Bisexualität – das letzte Tabu?

Kim Ritter erforscht die Herausforderungen und Konflikte, denen Bisexuelle im Ringen um Anerkennung ausgesetzt sind.

Die Geschichte von homo- und bisexuellen Menschen ist geprägt von Abwertung. Doch während schwul-lesbisches Leben immer mehr gesellschaftlich akzeptiert ist, wissen wir recht wenig über Bisexualität. Wie leben Menschen, die sich zu beiden Geschlechtern hingezogen fühlen, werden sie diskriminiert?

Im Zentrum der Studie Jenseits der Monosexualität steht die Frage, wie das Nebeneinander von homo- und heterosexuellen Neigungen gelebt und erlebt wird und welche Rolle Anerkennungskonflikte spielen. Die Soziologin Kim Ritter hat hierfür einen biografischen Zugang gewählt. Die Basis sind Befragungen von 15 Frauen und 14 Männern, alle vor 1980 geboren, zum größten Teil in Städten lebend, etwa die Hälfte hat eine akademische Ausbildung. Westdeutsche Lebensgeschichten dominieren.

Zwei anonymisierte Beispiele zeigen, wie unterschiedlich Lebensentwürfe bisexueller Menschen sein können: Birgit Müller hat mehrere Kinder, lebt mit ihrem Mann. Sie hat eine Beziehung zu einer Frau, die auch verheiratet ist und ebenfalls mit Partner und Kindern zusammenlebt. Der Ehemann toleriert die Beziehung zu einer Frau, stellt aber Bedingungen. Sie darf am Wochenende und in den Ferien keinen Kontakt zu ihrer Partnerin haben. Torsten Nowak dagegen lebt seit seiner Jugend Sexualität und Beziehungen geschlechter­übergreifend. Der Single wünscht sich zwar eine Partnerschaft, wenn möglich aber in einer größeren Gemeinschaft. Sex mit einem Mann erlebt er als etwas Spielerisches. Sein erstes Mal mit einer Frau dagegen wirkte auf ihn wie ein Initiationsritus, mit dem er in die Erwachsenenwelt aufgenommen wurde.

Immer noch ein Stigma

Noch immer sei Bisexualität mit einem Stigma behaftet, so die Soziologin. Sie zitiert eine europaweit durchgeführte Umfrage, wonach 47 Prozent der bisexuellen Frauen und 36 Prozent der Männer angaben, im Jahr vor der Erhebung diskriminiert worden zu sein.

Erst ab den 1970er Jahren begannen sich Menschen in Westeuropa und den USA, die mehr als ein Geschlecht begehren, als Bisexuelle zu bezeichnen. In Deutschland könne man eine politische Selbstorganisation erst seit den 1980er Jahren beobachten.

Das wichtigste Ergebnis der Studie ist, dass Bisexuelle „ein breites Spektrum von Beziehungen und Sexualität“ leben. Es sind dauerhafte Paarbeziehungen ebenso möglich wie dauerhafte Mehrfachbeziehungen. Das Buch zeigt: Bisexualität wird allmählich – neben der Hetero- und Homosexualität sowie lesbischem Leben – als eigenständige Lebensform wahrgenommen. Deutlich wird aber auch, dass es viel schwieriger ist, ein bisexuelles Leben zu leben als ein monosexuelles, denn es ist nicht selten der radikale Gegenbeweis der bürgerlichen Liebesvorstellung.

Das Buch ist eine Promotionsschrift, insofern für Laien nicht leicht konsumierbar. Es richtet sich eher an Soziologen und Sexualwissenschaftler, ist aber auch für Betroffene interessant.

Kim Ritter: Jenseits der Monosexualität. Selbstetikettierung und Anerkennungskonflikte bisexueller Menschen. Psychosozial, Gießen 2020, 442 S., € 49,90

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 1/2021: Sehnsucht nach Verbundenheit
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