Tod auf dem Bauernhof

Immer auf Tuchfühlung mit der Natur: Dem Klischee nach führen Bauern ein gesundes Leben. Doch warum ist dann die Suizidrate so hoch? Eine Spurensuche

Die Illustration zeigt einen Bauern mit Mistgabel im Schweinestall, der verzweifelt dasitzt und sich die Hand an den Kopf hält
Auf Bauernhöfen gibt es keine Trennung von Wohnen und Arbeiten – mit all seinen Konsequenzen. © Gabriela Jolowicz

Sattgrüne Wiesen, leise plätschernde Bäche, viel Ruhe – kein Wunder, dass Landbewohner laut vielen Umfragen entspannter sind als Städter. Mit einer Ausnahme: Bauern nehmen sich deutlich häufiger das Leben als die übrige Bevölkerung.

Laut Experten gilt das für praktisch alle westlichen Industrienationen. So bestätigte eine Schweizer Studie im Jahr 2018, dass eidgenössische Bauern um 37 Prozent häufiger durch Suizid sterben als Landbewohner mit anderen Berufen. In Frankreich liegt die Zahl der…

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In Frankreich liegt die Zahl der Milchbauernsuizide um 30 Prozent höher als der nationale Durchschnitt. Deutsche Statistiken erfassen Menschen, die sich selbst töten, nur nach Alter, Geschlecht oder Bundesland, aber nicht mit ihrem Beruf. Doch viele Indizien sprechen dafür, dass die Lage hierzulande ähnlich dramatisch ist. Davon geht auch der Münsteraner Arzt Thomas Lochthowe aus, der zum Thema Suizid und Beruf promoviert hat. Was sind die Gründe für dieses spezifische Risiko?

In der Landwirtschaft ist es auch heute meist noch Tradition, dass ein Kind – häufig der Sohn, viel seltener die Tochter – den Hof erbt. Damit beginnt das Dilemma: Viel Arbeit, kaum Freizeit sowie ein tendenziell geringes soziales Ansehen helfen nicht dabei, eine Partnerin zu finden. Der Marathon Bauer sucht Frau endet im realen Leben anders als im Trash-TV selten mit einem Happy End.

Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Landwirtschaftlichen Familienberatungen und Sorgentelefone im hessischen Schwalmstadt beschreibt die problematische Wirklichkeit: Oftmals fühle sich der Jungbauer den Eltern so stark verpflichtet, dass er sich innerlich nie abgenabelt habe. So könne er oft keine klaren Grenzen ziehen und sich bei Streitigkeiten mit Vater oder Mutter dann nur schwer hinter seine Partnerin stellen. Die Generationenkonflikte zwischen der eingeheirateten Frau und ihren Schwiegereltern folgen laut der Bundesarbeitsgemeinschaft einem Muster: Die junge Frau wehrt die ständige Einmischung der Älteren ab; diese wiederum ärgert, dass ihre gutgemeinten Ratschläge überhaupt als eine Einmischung empfunden werden. So könne über die Jahre ein „erbitterter Kleinkrieg“ entstehen.

Viel Arbeit, viel Konfliktstoff

Weil die Familienmitglieder häufig den ganzen Tag zusammenleben und -arbeiten, führt das zu einer Art Budenkoller, der die Probleme verschärft. Ein Bauernhof ist Wohnhaus und Familienbetrieb zugleich. „Dort sind viele Probleme unentwirrbar verflochten, das ist in anderen Berufen weniger der Fall“, schrieb die Psychiaterin Aslög Malmberg, die mit ihrem Team an der University of Oxford zum Thema Bauern und Suizid geforscht hat. Zudem leben Bauernfamilien oft abgekapselt wie in einer Blase. Stammtischbekannte gibt es, aber echte Freunde, die neue Anstöße geben könnten, finden sich schon mangels Freizeit selten. Also dreht sich das Leben zwangsläufig um die Arbeit, die Familie und den daraus resultierenden Ärger.

