Er hieß Boris, hatte lange Haare, breite Schultern, und wenn er mit federndem Schritt über den Schulhof ging, hüpfte mein Herz. Sein Anblick und noch mehr ein Lächeln von ihm versüßten mir den Schulalltag. Im Chemieunterricht malte ich mir aus, wie wir einander näherkommen würden, in Mathe küsste er mich, und in Erdkunde ging es meistens wieder von vorne los. Dabei habe ich nie auch nur einen einzigen Schritt unternommen, meine Tagträume Wirklichkeit werden zu lassen. Ich war nicht schüchtern. Ich habe für…
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werden zu lassen. Ich war nicht schüchtern. Ich habe für Boris geschwärmt.
Das, was ich hier beschreibe, ist kein exklusives Verhalten weiblicher Teenager, für das es oft gehalten wird. Ich schwärme heute noch, mit Ende 40, und ich bin keine Ausnahme. Es gibt nur eine Handvoll Studien zu dem Thema, aber diese lassen den Schluss zu, dass die meisten Menschen – jedenfalls in westlichen Kulturen – einen Schwarm haben. Unabhängig von Geschlecht, Alter, Beziehungsstatus oder sexueller Identität.
Schwärmen, das meint laut Kluges Etymologischem Wörterbuch der deutschen Sprache „‚sich auf wirklichkeitsferne Weise für etwas begeistern‘, im heutigen Sinn etwa seit dem 18. Jahrhundert“. Noch jünger sei die Übertragung dieses Zustands auf Personen („schwärmerisch verehren“). Um diese letzte Bedeutung wird es in diesem Artikel gehen, also nicht um die Vorliebe für einen bestimmten französischen Weichkäse oder ganz generell für Pferde, sondern darum, sich „fern der Wirklichkeit“ für einen Menschen zu begeistern.
Charlene Belu, eine Psychologiedoktorandin an der University of New Brunswick in Kanada, ist ihres Wissens nach die einzige Forschende, die derzeit schwärmende Erwachsene untersucht. In einem Fragebogen hat sie das Schwärmen – auf Englisch have a crush – wie folgt definiert:
„Sie fühlen sich zu jemandem hingezogen, mit dem Sie keine romantische oder sexuelle Beziehung haben. Diese Person mag davon wissen oder auch nicht. Vielleicht haben Sie mit dieser Person geflirtet, aber Sie haben noch nie versucht, eine romantische oder sexuelle Beziehung mit ihr einzugehen. Und werden das vielleicht auch nie tun.“ Es sei möglich, fügt sie an anderer Stelle in ihrem Text von 2019 hinzu, dass beide voneinander schwärmen.
Schwärmen wird oft mit Verliebtsein verwechselt. Kein Wunder, die Übergänge sind fließend: Aus einer Schwärmerei kann sich mehr entwickeln. Der Unterschied, so könnte man sagen, besteht darin, dass die Verliebte eigentlich nicht tatenlos schmachten möchte, ohne der oder dem Angebeteten näher zu kommen. Vielleicht kann sie es nicht, weil sie zu schüchtern, der Schwarm verheiratet ist oder unerreichbar weit weg. Dann wird sie ihre „wirklichkeitsferne Begeisterung“ kaum genießen können. Sie leidet, weil Fantasien ihr zu wenig sind.
Die Vorstellung genügt
Im Gegensatz dazu will der Schwärmende keinen Schritt weitergehen, bewusst oder unbewusst. Ihm reicht das Anhimmeln aus der Ferne. Die Vorteile liegen auf der Hand. Nur so können dauerhaft eigene Wünsche und Vorstellungen auf die andere Person und die imaginierte Beziehung projiziert werden; das Ideal wird nicht durch Konfrontation mit der Realität entzaubert. So sagten auch nur 17 Prozent der von Charlene Belu Befragten, sie würden ihre Beziehung für den Schwarm beenden. Ich schwärme zum Beispiel für Magne Furuholmen, den Keyboarder der norwegischen Band a-ha, und halte ihn, vor allem seitdem ich ihn Ende 2019 interviewt habe, für den tollsten Mann – ever. Gleichzeitig weiß ich, dass ich nicht mit jemandem zusammen sein könnte, der sein künstlerisches Schaffen über alles andere stellt und mehrere Monate im Jahr auf Tour, im Studio oder seinem Atelier verbringt.
