Als ich Frau D. kennenlernte, war sie noch in Elternzeit. Ihre Kinder hatten gerade begonnen, die Nacht durchzuschlafen, sie hingegen wurde immer schlafloser. Stundenlang grübelte sie über ihre Zukunft. Frau D. war unzufrieden mit sich, es fiel ihr allerdings schwer, Wünsche für ihr eigenes Leben zu formulieren. Das hatte sich in den letzten Monaten immer mehr geändert. Frau D. war große Schritte gegangen: Sie hatte beschlossen, mit kleinerer Stundenzahl an ihre Arbeitsstelle zurückzukehren und nebenbei Grundschullehramt zu studieren. Gespannt darauf, wie ihre erste Studienwoche war, öffne ich ihr die Tür.
„Es war ein Fehler“, platzt sie heraus, noch bevor sie auf dem Stuhl Platz genommen hat, „dieses Studium wird mein Ruin werden!“ Mit roten Flecken auf den Wangen berichtet sie von ihrer Erstsemesterwoche. Sie habe begeistert ihre Seminare gewählt, verstehe sich auch gut mit einer Kommilitonin, mit der sie nun morgens eine Fahrgemeinschaft bilde. Doch gleich die erste Vorlesung habe sie völlig aus der Bahn geworfen. Es sei um die Rolle von Lob in der Erziehung gegangen. „Ich lobe meine Kinder andauernd“, gesteht sie mit Tränen in den Augen, „dabei ist das gar nicht gut. Immer lobe ich das Ergebnis, nie frage ich danach, ob ihnen der Prozess des Malens Spaß gemacht hat.“ „Sie haben etwas Neues gelernt“, reformuliere ich vorsichtig. „Ja, und jetzt fühle ich mich schlecht! Ich studiere erst eine Woche! Stellen Sie sich erstmal vor, was ich in fünf Jahren über mich denke, wenn das Studium durch ist!“
Ich konnte gut nachfühlen, wie es Frau D. ging. Denn oft, wenn ich Dinge in meinen Seminaren lerne, denke ich an all die Patientinnen, denen es geholfen hätte, hätte ich schon früher davon gewusst – und ärgere mich.
„Ich habe Angst vor meinen blinden Flecken“, weint Frau D. „Das kann ich gut verstehen“, gebe ich zurück, „glauben Sie, dass es auch etwas Gutes daran geben könnte, dass Sie jetzt so viel Neues lernen?“. „Naja, dass ich die restliche Lebenszeit meinen Kindern eine bessere Mutter sein kann“, gibt sie mit gepresster Stimme zurück. „Wie fühlen Sie sich, während Sie das sagen?“, frage ich. „Noch schlechter“, räumt sie ein, „es macht mir Druck.“
Ich nicke. Fehler in der Erziehung, in Beziehungen, in der therapeutischen Arbeit lassen sich nur begrenzt verhindern. Den Anspruch dennoch an sich selbst zu stellen, führt zu einer endlosen Schleife an Kontrollversuchen und Erfahrungen des Scheiterns. Und für Frau D. scheint es nicht um den Fehler an sich zu gehen, sondern um den eigenen Wert als Mutter, vielleicht sogar als Mensch. „Könnte es vielleicht sein, dass es hier nicht nur um den richtigen Umgang mit ihren Kindern geht, sondern auch ihren Umgang mit sich selbst, wenn Sie mal einen Fehler machen?“, frage ich. Frau D. schweigt. Und schweigt.
Dann berichtet sie, dass ihre Angst vor Fehlern sie bereits ihr ganzes Leben begleite, sich aber stark gesteigert habe, seitdem ihre Kinder auf der Welt seien. Sie spüre, wie sehr sie ihre Kinder prägen könne und trage schwer an der Verantwortung. Daher befürchte sie, Schuld auf sich zu laden.
Ich biete Frau D. ein Gedankenspiel aus einem meiner Seminare an. Sie soll sich vorstellen, dass es fünf Jahre später ist und ihr Leben einen guten Verlauf genommen hat. Sie beschreibt mir mit einem kleinen Lächeln ihre beiden Kinder, die jetzt acht und zehn Jahre alt sind. Sie erzählt von den grauen Strähnen, die sich in ihr Haar geschlichen haben, von den Lach- und Sorgenfalten, die dazu gekommen sind. Ich bitte sie, ihrem vergangenen Ich, das jetzt bei mir sitzt, einen Rat zu geben. Sie sagt: „Ich sehe, dass du dein Bestes gibst.“ Ein schlichter Satz, der sie jedoch sehr zu berühren scheint.
Als wir das Gedankenspiel beenden, wirkt Frau D. etwas erleichtert. Ich frage sie, was sie daraus mitnehme. „Ich denke immer, dass mein zukünftiges Ich voller Scham und Wut auf mich zurückblicken wird. Ich habe Angst vor dieser Person. Ich versuche, keine Fehler zu machen, um mich selbst nicht zu enttäuschen. Aber jetzt habe ich gemerkt, dass ich viel enttäuschter wäre, wenn ich in fünf Jahren immer noch nicht gelernt hätte, nett zu mir zu sein und mir zu verzeihen.“
Jetzt bin auch ich berührt. Denn Frau D. hat in diesem Studium die Chance, zu wachsen. Nicht als Mutter ihrer Kinder. Sondern als Freundin ihrer selbst.


Transparenz-Hinweis: Es gibt keine Therapeutin ohne Patientinnen – deshalb erzählt diese Kolumne von Menschen in der Psychiatrie. Da der Schutz der Behandelten an oberster Stelle steht, werden die Fallbeispiele bezüglich ihrer soziodemographischen und biografischen Daten stark verändert und erscheinen mit zeitlichem Abstand. Die berichteten Begegnungen bleiben in ihrem emotionalen Kern erhalten.