Der typische Arbeitstag eines Landwirts beginnt um 5 Uhr und endet um 21 Uhr, es gilt die Sechs- bis Siebentagewoche, an Urlaub ist oft nicht zu denken. Konrad Michel, emeritierter Professor und Psychiater an der Universitätsklinik Bern, erzählt von einem Patienten, der das „Angebundensein“ am Hof als sehr bedrückend empfand. Er träumte davon, wenigstens einen Tag im Jahr einmal Skifahren zu gehen. Gleichzeitig wusste er, dass das ein frommer Wunsch bleiben würde, denn wer sollte dann morgens und abends die Kühe melken? Während die Frauen der Bauern in früheren Jahrzehnten solche Einschränkungen eher still akzeptierten, wünschen sie sich heute eine andere Form von Partnerschaft – und verlassen notfalls Mann und Hof.

Teil der Identität

Werden die Eltern alt und krank, bürdet sich der Sohn dazu oft noch deren Pflege auf. Sie ins Heim zu geben widerspricht oft nicht nur dem engen emotionalen Verhältnis, sondern auch der bäuerlichen Tradition. Die Doppelbelastung wird stillschweigend ertragen. Schließlich besitzen Landwirte eine hohe Arbeitsmoral. Laut einer australischen Untersuchung aus dem Jahr 2006 sind sie auch von ihrer Persönlichkeit her „deutlich gewissenhafter“, also disziplinierter und pflichtbewusster als Nichtbauern.

Die Folge: Landwirte stehen vor einem Berg an Aufgaben, den sie irgendwann nicht mehr bewältigen können. Bereits jeder vierte Bauer in Deutschland ist laut einer Umfrage des Onlineportals der Zeitschrift agrarheute burnoutgefährdet. Am Ende kann ein Suizid stehen, falls der Betroffene sich nicht rechtzeitig Hilfe holt oder aus dem Beruf ausscheidet. Und dies geschieht nach einer Statistik der landwirtschaftlichen Sozialversicherung bei jedem fünften Landwirt vor dem Hintergrund einer seelischen Erkrankung wie etwa einer schweren Depression.

Wegen all dieser düsteren Aussichten weigern sich Kinder von Bauern inzwischen häufig, den Hof der Eltern zu übernehmen. Das geschieht schweren Herzens, denn der Verkauf von Haus und Äckern ist oft ein emotionales Drama für die Familie. Schließlich besitzt sie ihren Hof meist seit Generationen, wenn nicht sogar seit Jahrhunderten. Der eigene Boden unter den Füßen ist Teil der bäuerlichen Identität. Ihn in fremde Hände zu geben wird fast immer als unerträglich empfunden – selbst dann, wenn die Eltern den Verkauf nicht mehr miterleben. Der landwirtschaftliche Familienberater Fritz Kroder aus Bamberg berichtet aus Gesprächen mit Hoferben, dass sie ihre längst verstorbenen Mütter oder Väter im Geiste sagen hören: „Wir haben uns das ganze Leben geplagt wegen euch. Du bist ein Lump, wenn du den Hof verkaufst.“

Respekt und Ertrag sinken

Verzweiflung passt aber nicht zum Selbstbild des typischen bodenständig-konservativen Bauern. Er hat stark zu sein, ein „echter Mann“, der keine Schwächen zeigt. Sorgenbedingte Probleme wie Schlafstörungen werden lange ausgeblendet. Die Ergebnisse von Forschern in Deutschland, Frankreich oder Australien sind dazu überraschend einstimmig. Viele Bauern empfinden es als undenkbar, sich mit ihren Nöten der Familie zu offenbaren. Laut dem Münsteraner Arzt Lochthowe ist das Persönlichkeitsmerkmal Offenheit bei Bauern schwächer ausgeprägt als bei anderen Landbewohnern. Auch Außenstehende, etwa Therapeuten, mögen sie häufig nicht um Hilfe bitten, zudem fehlen im ländlichen Bereich oft Behandlungsangebote und Aufklärung zu seelischen Leiden.

