen können, er ist aber auch der Raum für soziale Aktivitäten, etwas mit der Familie oder mit Freunden zu machen, an einem Vereinsleben teilzunehmen oder sich ehrenamtlich zu engagieren. Diese Aktivitäten unterliegen in ihrer zeitlichen Struktur dem sozialen Rhythmus einer Gesellschaft. Wenn man nun zu allen möglichen und unmöglichen Zeiten arbeitet, wird es schwierig, an so etwas teilzunehmen.

Wir haben festgestellt, dass die sozialen Rhythmen in den letzten 20 Jahren im Wesentlichen gleich geblieben sind. Die Abende und die Wochenenden sind immer noch die sozial wertvollsten Zeiten. Das Wochenende beginnt heute etwas früher als vor 20 Jahren, schon am Freitagabend, dafür ist der Samstag nicht mehr ganz so wichtig. Der Sonntag ist in seiner Bedeutung als freier Tag geblieben. Da hilft es nur bedingt, wenn Sonntagsarbeit mit einem freien Montag ausgeglichen wird, an dem dann eben die Freunde arbeiten.

Hin und wieder zu anderen Zeiten arbeiten ist okay, es darf nur keine Dauerlösung werden. Auch wenn ich es selbst will: Wenn die Arbeit meinen biologischen und sozialen Rhythmus stört, hat das negative Folgen für mein Wohlbefinden. Man muss daher darüber nachdenken, unübliche Arbeitszeiten durch längere arbeitsfreie Zeit auszugleichen.

Das heißt, es wäre besser, wir würden alle regelmäßig unseren Achtstundentag arbeiten?

Im Prinzip ja, wobei acht Stunden oft schon zu viel sind. Wenn wir uns heute die Belastungen ansehen, die bei bestimmten Jobs vorliegen, wäre eine kürzere Arbeitszeit angemessener. Wenn man Arbeitnehmer an mehreren Tagen hintereinander untersucht, kann man feststellen, dass sie immer noch Belastungen vom Vortag mitbringen und zum Beispiel ein höheres Unfallrisiko haben. Das sollte nicht so sein. Man sollte ausgeruht zur Arbeit kommen können. Ich werte das als Hinweis darauf, dass die Intensität der Belastung zu hoch und die Arbeitszeit für diese Belastung zu lang ist.

Es ist gut, dass Frauen heute besser aus den diskriminierenden Teilzeitverhältnissen herauskommen. Und auch, dass jetzt Männer häufiger in Teilzeit gehen, ist gut. Doch es zeigt sich immer deutlicher, dass man gut aufpassen muss, damit man mit der Flexibilität nicht viele Dinge – insbesondere Arbeitsschutzregelungen – kaputtmacht.

Prof. Dr. Friedhelm Nachreiner ist Arbeitspsychologe und befasst sich seit vielen Jahren mit Arbeitszeit, Arbeitsschutz und psychischer Belastung in der Arbeit. Er ist Vorsitzender der Gesellschaft für Arbeits-, Wirtschafts- und Organisationspsychologische Forschung e. V. (GAWO). Zuvor war er Professor für angewandte Psychologie mit dem Schwerpunkt Arbeitspsychologie an der Universität Oldenburg.

Literatur und Quellen zum Dossier „Zeitfragen: Wie wollen wir arbeiten?

Corinna Brauner, Anne Martit Wöhrmann, Alexandra Michel: BAuA-Arbeitszeitbefragung: Arbeitszeit­wünsche von Beschäftigten in Deutschland.Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin, Dortmund 2018. DOI: 10.21934/baua:bericht20181005

Frank Brenscheidt: Flexible Arbeitszeitmodelle. Überblick und Umsetzung. Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin, Dortmund 2017

Eurofound: Sixth European Working Conditions Survey – Overview report (2017 update). Publications Office of the European Union, Luxembourg 2017. DOI: 10.2806/784968.

Christina Klenner, Yvonne Lott, Julia Seefeld: Neue Arbeitszeiten brauchen eine neue Personalpolitik. WSI Policy Brief Nr. 14. Hans-Böckler-Stiftung, Düsseldorf 2017

Gerhard Krug, Kirsten Kemna, Katja Hartosch: Auswirkungen flexibler Arbeitszeiten auf die Gesundheit von Beschäftigten. IAB-Discussion Paper 1/2019. Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit, Nürnberg 2019

Yvonne Lott: Selbstorganisierter Arbeiten als Ressource für Beschäftigte nutzen! Hans Böckler Stiftung, Policy Brief Nr. 3. August 2017. Hans-Böckler-Stiftung, Düsseldorf 2017

Friedhelm Nachreiner: Dauer der Arbeitszeit. In Regine Romahn (Hrsg.): Arbeitszeit gestalten: Wissenschaftliche Erkenntnisse für die Praxis. Metropolis, Marburg 2017

Friedhelm Nachreiner: Lage der Arbeitszeit – Schichtarbeit und andere unübliche Arbeitszeiten. In: Regine Romahn (Hrsg.): Arbeitszeit gestalten: Wissenschaftliche Erkenntnisse für die Praxis. Metropolis, Marburg 2017

Regine Romahn (Hrsg.): Arbeitszeit gestalten: Wissenschaftliche Erkenntnisse für die Praxis. Metropolis, Marburg 2017

Hartmut Seifert, Elke Holst, Wenzel Matiaske, Verena Tobsch: Arbeitszeitwünsche und ihre kurzfristige Realisierung. In: WSI-Mitteilungen 4/2016, Zeitschrift des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts der Hans-Böckler-Stiftung. Hans-Böckler-Stiftung, Düsseldorf 2016

Johannes Wendsche, Andreas Lohmann-Haislah: Arbeitspausen gesundheits- und leistungsförderlich gestalten. Hogrefe, Göttingen 2018

Anne Marit Wöhrmann u. a.: Arbeitszeitreport Deutschland 2016. Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin, Dortmund, Berlin, Dresden 2016. DOI: 10.21934/baua:bericht20160729

Ines Zapf, Enzo Weber: The role of employer, job and employee characteristics for flexible working time. An empirical analysis of overtime work and flexible working hour’s arrangements. IAB-Discussion Paper 4/2017. Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit, Nürnberg 2017

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 4/2019: Die Kraft des Atmens