Neben der quantitativen Arbeit von Charlene Belu gibt es drei weitere repräsentative Studien, die das Schwärmen untersuchen. Alle kommen aus den USA. Eine ist von 1934, die anderen beiden sind keine zehn Jahre alt. Aus allen vier Arbeiten geht hervor, dass das Schwärmen weit verbreitet ist. So hatte die Psychologieprofessorin Julie Bowker von der State University of New York 511 Heranwachsende im Durchschnittsalter von knapp 13 Jahren gefragt, ob sie aktuell für einen Mitschüler oder eine Mitschülerin schwärmten. 61 Prozent der Mädchen und 48 Prozent der Jungen bejahten dies. Der Unterschied, sagt Julie Bowker, könne mit dem Alter erklärt werden, da Jungen im Durchschnitt später in die Pubertät kommen als Mädchen. Ähnliche Ergebnisse hatte die Studie von 1934, für die ebenfalls Jugendliche befragt worden waren.
Für diese Vermutung spricht auch, dass es bei Erwachsenen offenbar keine Unterschiede zwischen den Geschlechtern gibt. 247 Männer und Frauen zwischen 25 und 45 Jahren in festen Beziehungen hatte die Kanadierin Belu befragt. Vier Fünftel definierten sich als heterosexuell. Genauso viele gaben an, während ihrer aktuellen Beziehung mindestens einen Schwarm gehabt zu haben. Von denen, die zum Zeitpunkt der Studie schwärmten, hatten die meisten nur einen, ein Viertel zwei gleichzeitig. Im Durchschnitt schwärmten die Männer und Frauen, die an der Studie teilgenommen haben, anderthalb Jahre für jemanden, die Spanne lag zwischen zweieinhalb Wochen und 15 Jahren.
Für fairly common, recht üblich hält Charlene Belu das Schwärmen. Ihre Einschätzung wird durch die Arbeit der New Yorker Gesundheitswissenschaftlerin Margo Mullinax gestützt, die für ihre qualitative Studie aus dem Jahr 2015 liierte Frauen zwischen 19 und 56 Jahren befragte. Fast 70 Prozent der 229 Teilnehmerinnen sagten, sie hätten während ihrer aktuellen Beziehung für mindestens eine Person geschwärmt.
In beiden Studien hatten die meisten Probandinnen ihren Schwarm auf der Arbeit kennengelernt. 61,5 Prozent der von Belu Befragten bezeichneten ihren Schwarm je hälftig als „Bekanntschaft“ oder „flüchtige Freundschaft“, 10 Prozent schwärmten für einen engen Freund oder eine enge Freundin, 7,4 Prozent für Fremde und 6,8 Prozent für Onlinefreunde oder -freundinnen.
Zu ganz ähnlichen Ergebnissen kam im August vergangenen Jahres das deutsche Onlinedating-Unternehmen Parship, das 1340 Mitglieder – die Hälfte davon Frauen – befragt hatte, für wen sie schon einmal geschwärmt haben. An erster Stelle stand dort der Kollege oder die Kollegin, an zweiter eine Person aus dem Freundeskreis.
Die Scham schwärmender Erwachsener
Für eine Berühmtheit hatte ein Fünftel geschwärmt. Diese Kategorie fehlt in den beiden Untersuchungen zu Erwachsenen aus den USA und Kanada. Dabei bieten sich Stars als Schwarmobjekte an. Denn das Schwärmen will gefüttert werden. Mit Bildern, Worten, Musik, Filmen, Einträgen in sozialen Medien. Es ist schwer, für jemand zu schwärmen, den oder die ich selten sehe. Vielleicht stehen deshalb Kollegen ganz oben auf der Liste.
Obwohl schwärmende Erwachsene also etwas sehr Gewöhnliches sind, schämen sich viele dafür. Vielleicht weil sie denken, Schwärmen sei unreif. Oder weil Fantasien seit der Aufklärung in unserer Kultur als problematisch gelten. Auch Freud warnte in einem Aufsatz aus dem Jahr 1908 vor dem „Überwuchern und Übermächtigwerden der Phantasien“ und behauptete, nur „der Unbefriedigte“ fantasiere.
Als meine beste Freundin von ihrem aktuellen Schwarm erzählte, sagte sie, wie peinlich ihr das sei. Zudem spielte sie es herunter, so wie viele der Frauen, die die Gesundheitswissenschaftlerin Margo Mullinax befragt hat. Eine sagte ihr: „Es ist nichts Ernstes, nur dumme Schwärmerei.“ Mullinax vermutet, dass Frauen sich schwer eingestehen können, dass sie an jemand anderes denken als ihren Partner, weil sie verinnerlicht haben, dass Frauen treu zu sein haben.