Schmerzen, die der körperlichen Arbeit geschuldet sind, werden ebenfalls lange ignoriert. Die meisten Bauern, so landwirtschaftliche Beratungsstellen, schuften stoisch weiter, solange es irgend geht. Denn anders als ein Angestellter können sie sich nicht krankschreiben lassen, der Hof will ja täglich bewirtschaftet werden. Schmerzen Körper oder Seele, greifen Landwirte laut Fritz Kroder „mit steigender Tendenz“ zum Alkohol. Der baue kurzfristig Druck ab, helfe beim „Verdrängen von Problemen, Konflikten, Überlastung und unbefriedigten Wünschen“. Aber er führt auch in die Abhängigkeit.

Obwohl die Bevölkerung den Bauern ihr täglich Brot verdankt – laut Statistik ernährt ein einziger Bauer 155 Menschen, vor einigen Jahrzehnten war es gerade mal die Hälfte –, sinkt das Ansehen dieser Berufsgruppe von Jahr zu Jahr. Sich ausbreitende Wohngebiete rücken immer näher an landwirtschaftliche Flächen heran und die Anwohner schimpfen über „Landgerüche“ und Traktorenlärm. Bauern geraten wegen Düngergebrauchs oder Viehhaltung in die Schlagzeilen, sehen sich in der öffentlichen Meinung als Umweltzerstörer und Tierquäler auf der Anklagebank. Landfrauenvereine und Bauernverbände beklagen ein regelrechtes „Bauernbashing“. Sogar die Kinder von Landwirten würden in der Schule immer wieder als „Tiermörder“ beschimpft.

Schmelzende Reserven

Zum gesellschaftlichen kommt der wirtschaftliche Druck: Der Preisverfall für Fleisch, Milch oder Gemüse zwingt immer mehr kleine Familienbetriebe zum Aufgeben. Wer überleben will, muss billiger, schneller und mehr produzieren – sprich Schulden machen, um in zusätzliche Flächen, Ställe, Maschinen und Produktionstechnik zu investieren, die den Ertrag der Äcker steigern.

Unter dem Strich bleibt vielen Landwirten wenig Gewinn. Eindeutige Zahlen gibt es für Frankreich, wo ein Drittel der Bauern laut Sozialversicherung der französischen Landwirte nur rund 350 Euro monatlich verdient. So schmelzen bei vielen die finanziellen Reserven Jahr für Jahr, bis die Zukunft des Hofs am seidenen Faden hängt. Die Verzweiflung geht bei vielen Bauern mit einem Gefühl der Ausweglosigkeit einher: Eine Studie der französischen Gesundheitsbehörde Santé publique France von 2011 verzeichnete die meisten Suizide von Bauern in jenen Monaten, als die Milchpreise auf Tiefstände abgesackt waren.

Familiengespräche helfen

In den vergangenen 20 Jahren verschwand in Deutschland die Hälfte aller Bauernhöfe. 52 Prozent der verbliebenen Bauern suchten einen Nebenerwerb, weil das Geld nicht reichte. Vor und nach der Arbeit in Büro oder Fabrik müssen dann trotzdem die Flächen bewirtschaftet, Kühe oder Schafe versorgt und Maschinen repariert werden – dieser Spagat bedeutet ein enormes Maß an fortdauerndem Stress.

Während in den letzten beiden Jahrzehnten hierzulande die Gesamtzahl an Selbsttötungen sank, stieg die Suizidrate bei Bauern. Psychiater sind sich einig, dass die psychischen Probleme, die bei einer zunehmenden Zahl von Landwirten in einen Suizid münden, mit den wachsenden Risiken dieses Berufsstands zusammenhängen. Bei vielen Bauern wachsen all die Sorgen über die Jahre zu einer Last an, der sie sich irgendwann nicht mehr gewachsen fühlen.

Das legt auch eine weitere Studie von Aslög Malmberg nahe. Ihr zufolge hatten die meisten Bauern vor ihrem Suizid „Probleme auf mehreren Gebieten, meist war es eine Kombination aus Arbeit, Finanzen, Familie, Partner und Gesundheit. Die meisten Suizide waren keine Reaktion auf eine akute Krise, sondern Ergebnis diverser Schwierigkeiten, die sich langfristig entwickelt hatten.“ Bei ihrer Verzweiflungstat sind Bauern zumeist zwischen 47 und 56 Jahre, also in einem Alter, in dem es schwerfällt, sich eine neue Existenz aufzubauen.

Weder Verfügung noch Brief

Die Suizidmethoden von Bauern sind oft drastisch. Viele erhängen oder erschießen sich. Das hängt zum einen mit dem Geschlecht zusammen – Männer wählen oft „härtere Methoden“ als Frauen. Zum anderen, so Lochthowe, besäßen viele Bauern aufgrund der „Verbindung von Landwirtschaft und Jagd“ Waffen – das Gewehr ist dann nur einen Griff entfernt. Die Suizidorte scheinen hochsymbolisch, da sie ein letztes Mal auf die Identität als Bauer verweisen. Für den Tod durch Erhängen wird regelmäßig die eigene Scheune oder Maschinenhalle gewählt. Überraschend oft erschießen sich Landwirte auf dem Sitz ihres Traktors – ein Schlepper mit nur 200 PS kostet bereits um die 200000 Euro und stellt neben dem Nutzwert auch ein Statussymbol dar. Typischerweise gibt es weder eine Nachlassverfügung noch einen Abschiedsbrief. Sich zu öffnen fällt offenbar selbst in einer tödlichen Verzweiflung schwer.

Dabei ist eine solche Tragödie abwendbar, denn einen Ausweg gibt es immer. Vielfach lässt sich der Hof doch noch kostendeckend verkaufen und beruflich eine Alternative finden. Die langjährige Erfahrung von Beratungsstellen zeigt zudem: Wenn der Betroffene versucht, sich zu öffnen und zu reden, trifft er nur selten auf das befürchtete Unverständnis. Meist kennen die Angehörigen die Identitätskämpfe und fühlen sich ein, anstatt zu verurteilen. Bei solchen Familiengesprächen helfen Beraterinnen und Berater speziell für den ländlichen Raum – auch anonym.

Nähere Informationen zu diesem Thema, Telefonnummern, Internet- und Kontaktadressen für Deutschland unter landwirtschaftliche-familienberatung.de, für die Schweiz unter hofkonflikt.ch.

Brauchen Sie Hilfe?

Kreisen Ihre Gedanken um Suizid? Sprechen Sie mit jemandem darüber: Die Telefonseelsorge bietet eine anonyme Beratung, telefonisch, online oder persönlich. Sie erreichen sie unter den kostenlosen Telefonnummern 0800/1110111 und 0800/1110222 sowie online unter telefonseelsorge.de.

Literatur

Claire Bossard u.a.: Suicide among farmers in France: Occupational factors and recent trends. Journal of Agromedicine, 21/4, 2016. DOI: 10.1080/1059924X.2016.1211052

Fiona Judd u.a.: Understanding suicide in Australian farmers. Social Psychiatry and Psychiatric Epidemiology, 41, 2006. DOI: 10.1007/s00127-005-0007-1

Thomas Lochthowe: Suizide bei verschiedenen Berufsgruppen. Eine Übersicht. Südwestdeutscher Verlag für Hochschulschriften, Saarbrücken 2011

Aslög Malmberg u.a.: Suicide in farmers. The British Journal of Psychiatry, 175/2, 1999. DOI: 10.1192/bjp.175.2.103

Aslög Malmberg u.a.: A study of suicide in farmers in England and Wales. Journal of Psychosomatic Research 43/1, 1997, 107 bis 111. DOI: 10.1016/S0022-3999(97)00114-1

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 12/2020: So gelingt Entspannung