Weder sie noch Belu haben nach Scham gefragt. Dass diese eine Rolle spielt, zeigt die Fanforschung, ein relativ junger, interdisziplinär arbeitender Wissenschaftszweig, der sich mit diversen Praktiken und Facetten des Fanseins beschäftigt. Nur wenige Untersuchungen gibt es dazu, was Menschen zum Fan werden lässt, welche psychologische Funktion das haben könnte. Eine Ausnahme ist die US-amerikanische Medienwissenschaftlerin Tonya Anderson, die 2012 für ihre Promotion erwachsene weibliche Fans der britischen 80er-Jahre-Band Duran Duran befragt hat. Fast alle schämten sich. Entweder weil sie – nach ihrer Aussage vor allem von Männern – genug dumme Sprüche gehört oder selbst realisiert hatten, dass „ihr liebster Zeitvertreib für unreif und unangemessen gehalten wird“.
Auch scheint Schwärmen nicht mit Vorstellungen von Männlichkeit vereinbar zu sein. Manche Männer sagten auf meine Frage, ob sie für jemand schwärmten: „Na klar!“ Aber die meisten reagierten so wie G., ein paar Jahre älter als ich: „Ich? Schwärmen? Nee.“ Auf Nachfrage stellte sich heraus, dass er die Sängerin von Sonic Youth ziemlich toll findet und sich Fotos von ihr im Netz ansieht. Aber „schwärmen“ hatte er das nie genannt.
Nicht zufällig verzeichnet das Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache seit Mitte der 90er Jahre eine steile Karriere der Begriffe „Frauen-“ und „Mädchenschwarm“ in Zeitungsartikeln. Für Schwarmobjekte von Männern und Jungen gibt es hingegen kein Wort. Es ist möglich, dass Schwärmen nicht zu den Rollenbildern „aktiver Mann – passive Frau“ passt. So schreibt ein Journalist auf jetzt.de, dem Onlinejugendmagazin der Süddeutschen Zeitung, Schwärmen sei nichts für Jungs, weil es sich zu „schwach und hilflos“ anfühle. „Wenn wir von einem Mädchen schwärmen, dann wollen wir zumindest versuchen, dem Schwärmen bald etwas Handfestes folgen zu lassen.“
Vor allem das Schwärmen für Popstars wird meistens für etwas gehalten, das junge Mädchen machen, um sich auf Beziehungen vorzubereiten. Besonders oft wird dazu Martin Huppert interviewt, ein Klinikmanager aus Saarbrücken, der 2005 seine Doktorarbeit über die „Fan-Star-Beziehung“ veröffentlicht hat. Zuletzt sagte er vor zwei Jahren dem Onlinemagazin Das Milieu: „Aus dieser geschützten Distanz können die meist weiblichen Jugendlichen ihre ersten Gefühle für das andere Geschlecht ausleben/ausprobieren – sozusagen ohne größeres Risiko.“
Belege für diese Behauptung hat Huppert nicht. Zudem stützt er seine These auf ein erstmals 1922 veröffentlichtes Buch: Das Seelenleben des Jugendlichen der deutschen Psychologin Charlotte Bühler. Sie hatte Tagebücher von Jugendlichen analysiert und stellt auf wenigen Seiten vage Mutmaßungen über das Schwärmen an. Sie hält es für einen wichtigen Entwicklungsschritt in der Pubertät. Die Empirie spreche gegen dieses „historisch gewachsene Verständnis“, schreibt dazu Julie Bowker, die Jugendliche befragt hat.
Gefahren der Träumerei
Eine solche Sichtweise, wie sie Huppert und andere vertreten, würde bedeuten, dass Erwachsene, wenn sie schwärmen, regredieren – sich also auf das Entwicklungsniveau Adoleszenter zurückbegeben. Auf Nachfrage dazu meint Charlene Belu, das glaube sie nicht: „Dass wir uns von jemandem angezogen fühlen, scheint ein lebenslanges Phänomen zu sein“, schreibt sie in einer Mail. „Aber wir können nicht mit allen, zu denen wir uns hingezogen fühlen, eine Beziehung führen.“
Aber welche Funktion hat das Schwärmen dann? Man weiß es nicht, auch weil das noch nicht systematisch untersucht wurde. Klar scheint nur, welche es nicht hat. So fand Bowker entgegen ihrer Hypothese keinen Zusammenhang zwischen Einsamkeit und Schwärmen. Wohl aber war das Schwärmen mit depressiven Symptomen assoziiert. Über die Gründe kann sie nur spekulieren. Es sei möglich, dass „die starken, aber unerwiderten und einseitigen Gefühle in negative Gedankenspiralen münden: Weiß mein Schwarm, dass es mich gibt?” Damit könnten besonders junge Heranwachsende nicht umgehen, glaubt sie. Auch Erwachsene können leiden. Nach meiner Beobachtung immer dann, wenn das Schwärmen eine Lücke in ihrem Leben füllt – und nicht nur ein Sahnehäubchen obendrauf ist.
Charlene Belu konnte anders als erwartet keinen signifikanten Unterschied zwischen glücklich und unglücklich Liierten, Bindungswilligen und eher -unwilligen feststellen. Ihr Fazit ist, dass Schwärmereien „eine Form harmloser und unterhaltsamer Fantasien sind, die meistens einfach ein bisschen Glanz in den Alltag bringen und uns daran erinnern, dass es Alternativen zu unserer aktuellen Beziehung oder Lebenssituation gibt“.
Aber vielleicht unterschätzt das die Funktion des Schwärmens. Das zeigt der Blick auf die Bedeutung der Fantasien. Die gehören zum Schwärmen dazu, das legt schon die Geschichte des Begriffs nahe. Charlene Belu fand heraus, dass nur 2,8 Prozent der Befragten sagten, sie hätten nie sexuelle Fantasien über ihren Schwarm. Nach nichtsexuellen Fantasien hatte das Forschungsteam nicht gefragt.
Beispiele dafür, dass diese mindestens genauso wichtig sind, liefert das Buch Starlust von Fred Vermorel über „die geheimen Fantasien von Fans“ aus dem Jahr 1985. Darin finden sich detaillierte Beschreibungen von komplett imaginierten Wohnungen. In diesen findet ziemlich viel Sex statt – aber nicht ausschließlich. Oft stellen sich die Fans vor, wie der Schwarm ihnen Komplimente für ihre Schönheit, Kreativität und Intelligenz macht. Ich kenne das. Wenn ich in Gedanken mit meinem Schwarm rede oder ihn von mir erzählen lasse, erfahre ich, wie wunderbar und besonders ich bin.
Es gibt viele Anzeichen dafür, dass das Schwärmen als Ressource genutzt werden kann. Tonya Anderson, selbst Duran-Duran-Fan, stellt in ihrer Promotion die These auf, dass die beschwärmten Stars Übergangsobjekte sind (siehe Definition links) , die in Zeiten der Verunsicherung eine „Quelle emotionaler Wärme“ darstellen. Der britische Medienwissenschaftler Cornel Sandvoss schreibt über eine Frau, die in Gedanken mit Elvis spricht. So habe sie es geschafft, in einer Krise „mental stabil“ zu bleiben, meint er. Und in Starlust bezeichnet eine Frau ihre Fantasien über ihre Lieblingsband als Meditation.
Vielleicht lassen sich Schwärmereien am besten verstehen, wenn man sie als Tagträume betrachtet. Die wiederum werden als eine bewusst oder unbewusst herbeigeführte Form der Trance beschrieben, als ein veränderter Bewusstseinszustand, in dem man gleichzeitig sehr konzentriert und entspannt ist. Ähnlich funktionieren Visualisierungstechniken, mit denen sich Menschen als Gegengewicht zu traumatischen Erinnerungen fantasierte Zufluchtsorte schaffen.
Wenn ich zurückdenke an Boris, dann weiß ich, dass ich damals im Unterricht mit den Gedanken wirklich oft ganz woanders war. Und dort ging es mir echt gut.
Begriffsgeschichte des Schwärmens
Warum wird das Schwärmen manchmal so abgewertet? Über den Ursprung des Wortes und seinen Gebrauch in unterschiedlichen Zeiten
Die Bedeutung des Begriffs „schwärmen“ hat religiöse Wurzeln. Martin Luther nannte seine innerreformatorischen Gegenspieler „Schwarmgeyster“ oder „Schwärmer“, erstmals im Jahr 1522.
Laut Martin Treu, Geschäftsführer der Luther-Gesellschaft, hat Luther so diejenigen diskreditiert, die es nach seiner Auffassung zu toll trieben mit der Loslösung von kirchlicher Ordnung. Sie setzten sich, so sagt es Treu, „über das geschriebene Wort der Bibel hinweg und behaupteten direkte Offenbarungen von Gott“. Um Verfolgung durch die Obrigkeit zu entgehen, seien diese Prediger ohne festen Wohnsitz wie Bienen durch die Lande geschwärmt, oft mit Gefolge.
„Aus diesem Zusammenhang“, so steht es in Kluges Etymologischem Wörterbuch der deutschen Sprache, „bekommt das Verb die Bedeutung ‚sich auf wirklichkeitsferne Weise für etwas begeistern‘, im heutigen Sinn etwa seit dem 18. Jahrhundert“. Dabei blieb die negative Konnotation aus Luthers Zeiten erhalten. In der deutschen Aufklärung diente der Schwärmerbegriff der Abgrenzung von allen, denen die Fantasie mit ihnen „fortläuft“, wie es der Philosoph Immanuel Kant formulierte.
In literarischen Kreisen erlebte das Schwärmerische – eher als Zustand, nicht unbedingt objektbezogen – zur selben Zeit eine Aufwertung, parallel zu Fantasie und Einbildungskraft, und so entbrannte am Ende des 18. Jahrhunderts eine „Schwärmerdebatte“ darum, wer recht hatte. Den Romantikern und Romantikerinnen um die Jahrhundertwende jedenfalls galt Schwärmen als erstrebenswert. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts spielte der Begriff in philosophischen und literarischen Diskursen keine Rolle mehr – auch nicht in der Psychologie, die sich als wissenschaftliche Disziplin in dieser Zeit entwickelte.
Nicht in allen europäischen Ländern, in denen sich die Reformation durchsetzte, gibt es ein Pendant zum deutschen „Schwärmen“. So kennt das Norwegische sverme in derselben Verwendung, aber das Niederländische zwermen bezieht sich auf Bienen und Vögel. Jedoch findet sich in den vom Katholizismus geprägten romanischen Sprachen etwas Verwandtes. Im Französischen heißt es s’enthousiasmer pour, im Italienischen essere entusiasta di.
Auch hier gibt es einen religiösen Bezug: Das griechische enthousiasmós meint „Gottesbegeisterung“, wörtlich „in Gott sein“. Der enthusiasm ist die britische Variante der deutschen „Schwärmerey“.
Hier schließt sich ein weiterer Kreis. Denn als „enthusiastisch“ bezeichneten Zeitungskommentatorinnen seit Mitte des 19. Jahrhunderts das begeisterte Publikum von Musikkonzerten – bevor sich ein paar Jahrzehnte später der Begriff „Fan“ etablierte, zunächst im Sport. „Fan“ wiederum ist abgeleitet von fanaticus, dem lateinischen Wort für „Schwärmer“. Wissenschaftler wie der historisch arbeitende US-amerikanische Fanforscher Daniel Cavicchi vermuten, dass fan darüber hinaus auf fancy zurückgeht – britisches Englisch für „schwärmen“ und eine Ableitung von fantasy.
Quellen:
Tonya Anderson: Still kissing their posters goodnight: female fandom and the politics of popular music. Participations, 9:2, 2012, 239-264.
Charlene Belu, Lucia O’Sullivan: Roving Eyes: Predictors of crushes in ongoing romantic relationships and implications for relationship quality. Journal of Relationships Research, 10, 2019, 1-12, DOI: 10.1017/jrr.2018.21
Julie Bowker, Rebecca Etkin: Evaluating the psychological concomitants of other-sex crush experiences during early adolescence. Journal of Youth and Adolescence, 45, 2016, 846–857. DOI: 10.1007/s10964-016-0470-x
Charlotte Bühler: Das Seelenleben des Jugendlichen. Versuch einer Analyse und Theorie der psychischen Pubertät (7. Auflage). UTB, Stuttgart 1991
Daniel Cavicchi: Fandom before “fan”: Shaping the history of enthusiastic audiences. Reception: Texts, Readers, Audiences, History, 6, 2014, 52-72, DOI: 10.1353/rtr.2014.0003
Manfred Engel: Die Rehabilitation des Schwärmers. Theorie und Darstellung des Schwärmens in Spätaufklärung und früher Goethezeit. In: Hans-Jürgen Schings (Hrsg.): Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert. Metzler, Stuttgart 1994, 469–498.
Sigmund Freud: Der Dichter und das Phantasieren. Schriften zur Kunst und Kultur. Reclam, Ditzingen 2010
Martin Huppert: Die Star-Fan-Beziehung in der Popmusik: Forever Young? Perspektiven eines psychologischen Modells. Verlag Dr. Kova, Hamburg 2005
Margo Mullinax u.a.: Women's experiences with feelings and attractions for someone outside their primary relationship, Journal of Sex & Marital Therapy, 0, 2015, 1-17 DOI: 10.1080/0092623X.2015.1061076
Cornel Sandvoss: Fans. The Mirror of Consumption. Polity, Cambridge 2005
Fred Vermorel: Starlust. The Secret Fantasies of Fans. Faber and Faber, London 2011
www.dasmili.eu/art/warum-sind-teenies-verrueckt-nach-pop-stars/
www.jetzt.de/maedchenfrage/jungs-wie-schwaermt-ihr-wenn-ihr-schwaermt-488829